Einleitung
Jan Böcken, Bernard Braun, Rüdiger Meierjürgen
Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex, umfasst zahlreiche Leistungen und Dienste verschiedener Ausgabenträger und Leistungserbringer. Der Anteil aller Gesundheitsausgaben (300,4 Milliarden Euro) am Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2012 in Deutschland 11,3 Prozent und liegt somit im internationalen Vergleich im oberen Drittel. Aber wie gut werden diese Mittel eingesetzt? Tun wir das Richtige bei der Früherkennung der großen Volkskrankheiten? Wie gut ist die durch die eingesetzten Mittel erreichte Versorgungsqualität? Und entsprechen die Versorgungsstrukturen dem, was die Bürger von einem System erwarten, das zu großen Teilen aus Pflichtbeiträgen und Steuern – also aus Zwangsabgaben – gespeist wird?
In Deutschland erkranken jedes Jahr rund 500.000 Menschen neu an Krebs, 221.000 Menschen sterben jährlich daran. Experten vermuten zwischen 2010 und 2030 einen Anstieg um bis zu 20 Prozent. Dass ein erheblicher Teil dieser Steigerung aufgrund des demographischen Wandels zustande kommt, wurde in der breiten Berichterstattung um den Weltkrebsbericht der WHO-Studie im Jahr 2014 oft nicht erwähnt. Was die transportierte Botschaft in der Bevölkerung auslöst, bleibt abzuwarten. Doch die Unsicherheit beschränkt sich nicht auf die Öffentlichkeit: Trotz eines umfangreichen Wissens über Inzidenz- und Mortalitätsraten, trotz vielfältiger Therapiemöglichkeiten und Angebote an Früherkennungsmaßnahmen bleiben viele zentrale Fragen etwa im Bereich Krebsfrüherkennung unter Experten entweder unbeantwortet oder umstritten. Grund genug, das Thema »Krebsfrüherkennung« in diesem Jahr in der Jahrespublikation des Gesundheitsmonitors näher zu beleuchten.
In einem einführenden Artikel beschreiben Ulla Walter und Maren Dreier die neuen Rahmenbedingungen der Krebsfrüherkennung. Mit dem Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz (KFRG) erfolgt in Deutschland eine politische Neuorientierung entsprechend den Empfehlungen der Europäischen Union und der Weltgesundheitsorganisation. Das Gesetz sieht unter anderem vor, innerhalb von drei Jahren die derzeit als geeignet angesehenen Früherkennungsuntersuchungen für Zervixkarzinom und Darmkrebs zu bevölkerungsbezogenen und organisierten Früherkennungsprogrammen auszubauen. Die Autorinnen heben den Paradigmenwechsel von dem ehemals erwünschten Ziel einer möglichst hohen Beteiligung hin zur informierten Entscheidung hervor und beschreiben die zahlreichen Umsetzungsprobleme.
Der Beitrag von Sylvia Sänger befasst sich mit der Wahrnehmung der gesetzlich empfohlenen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen durch die Adressaten: Dies betrifft die Bekanntheit, die Vorstellungen von Nutzen und Risiken der Untersuchungen und die Erwartungen an entscheidungsrelevante Informationen. Aufbauend auf den erzielten Ergebnissen formuliert die Autorin Handlungsempfehlungen, wie die Divergenz zwischen vorhandenem Wissen und fehlender beziehungsweise unzureichender Inanspruchnahme reduziert werden kann.
Marie-Luise Dierks und Norbert Schmacke widmen sich einer bestimmten Krebsfrüherkennungsmaßnahme: dem Mammografie-Screening. Im Jahr 2002 haben der Bundestag und der Bundesrat die Einführung eines systematischen Mammografie-Screenings in Deutschland trotz eines fehlenden vorausgehenden Bewertungsprozesses parteiübergreifend beschlossen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es bis heute strittig, ob die Hauptziele des Mammografie-Screenings – die Sterblichkeit an Brustkrebs zu verringern und die Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern – erfüllt werden können. Wie werden betroffene Frauen in Deutschland über das Verfahren und dessen Nutzen und Risiken informiert? Welchen Kenntnisstand haben Frauen über das Verfahren und können sie heute die Chancen und Risiken des Angebots aufgrund intensiverer öffentlicher und wissenschaftlicher Diskussion zum Screening besser bewerten? Zu diesen Fragen liefert der Artikel von Dierks und Schmacke Antworten.
Die unterschiedlichen Positionen verschiedener Experten zum Thema »Krebsfrüherkennung« thematisiert Christian Weymayr, der für den Gesundheitsmonitor 2014 ein Streitgespräch zwischen der Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser und Johannes Bruns, dem Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, aufbereitet hat – und damit für den Gesundheitsmonitor auch Neuland bei der Darstellung kontroverser Kenntnisstände betritt. Beide nehmen hier Stellung zur Bewertung von Nutzen und Schaden der Früherkennung und zur Kommunikation möglicher Risiken. Welche Krebsfrüherkennungsmaßnahmen im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben tatsächlich ihre Berechtigung? Wie hoch ist der Nutzen und wie hoch ist das Risiko einzelner Früherkennungsmaßnahmen? Und: Wie sollten Patienteninformationen aussehen und welche Akteure sollten sie entwickeln und vermitteln?
Die Stärkung der Patientensouveränität und die Erhöhung der Gesundheitskompetenz sind nicht nur für den Umgang mit Krebsfrüherkennungsmaßnahmen erforderlich, sondern spielen auch im Arzt-Patienten-Kontakt generell eine wesentliche Rolle. Beide Facetten wurden bereits in früheren Artikeln des Gesundheitsmonitors unter der Überschrift des »Shared Decision Making« aufgegriffen. Der Beitrag von Bernard Braun und Gerd Marstedt im Gesundheitsmonitor 2014 liefert einen aktuellen Überblick über Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich der partizipativen Entscheidungsfindung beim Arzt und schließt eine bis zum aktuellen Zeitpunkt wesentliche Lücke des Forschungsstandes: Inwieweit werden Patientenwünsche in der Realität der Arztpraxis tatsächlich erfüllt? Dabei nutzen die Autoren eine der exklusiven Stärken des Gesundheitsmonitors und berücksichtigen Daten aus den letzten elf Befragungsjahren sowie die Ergebnisse vorangegangener Beiträge im Gesundheitsmonitor, beispielsweise Isfort, Floer und Butzlaff 2004 sowie Isfort, Redaélli und Butzlaff 2007. Zugleich wird der internationale Forschungsstand miteinbezogen.
Neben der Ausprägung der etablierten Kultur einer Entscheidungsfindung gibt es noch weitere Faktoren, die für die Qualität der Versorgung in den Arztpraxen wichtig sind. Jan Böcken und Gerd Marstedt beschäftigen sich in ihrem Artikel speziell mit der Qualität der hausärztlichen Versorgung in Deutschland. Sowohl die Patientenerfahrungen zur Strukturqualität als auch die Befunde zur Ergebnisqualität und die Erfahrungen zur Prozessqualität werden im Artikel aufgegriffen. Hinsichtlich der Prozessqualität stehen die Arzt-Patienten-Kommunikation, die partizipative Entscheidungsfindung und die Kooperation mit Fachärzten im Vordergrund. Die Autoren untermauern die zentrale Bedeutung der Arzt-Patienten-Kommunikation für die Ergebnisqualität einer Behandlung und ordnen die Ergebnisse in den Kontext der gesundheitspolitischen Debatte ein.
Welche spezifischen Erfahrungen machen Patienten mit Blick auf die Versorgungsqualität? Die Antwort auf diese Frage bildet die Grundlage für die Zufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitswesen seitens der Patienten. Eben diesen Erfahrungen, Erwartungen und dem Grad der Zufriedenheit widmet sich Viviane Scherenberg und liefert Erklärungen für eine aufgrund hoher Reformdynamik entstandene Verunsicherung in der Bevölkerung. Der Artikel fragt nach der generellen Zufriedenheit der Bürger mit dem Gesundheitswesen, stellt einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen und Erwartungen beziehungsweise Ängsten her und erläutert, inwieweit sich gesundheitspolitische Entscheidungen aus einer Zufriedenheitsabfrage ableiten lassen.
Die Zahl von Arztbesuchen ist im internationalen Vergleich in Deutschland hoch. Eine schnellere Genesung zählt dabei wohl zu den Hauptzielen eines Arztbesuches. Neben solch gesundheitlich motivierten und notwendigen Besuchen kommt es jedoch auch häufig zum Arzt-Patienten-Kontakt aufgrund der Verpflichtung, sich die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen zu lassen. Das Autorenteam Christoph Kowalski, Anika Nitzsche, Detlef Hollmann und Holger Pfaff untersucht in seinem Artikel die Häufigkeit solcher Arztbesuche in Deutschland und fragt, ob ein Zusammenhang zwischen der Strenge der betrieblichen Fehlzeitenregelung und der Inanspruchnahme des Arztes existiert. Weiter wirft der Beitrag die Frage auf, ob ein hohes Sozialkapital in den Unternehmen diese Form der Inanspruchnahme erhöht oder reduziert. Zugleich liefert er einen Einblick in die gesetzlichen Fehlzeiten- und Lohnfortzahlungsregelungen anderer Länder.
Die Jahrespublikation 2014 endet mit zwei Beiträgen, die auf Sonderbefragungen spezieller Gruppen von BARMER-GEK-Versicherten aufbauen. Das Autorenteam Christina Sartori, Nicole Osterkamp, Cordula Uebing und Klaus Linde befasst sich dabei mit einer Heilmethode, die seit mehr als 200 Jahren praktiziert wird: der Homöopathie. Der Artikel berichtet über die Erfahrungen, Bewertungen und die Nutzung von Homöopathie durch gesetzlich Versicherte und formuliert daraus Schlussfolgerungen für eine...