Lehrgedicht
Zwischen Ennius und Vergil verstummte das narrative Heldenepos in Rom. Überhaupt brach mit dem Tod des Ennius (169 v. Chr.) eine weitgehend literaturlose Zeit an. Historisch fiel in diese Epoche die Eroberung Griechenlands mit den beiden Brennpunkten der Schlacht von Pydna (168 v. Chr.) und der Zerstörung Korinths (146 v. Chr.). In ihrer Folge kam es zu einer bewußteren Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur. Während die ersten Dichter noch geprägt waren vom literarischen Einfluß der griechischen Gattungen und deren Schöpfungen gleichsam als gegeben hinnahmen und nachahmten, begann nun eine neue Phase, in der man in einen geistigen Austausch mit der hellenistischen Geisteswelt trat und sich zunehmend als ebenbürtigen Partner verstand. In diesem Umfeld ist die Geburt der Prosaliteratur in lateinischer Sprache zu sehen. Auf dem Gebiet der Dichtung differenzieren sich die Gattungen aus. Die hexametrische Form öffnet sich für die Lehrdichtung. Es handelt sich dabei um eine hybride Gattung, die fachliche Unterweisung mit kunstvoller Gestaltung verbindet.
In Griechenland hatte sie ihren Anfang mit Hesiods Theogonie genommen, einer mythischen Weltentstehungsgeschichte, und mit dessen Werken und Tagen, einer Art Bauernkalender. In diesen Epen ging es, dem Schöpfungsbericht der Genesis vergleichbar, um die sittlichen Grundlagen des Zusammenlebens; sie verfolgten also einen didaktischen Anspruch. Die vorsokratischen Philosophen Parmenides und Empedokles vermittelten in ihrer Dichtung naturwissenschaftliche Hypothesen und Erkenntnisse. Was aus heutiger Sicht eine Domäne des Fachbuchs in Prosa ist, wurde in besonders kunstvolle Verse gegossen. In hellenistischer Zeit gewann die Form das Übergewicht über den Inhalt. Nicht mehr die Wissensvermittlung stand im Vordergrund, sondern die Leistung des Künstlers, einen unpoetischen Gegenstand dem Versmaß gefügig zu machen.
Das erste und zugleich herausragende Beispiel des Lehrepos in Rom sind die sechs Bücher De rerum natura («Von der Natur») des Lukrez. T. LUCRETIUS CARUS ist nach der Chronik des Hieronymus zwischen 97 und 95 v. Chr. geboren und soll, noch nicht 44 Jahre alt, durch einen Liebestrank in Wahnsinn gefallen sein und Hand an sich gelegt haben. Letzteres mag die christliche Tradition dem epikureischen Gottesleugner angehängt haben. Vertraut man den bloßen Daten, so ist Lukrez in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre gestorben. Cicero gab, so berichtet dieselbe Quelle, das Werk aus dem Nachlaß überarbeitet heraus (emendavit). Wie sehr er es schätzte, belegt ein Zitat aus einem Brief an den Bruder Quintus (2,10[9],3) des Jahres 54, das vielleicht, aber nicht notwendigerweise in Zusammenhang mit der Arbeit am Nachlaß zu sehen ist: Lucreti poemata […] ita sunt: multis luminibus ingenii, multae tamen artis («Folgendes zeichnet die Dichtung des Lukrez aus: Sie ist voll von Geistesblitzen und doch von großer Kunstfertigkeit.»).
Lukrez versteht sich als erster Vermittler der epikureischen Philosophie in Rom und als Künder eines von der Götterfurcht befreiten und daher glücklichen Lebens. Zugleich erhebt er den Anspruch, etwas Unerhörtes zu schaffen, indem er gerade die Lehre der dichtungskritischen epikureischen Schule zum Gegenstand eines carmen macht. Das künstlerische Selbstbewußtsein, das aus der Wahl des sperrigen Stoffs spricht, kann kaum überschätzt werden. Davon zeugt die Selbstaussage des Dichters: avia Pieridum peragro loca nullius ante/trita solo («unwegsames Gelände der Musenkunst durchschreite ich, welches noch von keinem zuvor betreten wurde», 1,926f. = 4,1f.). Die Metapher vom unbeschrittenen Pfad geht auf Kallimachos zurück und war u.a. das Signet der sog. Neoteriker (‹Neuerer in der Dichtung›), deren Zeitgenosse Lukrez war. Entlegene Stoffe reizten diese Dichter. Insofern ist der Lehrdichter nicht der alleinstehende Monolith, als der er von der Forschung bisweilen gesehen wird.
Die künstlerische Herausforderung hat Lukrez in seinem physikalischen Lehrgedicht wie folgt beschrieben (1,136–139): Nec me animi fallit Graiorum obscura reperta/difficile inlustrare Latinis versibus esse,/multa novis verbis praesertim cum sit agendum/propter egestatem linguae et rerum novitatem («Es ist mir wohl bewußt, daß es schwierig ist, die dunklen Erkenntnisse der Griechen mit lateinischen Versen zu erhellen, besonders, weil vieles mit neuen Worten darzulegen ist aufgrund der Armut der Sprache und der Neuheit der Sache»). Aufgrund des sprachschöpferischen Anspruchs dürfte Cicero, der den Epikureern sonst eher fernstand, so großes Interesse an dem nachgelassenen Werk gehabt haben. Die Bewunderung für die stilistische Kraft ging indes mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Inhalt einher. Ungefähr in die gleiche Zeit wie seine Beschäftigung mit Lukrez fällt auch Ciceros Schrift De re publica. In ihr kann man vielleicht im weitesten Sinne eine Antwort auf Lukrezens Weltbild sehen. Lukrez hatte sein sechs Bücher umfassendes Werk in drei Zweiergruppen eingeteilt, welche die Atomlehre in Buch 1 und 2, die Lehre von der Seele, unterschieden in lebensspendendes Prinzip (anima) und Geist (animus) in Buch 3 und 4, sowie in den letzten beiden Büchern die irdischen und himmlischen Phänomene und die Entstehung der menschlichen Kultur thematisierten. Eine Gliederung in dreimal zwei Bücher ist auch in De re publica zu erkennen – vielleicht wollte Cicero der Naturlehre eine Staatslehre an die Seite stellen, auf das atomistische Weltverständnis mit einer Soziologie menschlichen Zusammenlebens antworten.
Die auf Demokrit (ca. 460–370 v. Chr.) zurückgehende Atomtheorie führt Lukrez um der Ethik willen ein. Ihre materialistische Welterklärung, die ohne die Vorstellung einer höheren Weltordnung auskommt, ist die Grundlage für die Befreiung der Menschen von der Götterfurcht. Lukrez leitet seine Leser zum Studium des Wesens der Dinge an, welches irrationale Furcht beseitige; er ermuntert im Sinne Epikurs zu maßvollem Sinnengenuß und Freude an der Natur. Religion setzt er einerseits mit superstitio, Aberglauben, gleich und münzt den römischen Begriff der pietas (s.S. 20) in eine philosophisch geläuterte Frömmigkeit um (5,1198). Andererseits kann er sich dem Bann des Religiösen nicht vollständig entziehen. Das Epos beginnt mit einem Hymnus an Venus in traditioneller Form. Sie wird weniger als Gottheit denn vielmehr als Prinzip der Zeugungs- und Lebenskraft verstanden. Außerdem ist sie als «Ahnherrin der Römer» (Aeneadum genetrix) dem Leser eine altbekannte Führerin. Lukrez hat also nicht nur, wie er selbst einräumt (1,936–942), nach Art eines Arztes, der die bittere Medizin mit Honig versüßt, seinen herben Lehrstoff in schmeichelnde Worte gekleidet, sondern er hat die Römer auf vertrauten Wegen zu Epikur geführt. Die Schilderung religiöser Riten schließlich ist von hoher suggestiver Kraft und läßt Zauber und Schauder des Irrationalen spüren. Die Opferung der Iphigenie dient dem Dichter als Beleg für die Untauglichkeit der Religion als Ratgeberin, der Magna-Mater-Kult als Exempel für deren Vernunftwidrigkeit. Die erste Nachwirkung des lukrezischen Epos zeigt sich in den Vergilischen Georgica.
VERGILs Georgica (gr. ges érgon, «Landarbeit») sind formal ein Lehrgedicht in Hexametern über den Landbau in der Nachfolge von Hesiods Érga kai hemérai («Werke und Tage») und, was die Himmelskunde betrifft, von Arats Phainómena («Himmelserscheinungen»). Den vier Hauptthemen, Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung, ist jeweils ein Buch gewidmet. Die zweite Werkhälfte ist durch ein neues Proöm abgesetzt. Exkurse greifen über den Gegenstand hinaus. Berühmt sind der Preis Italiens und das Lob des Landlebens (2. Buch). Die Arbeit des Bauern, der labor improbus («freventliche Arbeit»), d.h. die niemals endende, in ihrem Erfolg stets bedrohte, aber trotzdem immer wieder in Angriff genommene Arbeit ist Sinnbild des Menschenlebens überhaupt. Die Schwere der Arbeit ist von Juppiter gewollt, um die Menschen zur Bewährung herauszufordern. «Frevelhaft» (improbus) ist die gottbefohlene Arbeit aber dennoch, weil sie in die natürliche Ordnung eingreift. Frönt der Mensch epikureischem Nichtstun, geht er in Verwilderung zugrunde; schwingt er sich zur Kultur auf, frevelt er gegen die Natur und hebt den von Juppiter geschaffenen Zustand auf. Der Frevel ist nach Vergil Teil der condicio humana, unterscheidet den Menschen vom Tier. Dieser pessimistische Einschlag dürfte ein Erbe der Bürgerkriegserfahrung sein. Allerdings kann der Mensch durch seiner Hände Arbeit die Schwere des Daseins immerhin erträglich gestalten. Darin liegt die optimistische Antwort auf Lukrez, mit dem Vergil durch häufige Zitate und Anspielungen beständig Zwiesprache hält. Das Werk endet mit dem sog. Aristaeus-Finale, einem kunstvollen Epyllion, das von der Urzeugung der Bienen aus dem Blut geschlachteter Rinder erzählt. Passend zum Gesamtwerk kristallisiert sich in dem Schlußmythos, der mit deut lichen...