Einleitung: Ein Land entdeckt sich selbst
Ein Land hat sich gefunden. Aus dem provisorischen Bindestrichland der Nachkriegszeit – von der britischen Besatzung am Reißbrett schnell zusammengeklammert – ist eine europäische Kernregion erwachsen. Es ist ein Land der Großindustrie und des Mittelstandes, der ländlichen Idylle und der Großstädte, der Technologie und der Kultur: Es ist ein Land der vielen Gesichter.
Die Gesichter gehören zu Menschen, die gern hier leben. Auch im Ruhrgebiet, das sicher ein starkes Stück ist, wie es sich in seiner Werbung nennt. Aber trotz aller Hochglanzprospekte kennt es auch seine Schmuddelecken und Problemzonen. Es will sie nicht verleugnen. Trotzdem lieben es die Leute, wenn „der Pott kocht“: auf Schalke oder beim BVB, bei Herbert Grönemeyer in der Westfalenhalle oder auf der Cranger Kirmes.
Westfalen und Rheinländer, Lipper und Siegerländer, Bergische und Öcher (d. h. Aachener) kennen weiterhin ihre eigenen Traditionen, aber sie bekennen sich auch zu ihrem Bundesland. Sie haben eine Landesidentität, ein Wir-Gefühl gefunden, das nicht eindimensional sein muss. Warum soll man nicht Kölner, Rheinländer und NRWler gleichzeitig sein? Natürlich auch noch Deutscher und Europäer dazu. Oder Dortmunder, Westfale und Nordrhein-Westfale in einer Person? Das klappt offenbar immer besser. Auch wenn manchmal der Kölner mit dem Rheinländer und dem Sauerländer streitet, beispielsweise ob Altbier aus Düsseldorf, das Kölner Kölsch oder das Pils das beste Bier sei.
Diese Vielfalt als einen Grundzug des Landes abzubilden, das habe ich mir mit diesem Buch vorgenommen, um damit ein Stück Einheit zu zeigen. Als dieses Buch im Jahr 2000 zu ersten Mal veröffentlicht wurde, fanden wir ein Land im Umbruch und im Aufbruch vor: von Bonn nach Berlin, von der D-Mark zum Euro, vom Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Staat, von der Residenz des preußischen Provinzhauptmannes in das futuristische stahl-gläserne Stadttor der neuen Staatskanzlei, vom 20. ins 21. Jahrhundert. Jetzt im Frühjahr 2016 ist überraschend vieles anders geworden, aber das Grundmuster schimmert immer wieder durch: Nordrhein-Westfalen ist ein Wirtschaftsmotor und zugleich das soziale Gewissen Deutschlands geblieben. So war es schon unter Karl Arnold dem ersten gewählten Ministerpräsidenten des Landes, und so wird es bleiben. Selbst im beginnenden Wahlkampfgetöse vor der Landtagswahl im Mai 2017 halten beide großen Landesparteien an dieser Doppeldevise fest. Das Land blickt nach vorn – mit manchen bangen Gedanken angesichts der europäischen Flüchtlings- und Klimakrise, der Kriege und der unsicheren Aussichten, aber auch mit Zuversicht, denn die wirtschaftliche Lage ist viel besser als sie seinerzeit war.
Was will das Buch?
Das Buch soll NRW darstellen, wie es lebt. Kein betuliches Lehr- und Schulbuch älteren Stils, keine „Landeskunde“ belehrenden Charakters für den Gebrauch in Schulen und als Handreichung für Lehrer. Es soll eher ein politisches Sachbuch sein, das locker geschrieben ist, Stellung bezieht und Perspektiven aufzeigt. Also nicht in der berühmt-berüchtigten „Ausgewogenheit“ aller Positionen bis in die Zehenspitzen aller Fußnoten, aber natürlich überparteilich, fair und zuverlässig in der Information. Auch nicht wissenschaftlich über-bemüht in Jargon und Anmerkungsapparat, aber: solide und gut recherchiert. Es ist gedacht für die politische Bildung neuen Stils: Eher pointiert, und es darf auch ein bisschen unterhaltsam sein, statt mit dem pädagogischem Zeigestock zu wedeln. Keine Staatsbürgerkunde für das Bücherregal, sondern ein nützliches Produkt für die Bürgergesellschaft, das wirklich gelesen wird. Wir haben einige Lieder und Gedichte in den Text gestreut, die alle vom Land Nordrhein-Westfalen, seinen Menschen und Landschaften handeln, um ihn aufzulockern, ihn heiterer und auch nachdenklicher zu machen. Hier ist eine Kostprobe.
Wendelin Haverkamp
Oh Enerweh!
Oh Enerweh, du schöne Fee
Mit dem grünroten Dekolleté
Wo nix zusammenwachsen muss
Schon gar nicht unter’m Reißverschluss
Oh Enerweh, im Portemonnaie
So nackend wie ein junges Reh
So bar nun jeglicher Kohlé
Oh Enerweh, einst schwarz wie Schnee
Es oh! Es lebt sich gut in dir
So ohne Hymne zum Klavier
So ohne Fahne und Armee
Mein friedliches mein Enerweh
Oh hoffentlich äh bleibst du so
Du Bauspar-Flachdach-Bungalow
Oh Enerweh, du mein Zuhaus
Hier ziehe ich die Schuhe aus
Du guckst mir schweigend dabei zu
Und lässt mir zweifach keine Ruh
Oh Enerweh, mein Bindestrich
Du ahnst es nicht – ich liebe dich
Quelle: Wendelin Haverkamp: Oh Enerweh! In: Hier ziehe ich die Schuhe aus. Geschichten zum 60. Geburtstag von Nordrhein-Westfalen. Köln 2006.
Das ist ein großes Programm. Mir wird angst und bange bei den hohen, selbst gesetzten Zielen. Ob es gelungen ist, werden die Leserinnen und Leser entscheiden. Aber immerhin steht schon jetzt fest: Es hat Spaß gemacht. Die Leitidee war und ist es, ein NRW-Profil herauszuarbeiten. Was ist das Spezifische an diesem Land? Wie hat es seine Identität gefunden? Was für Diagnosen und Prognosen lassen sich für seine Entwicklungschancen stellen? Alle Interessierten und Engagierten an der Landespolitik sollen so erreicht werden, Schülerinnen und Schüler genauso wie ihre Lehrerinnen und Lehrer, Studierende und Wissenschaftler und natürlich auch die Politiker und Politikerinnen auf allen Ebenen, vom Gemeinderat bis zum Landtag. Die Fachleute und Experten sind nicht meine Zielgruppe, für sie gibt es jede Menge Fachliteratur, sie werden hier nichts grundsätzlich Neues erfahren. Denn ich will das Wissen über NRW zusammenfassen und bündeln, aufbereiten, würzen und abschmecken, aber nicht ganz neu erfinden.
Dieses Buch wird also keine Neuauflage des verdienstvollen „Nordrhein-Westfalen: Eine politische Landeskunde“ sein, das von der Landeszentrale für politische Bildung schon 1984 herausgegeben wurde. Am Ende dieses Buches finden sich zur weiterführenden Lektüre ein Literaturverzeichnis nützlicher und einschlägiger Werke über Nordrhein-Westfalen, sowie ein Linkverzeichnis mit weiterführenden Hinweisen, die Schneisen schlagen in den unendlichen Dschungel des Internet.
Mein Buch soll nicht den anderen jüngeren Bänden Konkurrenz machen, die hervorragende Informationen zum Land bieten. Ich habe nicht den Ehrgeiz einer Enzyklopädie, sondern will ein politisch profiliertes Sachbuch vorlegen, das in fünf Hauptteilen Akzente setzt, aber nicht jedem alles bringen wird. Lassen Sie mich diese Teile kurz vorstellen.
Ein Land findet seine Identität
An der Wiege von NRW, genauso wie an der des modernen Europa, stehen Kohle und Stahl. Sie bestimmten in der Nachkriegszeit das Schicksal des Landes, die Überlegungen der britischen Besatzungsmacht zum Zuschnitt des Landes und auch die Wurzeln des vereinten Europa mit der Schaffung einer europäischen Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951. Rust belt, Rostgürtel nennt man in den USA die altindustrielle Krisenregion von Stahl und Kohle. In den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg war das noch ganz anders. Das Ruhrrevier, unser Rust belt, war Motor des Wirtschaftswunders: Kohle brachte die Energie, Stahl war die wichtigste Schlüsselindustrie. Die Leistungsfähigkeit von Staaten wurde noch lange nach ihrer Stahlproduktion bewertet.
Diese Nachkriegsgeschichte mit der Bildung des Landes, seiner Formierung sowie den Hauptstufen der Entwicklung nachzuzeichnen, ist keine leichte Aufgabe, will man allem Wesentlichen gerecht werden. In der Politik entstand zunächst eine lange CDU-Hegemonie, begründet vom ersten gewählten Ministerpräsidenten Karl Arnold, später, nach kurzem Intermezzo, fortgeführt durch Franz Meyers. Mit Heinz Kühn begann 1966 die Dominanz der SPD, die auch unter seinen Nachfolgern Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück anhielt. Unterbrochen wurde sie durch Jürgen Rüttgers mit einer CDU-FDP-Koalition, die 2010 durch eine rot-grüne unter Hannelore Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann (Grüne) abgelöst wurde.
Noch schwerer ist es, Land und Leuten, Landschaft und Landsmannschaften gerecht zu werden, denn die Vielfalt des Landes ist sein Hauptkennzeichen. Trotz der Vielfalt hat sich eine erstaunliche Landesidentität gebildet, gefördert durch alle Landesregierungen. Ein Land hat sich gefunden, so lautete unser Untertitel damals für die erste Ausgabe des Buches im Jahre 2000. Das ist nun schon Geschichte. Jetzt blickt das Land nach vorn.
Ein Land regiert sich selbst
Ob in den Räten von Gemeinden, Städten, Kreisen oder im...