Kapitel II Vergleich des Beziehungsangebotes Gesprächspsychotherapie mit anderen Formen psychotherapeutischer Einflussnahme
In diesem Kapitel wollen wir die Gesprächspsychotherapie mit der psychoanalytischen und der Verhaltenstherapie vergleichen. Das Ziel dieses Vergleichs ist eine Verdeutlichung dessen, was die Gesprächspsychotherapie ausmacht. Wir beschreiben die beiden anderen Therapieformen nicht um ihrer selbst willen und auch nicht umfassend, sondern nur als einen Hintergrund, vor dem die Gesprächspsychotherapie deutlich werden soll.
1. Bei einem Vergleich der »Technik« des Therapeuten in der Gesprächspsychotherapie und in der Psychoanalyse werden wir herausarbeiten, dass ein wesentliches Merkmal der Gesprächspsychotherapie darin zu sehen ist, dass der Klientenzentrierte Therapeut seine Aufmerksamkeit auf die »unbedingte Wertschätzung« richtet, die er seinem Klienten gegenüber fühlt – oder manchmal auch nicht fühlt. Bei einem Vergleich der Modelle der Gesprächspsychotherapie und der Psychoanalyse werden wir herausarbeiten, dass sich die Gesprächspsychotherapie ursprünglich mit einem Therapieprozessmodell vorgestellt hat, während die Psychoanalyse zunächst schwerpunktmäßig ein entwicklungspsychologisches und psychopathologisches Modell war.
2. In diesem Zusammenhang werden wir einen Vergleich von Gesprächspsychotherapie und Psychoanalyse aus psychoanalytischer Sicht referieren und die in diesem Vergleich enthaltene Relativierung der Gesprächspsychotherapie zurückweisen.
3. Wir werden dann darlegen, dass auch die psychoanalytische Forschung zunehmend das Gewicht auf die Erforschung des Therapieprozesses legt und innerhalb dieses Prozesses auf die therapeutische »Beziehung«.
4. Wir werden sodann Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie miteinander vergleichen und den nondirektiven Standpunkt der Gesprächspsychotherapie vor dem Hintergrund des direktiven Standpunktes der Verhaltenstherapie verdeutlichen. Ein Vergleich der Definition der sog. Therapeutenvariablen in Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie soll in diesem Zusammenhang verdeutlichen, dass in der Gesprächspsychotherapie Bedingungen für die Entwicklung eines therapeutischen Prozesses formuliert worden sind und nicht »Kernvariablen« im Sinne technischer Handlungsanweisungen an den Therapeuten.
5. Wir schließen das Kapitel ab mit Überlegungen bezüglich der Möglichkeiten Klientenzentrierter vergleichender Psychotherapieforschung.
1 Vergleich der »Ratschläge« für den Therapeuten bei der gesprächspsychotherapeutischen und bei der psychoanalytischen Behandlung
Rogers hat in seinem viel zitierten und im ersten Kapitel dieses Buches ausführlich dargestellten Artikel von 1957 die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsveränderung durch Psychotherapie beschrieben (»The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change«) und nicht etwa die notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer Persönlichkeitsveränderung durch Gesprächspsychotherapie. Er hat sich gefragt: Ist es möglich, in klar definierbaren und messbaren (»operationalisierbaren« würden wir heute sagen) Begriffen die psychologischen Voraussetzungen zu erfassen, die notwendig und hinreichend sind, konstruktive, d. h. Struktur verbessernde Persönlichkeitsveränderungen durch Psychotherapie hervorzubringen. Sodann hat er ausführlich beschrieben, dass er aus der eigenen klinischen Erfahrung und der seiner Kollegen unter Berücksichtigung der damals vorliegenden Forschungsergebnisse verschiedene Bedingungen herauskristallisieren konnte, die notwendig sind, eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung anzustoßen, und die zusammengenommen hinreichend sind, diesen Prozess in Gang zu halten.
An dieser Stelle sollen die sechs Bedingungen für eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung durch Psychotherapie ( Kap. I) wiederholt werden:
1. Zwei Menschen nehmen eine Beziehung zueinander auf.
2. Der eine dieser beiden Menschen, der Klient, ist mit sich selbst uneins und verletzlich, in einem Zustand der Inkongruenz, d. h., beschäftigt mit einem Erleben, das nicht zu seinem Selbstbild passt. Dieser Inkongruenz muss er sich nicht bewusst sein.
3. Der andere Mensch, der Therapeut, ist, was diese seine konkrete Beziehung zum Klienten anbelangt, in einem Zustand von Kongruenz, d. h., er könnte sich erlauben, sich seines gesamten Erlebens in dieser Beziehung bewusst zu werden.
4. Der Therapeut erlebt sich unter allen Umständen, die der Klient ihm bereitet, diesem gegenüber bedingungslos annehmend zugewandt (experiencing unconditional positive regard), unbedingt wertschätzend.
5. Der Therapeut erfährt auf dem Wege der Einfühlung den Inneren Bezugsrahmen des Klienten und teilt dem Klienten diese Erfahrung mit.
6. Die Mitteilung dieses einfühlenden Verstehens und der annehmenden Zugewandtheit zum Erleben des Klienten gelingt zumindest in einem gewissen Grade, d. h., kommt auch beim Klienten zumindest in Ansätzen an.
Rogers beschreibt in diesen Bedingungen den behandlungsbedürftigen und behandelbaren Klienten und den effektiven Psychotherapeuten, d. h. genauer: die Beziehung, die der je eine zum eigenen Erleben und zum Erleben des je anderen herstellen kann.
Freud hat 1912 »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« erteilt. Noch 1974 meinen Gertrude und Rubin Blanck (1978/1974) in ihrem Buch »Angewandte Ichpsychologie«, es gäbe keine bessere Literatur zur Beschreibung der »Mittel, die dem Therapeuten zur Verfügung stehen« (S. 164), als diese Ratschläge Freuds. Wir wollen sie deshalb hier darstellen und mit den »therapeutischen Mitteln«, die Rogers abstrahiert hat, vergleichen.
Freud leitet seinen Artikel so ein: »Die technischen Regeln, die ich hier in Vorschlag bringe, haben sich mir aus der lang jährigen Erfahrung ergeben, nachdem ich durch eigenen Schaden von der Verfolgung anderer Wege zurückgekommen war« (Freud, 1912, GW VIII, S. 376). Die Regeln lauten:
… sich nichts Besonderes merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche gleichschwebende Aufmerksamkeit … entgegenzubringen … Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen, man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht … Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke (a. a. O., S. 377 f.).
Irrtümer im Erinnern, vermutet Freud, ergeben sich nur dann, wenn der Arzt durch eigene Neigungen oder Erwartungen gestört wird beim vorurteilsfreien Hinhören.
Man sollte auch nicht während der Sitzungen etwas aufschreiben, denn »Man trifft notgedrungen eine schädliche Auswahl aus dem Stoffe, während man nachschreibt oder stenografiert, und man bindet ein Stück seiner eigenen Geistestätigkeit …« (S. 379);
Es gelingen jene Fälle am besten, bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder Wendung überraschen lässt, und denen man immer wieder unbefangen und voraussetzungslos entgegentritt. Das richtige Verhalten für den Analytiker wird darin bestehen, sich aus der einen psychischen Einstellung nach Bedarf in die andere zu schwingen, nicht zu spekulieren und zu grübeln, solange er analysiert, und erst dann das gewonnene Material der synthetischen Denkarbeit zu unterziehen, nachdem die Analyse abgeschlossen ist. (…) Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen (a. a. O., S. 380 f.).
Insbesondere warnt Freud vor der Affektstrebung »therapeutischer Ehrgeiz«: »Ein alter Chirurg hatte zu seinem Wahlspruch die Worte genommen: Je le pansai, Dieu le guérit (ich habe nur die Wunden verbunden, Gott hat sie geheilt). Mit etwas ähnlichem sollte sich der Analytiker...