2 Das deutsche Gesundheitswesen – gesundheitspolitische Strukturen, Akteure, Institutionen und die Krankengymnastik
Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken verursachten trotz erster Präventionskampagnen der Unfallversicherungen weiterhin zahlreiche Arbeitsunfälle und der zunehmende Straßenverkehr zudem immer mehr und immer folgenschwerere Verkehrsunfälle. Insbesondere der Erste und der Zweite Weltkrieg brachten neben dem unermesslichen Leid, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und dem politischen Neuanfang viele Versehrte, die nun medizinische Versorgung benötigten. 1919 wurde nach vielen ärztlichen Diskussionen um die Stellung der hauptsächlich aus den schwedischen Gymnastikschulen kommenden Heilgymnastinnen, neben der seit 1900 bestehenden privaten Kieler »Lehranstalt für Heilgymnastik«, endlich eine zweite, die »Sächsische Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage« in Dresden, eröffnet. Der Begriff Krankengymnastik wurde damit offiziell. Weitere von Ärzten gegründete und geleitete Kranken- bzw. Heilgymnastikschulen folgten. Die Befürchtung der Ärzte bestand allerdings schon 1912 in der Sorge, dass die Ausbildung von »Laien in der allgemeinen orthopädischen Chirurgie« (Bade 1939) zur unkontrollierbaren selbständigen Ausübung der Heilgymnastik den Patienten mehr schaden als nützen könnte. Weniger uneigennützig gab es aber auch die Befürchtung, sich die Heilprofession mit noch mehr nicht akademischen »orthopädischen Kurpfuschern« (Lubinus 1913) teilen zu müssen. Denn durch die Kurierfreiheit – die bis zum Erlass des Heilpraktikergesetzes 1939 galt und die Ausübung der Heilkunde ohne jegliche Ausbildung erlaubte – hatten die approbierten Ärzte aus ihrer Sicht schon genug Konkurrenz. Es gab daher nicht wenige Ärzte, die eine Spezialisierung zum Arzt für Heilgymnastik und Massage befürworteten. Andere sahen in der anstrengenden Arbeit und dem direkten Kontakt (Hands-on), z. T. auch mit den unteren sozialen Schichten, schon einen Nutzen in den heilgymnastischen Assistentinnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland offensichtlicherweise sehr hoch, nur der Bedarf an therapeutischem Fachpersonal war so immens groß geworden, dass die ersten staatlich geprüften Heilgymnastinnen nun zunehmend selbst um ihren Stand fürchteten. Sie befanden sich plötzlich im Abgrenzungskampf ihrer Profession zu den zahlreichen (eher weiblichen) Krankenschwestern, Turn- und Gymnastiklehrerinnen und den (eher männlichen) Masseuren und Sanitätern. Sie und viele weitere freiwillige Hilfskräfte wurden als nur angelernte Gehilfen mit in die Bewegungstherapie der Verletzten und Verstümmelten eingebunden (Kohlwes 2009). Die Heil- und Krankengymnastikschulen unterrichteten nach eigenen und unterschiedlichen Lehrplänen, eine Berufsordnung existierte nicht. Zur Gründung einer eigenen Berufsorganisation zur Wahrung und Weiterentwicklung der Berufsinteressen der Krankengymnastik (diese Bezeichnung hatte sich mittlerweile durchgesetzt) engagierten sich die Krankengymnastinnen Irmgard Kolde, Christa Dültgen, Asta von Mülmann und Gertrud Finke bereits 1948 für den Zusammenschluss der vereinzelten seit 1946 bestehenden Landesgruppen zu einem zentralen Berufsverband für Krankengymnastinnen (Hüter-Becker 2004, S. 16 f.) ( Kap. 5.4). Dennoch ging dies damals nicht ohne ärztliche Fürsprecher. 1949 erhielten sie prominente Unterstützung bei der Gründung des »Zentralverbands der krankengymnastischen Landesverbände«14 von ärztlicher Seite. Unter anderem durch Professor Dr. Franz Ludwig Schede (1882–1976), der ein anerkannter Orthopäde und seit 1933 Leiter der »Deutschen Orthopädischen Gesellschaft«, Leiter der Krankengymnastikschule in Leipzig und langjähriger Chef von Irmgard Kolbe war (Grosch 1996, S. 243 f.). Die allerersten Berufsverbände für Heilgymnastinnen wurden allerdings schon Ende der 1920er Jahre von Absolventinnen verschiedener Heilgymnastik-Schulen gegründet (Landesarbeitsamt Westfalen 1929). Da sich diese wahrscheinlich nur sehr regional verbreiteten und in den späteren Kriegsjahren an Bedeutung verloren, ist wenig über ihre berufs- und gesundheitspolitische Rolle bekannt:
• Vereinigung deutscher staatlich geprüfter Heilgymnastinnen in Kiel,
• Deutsche Vereinigung für schwedisch-pädagogische Gymnastik in Dresden,
• Vereinigung der orthopädischen Turnlehrerinnen und Heilgymnastinnen in Berlin,
• Verband der staatlich anerkannten Krankengymnastinnen in Dresden.
Ein Rückschlag für die neue und junge Krankengymnastik der Nachkriegsjahre war die Drohung bis Weigerung vieler Krankenkassen, nichtärztliche Maßnahmen aus Kostengründen wieder aus dem »Leistungskatalog« zu nehmen. Auch jetzt setzte sich die Ärzteschaft wieder für den Erhalt der Krankengymnastik ein. Diskussionen um den Status des heilgymnastischen Berufes wurden geführt und mit dem Ergebnis abgeschlossen, dass die Heilgymnastik in Deutschland nicht von Ärzten und auch nicht von Laien, sondern von einem eigenen Berufstand auszuüben sei, welcher weisungsgebunden der akademischen Medizin unterstellt sein solle (Riechardt 2008, S. 25). Es wurde auch ersichtlich, dass die Berufsbezeichnung bundeseinheitlich gegenüber den nur angelernten Hilfskräften geschützt werden muss. Ein Berufsgesetz musste her, doch konnte dieser Wunsch politisch vorerst nicht durchgesetzt werden.
Das Geschlechterverhältnis der »ärztlichen heilgymnastischen Assistenten« wandelte sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bis 1947 nur Frauen zu Krankengymnastinnen ausgebildet (Förster, 2013), genaue Zahlen zu der prozentualen Verteilung sind leider nicht bekannt. Laut aktueller Zahlen liegt die Physiotherapeutinnen-Quote derzeit bei 79 % (Bußmann 2015, S. 45).
Gesundheitssystem der DDR
Nach der Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten-Siegermächte in Ost und West wurde das Gesundheitssystem der DDR unter staatliche Kontrolle gestellt. Die privat organisierten und selbstverwalteten Krankenkassen entsprachen nicht der Politik des Arbeiter- und Bauern-Staats. Die Mehrheit der Bürger wurde in der »Sozialversicherung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes« (SFV FDGB) pflichtversichert. Selbständige Unternehmer, Freiberufler (außer Ärzte), Mitglieder der landwirtschaftlichen und Handwerks-Produktionsgenossenschaften waren in der »Staatlichen Versicherung der DDR« versichert. Beide Gruppen zahlten 20 % des Bruttoeinkommens ein (Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber jeweils 10 %) und erhielten dafür (damals) ähnliche Leistungen wie die Versicherten in der Bundesrepublik Deutschland.
Die westlichen Alliierten nahmen in den ersten Nachkriegsjahren ebenfalls noch kleine Änderungen an den Krankenkassenstrukturen in ihren Verwaltungsgebieten vor. 1953 fand dann die erste Sozialwahl statt, die die Stellung der Selbstverwaltung der GKV wieder festigte.
2.1 Solidarität, Subsidiarität und das Wirtschaftlichkeitsgebot
Der in Deutschland geltende solidarische Gedanke hat eine lange, in der christlichen Nächstenliebe verwurzelte Tradition und ist – auch in Abgrenzung zu den Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaats – im Grundgesetz unter dem Leitbegriff des Sozialstaats folgendermaßen festgehalten:
Artikel 20 Abs. 1 GG
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Somit ist es Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland und der einzelnen Bundesländer (Artikel 28 Abs. 1 GG) für soziale Gerechtigkeit zu sorgen und einen Ausgleich bei sozialen Ungleichheiten zu schaffen.
Solidarität bezeichnet ein Prinzip, das […] gegen die Vereinzelung und Vermassung die Zusammengehörigkeit, d. h. die gegenseitige (Mit-)Verantwortung und (Mit-)Verpflichtung betont. Solidarität kann auf der Grundlage gemeinsamer politischer Überzeugungen, wirtschaftlicher oder sozialer Lage geleistet werden.
Schubert & Klein 2011
Sozialstaatsprinzip
Das Angebot zur gegenseitigen Hilfe steht damit im Gegensatz zu einer wenig lebenswerten und kaum lebensfähigen egoistischen Gesellschaft. Über die »Ewigkeitsklausel« des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3 GG) ist das Sozialstaatsprinzip als eines der grundlegenden und unveränderbaren Staatsprinzipien der Bundesrepublik Deutschland geschützt. Die Einführung der Sozialgesetzbücher (I-XII) ab den 1970er Jahren hat diese Gesellschaftsform auf weitere Bereiche des Lebens ausgeweitet und definiert. So heißt es in
...