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Geschichte eines Deutschen

Die Erinnerungen 1914-1933

AutorSebastian Haffner
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641155537
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Einer der aufschlussreichsten Texte über Deutschland in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Errichtung des NS-Diktatur - ein einzigartiges Zeitzeugnis und hellsichtiger Blick auf die sich anbahnende Katastrophe des Nationalsozialismus
Als Kind und junger Mann erlebte Sebastian Haffner den Ersten Weltkrieg, die galoppierende Inflation 1923, die Radikalisierung der politischen Parteien in der Weimarer Republik, den unaufhaltsamen Aufstieg der Nationalsozialisten. Ohne politisch oder rassisch verfolgt zu sein, emigrierte er 1938 nach England. Aus seinem Nachlass stammen diese Erinnerungen an seine ersten drei Lebensjahrzehnte, die Haffner 1939 in England zu Papier gebracht hatte. Aus der Distanz des Exils und zugleich unter dem Eindruck des unmittelbar Erlebten blickt der angehende Journalist und Publizist auf die sich anbahnende Katastrophe. Um zwei neu aufgefundene Manuskriptteile erweiterte Ausgabe.

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England, wo er als Journalist für den »Observer« arbeitete. Seine »Geschichte eines Deutschen« verfasste er 1939 im Londoner Exil. 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die »Welt«, später für den »Stern«. Haffner ist Autor einer Reihe historischer Bestseller, u. a. »Anmerkungen zu Hitler«. Er starb 1999.

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Leseprobe

3


Der Ausbruch des vorigen Weltkrieges, mit dem mein bewußtes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, traf mich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommerferien. Um es gleich zu sagen: Die Zerstörung dieser Ferien war das Ärgste, was mir der ganze Krieg persönlich antat.

Mit welcher gnädigen Plötzlichkeit der vorige Krieg ausbrach, wenn man es mit dem marternd langsamen Näherrücken des jetzt kommenden vergleicht! Am 1. August 1914 hatten wir noch gerade beschlossen, das Ganze nicht ernstzunehmen und in unserer Sommerfrische zu bleiben. Wir saßen auf einem Gut in Hinterpommern, sehr weltverloren, zwischen Wäldern, die ich, ein kleiner Schuljunge, kannte und liebte wie nichts anderes auf der Welt. Die Rückkehr aus diesen Wäldern in die Stadt, alljährlich Mitte August, war das traurigste, unerträglichste Ereignis des Jahres für mich, vergleichbar nur noch etwa dem Plündern und Verbrennen des Weihnachtsbaums nach dem Neujahrsfest. Am 1. August lag es noch um zwei Wochen fern – eine Unendlichkeit.

In den Tagen zuvor freilich war einiges Beunruhigendes geschehen. Die Zeitung hatte etwas, was sie nie gehabt hatte: Überschriften. Mein Vater las sie länger als sonst, hatte ein besorgtes Gesicht dabei und schalt auf die Österreicher, wenn er sie ausgelesen hatte. Einmal hieß die Überschrift: »Krieg!« Ich hörte ständig neue Worte, deren Bedeutung ich nicht kannte und mir umständlich erklären lassen mußte: »Ultimatum«; »Mobilmachung«; »Allianz«; »die Entente«. Ein Major, der auf demselben Gut wohnte und mit dessen beiden Töchtern ich auf Neck- und Kriegsfuß stand, bekam plötzlich eine »Order«, auch so ein neues Wort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhne unseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hinterher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen »Sei tapfer!«, »Bleib heil und gesund!«, »Komm bald wieder!« Einer rief: »Hau die Serben!«, worauf ich, eingedenk dessen, was mein Vater nach der Zeitungslektüre zu äußern pflegte, rief: »Und die Österreicher!« Ich war sehr erstaunt, daß alle plötzlich lachten.

Stärker als alles dies traf es mich, als ich hörte, daß auch die schönsten Pferde auf dem Gut, »Hanns« und »Wachtel«, wegkommen sollten, und zwar weil sie, welche Menge von erklärungsbedürftigen Erklärungen!, zur »Kavalleriereserve« gehörten. Die Pferde liebte ich jedes einzeln, und daß die zwei schönsten plötzlich weg sollten, gab mir einen Stich ins Herz.

Aber das Ärgste von allem war, daß zwischendrein auch immer wieder das Wort »Abreise« fiel. »Vielleicht müssen wir morgen schon abreisen.« Das klang für mich genau so, als ob man gesagt hätte: »Vielleicht müssen wir morgen schon sterben.« Morgen – anstatt nach einer Unendlichkeit von zwei Wochen!

Damals gab es bekanntlich noch kein Radio, und die Zeitung kam mit 24 Stunden Verspätung in unsere Wälder. Es stand übrigens auch weit weniger darin, als heute in den Zeitungen zu stehen pflegt. Die Diplomaten waren damals noch viel diskreter als heute ... Und so konnte es geschehen, daß wir gerade am 1. August 1914 beschlossen, daß der Krieg gar nicht stattfinden würde und daß wir bleiben würden, wo wir waren.

Nie werde ich diesen 1. August 1914 vergessen, und immer wird die Erinnerung an diesen Tag ein tiefes Gefühl von Beruhigung, von gelöster Spannung, von »Alles wieder gut« mit heraufbringen. So seltsam kann das »Geschichte-Miterleben« vor sich gehen.

Es war ein Sonnabend, mit all der wundervollen Friedlichkeit, die ein Sonnabend auf dem Lande haben kann. Die Arbeit war vorbei, Geläute heimkehrender Herden in der Luft, Ordnung und Stille über dem ganzen Gutshof, die Knechte und Mägde putzten sich in ihren Kammern für irgendein abendliches Tanzvergnügen. Unten aber in der Halle mit den Hirschgeweihen an den Wänden und den Zinngeräten und blanken Steinguttellern auf den Borden fand ich, in tiefen Lehnstühlen sitzend, meinen Vater und den Gutsherrn, unsern Wirt, vor, wie sie in besonnenem Gespräch alles bedächtig erwogen. Selbstverständlich verstand ich nicht viel von dem, was sie redeten, und ich habe es auch völlig vergessen. Nicht vergessen habe ich, wie ruhig und tröstlich ihre Stimmen klangen, die hellere meines Vaters und der tiefe Baß des Gutsherrn, wie vertrauenseinflößend der wohlriechende Rauch ihrer langsam gerauchten Zigarren in kleinen Säulen vor ihnen in die Luft stieg, und wie, je länger sie redeten, alles immer klarer, immer besser und immer tröstlicher wurde. Ja, es wurde schließlich geradezu unwiderleglich klar, daß es Krieg gar nicht geben konnte, und infolgedessen würden wir uns natürlich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern bis zum Ende der Ferien hierbleiben, wie immer.

Als ich so weit zugehört hatte, ging ich hinaus, das Herz ganz geschwellt von Erlöstheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit, und sah mit geradezu frommen Gefühlen über den Wäldern, die nun wieder mein Besitz waren, die Sonne untergehen. Der Tag war bedeckt gewesen, aber gegen Abend hatte er sich immer mehr aufgeklärt, und jetzt schwamm die Sonne, golden und rötlich, im reinsten Blau, einen wolkenlosen neuen Tag verheißend. So wolkenlos, ich war gewiß, würde die ganze Unendlichkeit von 14 Ferientagen sein, die jetzt wieder vor mir lag! –

Als ich am nächsten Tag geweckt wurde, war das Packen schon in vollem Gang. Erst verstand ich überhaupt gar nicht, was geschehen war; das Wort »Mobilmachung«, obwohl man es mir ein paar Tage vorher zu erklären versucht hatte, sagte mir gar nichts. Es war aber wenig Zeit, mir überhaupt irgend etwas zu erklären. Denn mittags mußten wir bereits mit Sack und Pack fahren – es war zweifelhaft, ob später noch irgendein Zug für uns dasein würde. »Heute gehts Null komma fünf«, sagte unser tüchtiges Dienstmädchen; eine Redensart, deren eigentlicher Sinn mir heutigentags noch dunkel ist, die aber jedenfalls besagte, daß es drüber und drunter ging und daß jeder sehen mußte, wo er bliebe. So konnte es auch geschehen, daß ich mich unbemerkt noch einmal davonmachen und in die Wälder laufen konnte – wo man mich gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baumstumpf sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulend und ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, daß nun Krieg sei und daß jeder Opfer bringen müsse. Irgendwie wurde ich in den Wagen verstaut und fort gings hinter zwei trabenden braunen Pferden – nicht mehr Hanns und Wachtel, die waren schon fort –, mit Staubwolken hinter uns, die alles verhüllten. Nie habe ich die Wälder meiner Kindheit wiedergesehen.

Es war das erste und letzte Mal, daß ich ein Stück vom Kriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichen Schmerz des Menschen, dem etwas genommen und zerstört wird. Schon unterwegs wurde alles anders, aufregender, abenteuerlicher – festlicher. Die Eisenbahnfahrt dauerte nicht sieben Stunden wie sonst, sondern zwölf. Ständig gab es Aufenthalte, Züge voller Soldaten kamen an uns vorüber, und jedesmal stürzte alles zu den Fenstern, mit Winken und brausendem Rufen. Wir hatten kein Abteil für uns wie sonst, wenn wir reisten, sondern standen in Gängen oder saßen auf unseren Koffern, eingequetscht zwischen vielen Menschen, die alle unaufhörlich schnatterten und redeten, als wären es keine Fremden, sondern alte Bekannte. Am meisten sprachen sie über Spione. Ich lernte auf dieser Fahrt alles über das abenteuerliche Gewerbe der Spione, von dem ich noch nie gehört hatte. Über alle Brücken fuhren wir ganz langsam, und ich empfand jedesmal ein angenehmes Gruseln dabei; konnte doch ein Spion Bomben unter die Brücke gelegt haben! Als wir in Berlin ankamen, war es Mitternacht. Nie in meinem Leben war ich so lange aufgeblieben! Und unsere Wohnung war keineswegs auf uns vorbereitet, Bezüge über den Möbeln, die Betten nicht instand. Man machte mir ein Lager auf einem Sofa im tabakduftenden Arbeitszimmer meines Vaters. Kein Zweifel: Ein Krieg brachte auch vieles Erfreuliche mit sich!

In den nächsten Tagen lernte ich unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit. Ich, ein siebenjähriger Junge, der noch vor kurzem kaum gewußt hatte, was ein Krieg, geschweige was »Ultimatum«, »Mobilisierung« und »Kavalleriereserve« ist, wußte alsbald, als hätte ich es immer gewußt, ganz genau nicht nur das Was, Wie und Wo des Krieges, sondern sogar das Warum: Ich wußte, daß am Kriege Frankreichs Revanchelüsternheit, Englands Handelsneid und Rußlands Barbarei schuld waren – ganz geläufig konnte ich alle diese Worte alsbald aussprechen. Ich fing einfach eines Tages an, die Zeitung zu lesen, und wunderte mich, wie überaus leicht verständlich sie war. Ich ließ mir die Karte von Europa zeigen, sah auf einen Blick, daß »wir« mit Frankreich und England schon fertig werden würden, empfand allerdings einen dumpfen Schreck über die Größe Rußlands, ließ mich aber dadurch trösten, daß die Russen ihre beängstigende Zahl durch unglaubliche Dummheit und Verkommenheit und beständiges Wodkatrinken wieder wettmachten. Ich lernte – und zwar, wie gesagt, so schnell, als hätte ich es immer gewußt – die Namen von Heerführern, die Stärke von Armeen, die Bewaffnung und Wasserverdrängung von Schiffen, die Lage der wichtigsten Festungen, den Verlauf der Fronten – und ich kam alsbald dahinter, daß hier ein Spiel im Gange war, geeignet, das Leben spannend und aufregend zu machen wie nichts zuvor. Meine Begeisterung und mein Interesse für dieses Spiel erlahmten nicht bis zum bitteren Ende.

Ich muß hier meine Familie in Schutz nehmen. Es waren keineswegs meine nächsten Angehörigen, die mir den Kopf verdrehten. Mein Vater litt unter dem Kriege vom ersten Augenblick an und blickte auf die Begeisterung der ersten...

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