ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN
1. Kapitel: Was heißt Schreiben?
So viel im Prozeß meines Schreibens ist mir unerklärbar. Aber das eine weiß ich: Schreiben erzeugt Schreiben.
Dorianne Laux
Zusammenfassung
Aus der kritischen Betrachtung dessen, was herkömmlich Schreiben heißt, wird die Tätigkeit als prozeßimmanent und produktorientiert bestimmt bzw. als Entfaltungsraum für individuelle Bedürfnisbefriedigung und soziale Anerkennung definiert. Um dem entworfenen Schreibbegriff Praxisrelevanz abzugewinnen, macht sich eine Annäherung an ihn durch Schreiberfahrung nötig: Anhand eines Beispieltextes analysiere ich meinen Arbeitsprozeß und bestimme Bildliches Vorstellen, Geschichtenerzählen, Sinnstiften und Spiel als die prägenden Bestandteile. Traumarbeit erscheint in einer grundlegenden und verbindenden Funktion. Für sämtliche Aspekte werden Formen der eigenen Erprobung vorgeschlagen.
Schreiben ist, neben dem Sprechen und der Körpersprache, eines der Hauptmedien menschlicher Kommunikation. Es bewegt sich, im engeren Rahmen gesehen, im Spannungsfeld von Schreibanlaß und AdressatIn und korrespondiert, im weiteren Rahmen, mit dem Verhältnis von Schreibenden, Verteilungsapparat,1 Aufbewahrungssystem2 und Lesenden. (Abb.1) Aus dem Schnittpunkt von Textproduktion, -distribution/-aufbewahrung und -rezeption erwachsen Schreibmotivationen.
Aufgrund der Einmaligkeit und des individuellen Charakters eines jeden Schreibprozesses ist das Maß der Einflußnahme der aufgezeigten Elemente schwerlich allgemein definierbar. Einer der Anlässe für das Entstehen dieses Buches bestand zum Beispiel darin, meine eigenen Vorstellungen vom Schreiben weiterzuentwickeln. Eine wichtige Motivation, mein Lernen anderen mitzuteilen, ergab sich aus einer Marktlücke, die ich bei schreibpädagogischen Publikationen vor einigen Jahren in Deutschland erkannt geglaubt hatte. Während ich am Manuskript saß, entdeckte ich jedoch immer wieder neue deutschsprachige Titel zum Gegenstand, die mich vor allem ob ihrer hohen Qualität sehr beeindruckten und meine anfänglich euphorische Motivation drastisch dämpften. KollegInnen, Freunde und auch mir persönlich unbekannte LeserInnen meines ersten Buches zum Thema3 haben nicht wenig dazu beigetragen, daß sich meine Lust am Schreiben schließlich wieder stabilisierte.
Vorgänge solcher Art wiederholen sich für alle, die schöpferisch tätig sind. Sie ähneln einander in ihren Verlaufsqualitäten, auch wenn sie individuell verschieden erlebt werden und nicht immer zur Weiterführung des eigenen Projekts motivieren. Beobachtungen und Untersuchungen dazu haben schließlich zu einigen verallgemeinerbaren Aussagen geführt, aus denen sich grundlegende Erkenntnisse der Schreibpädagogik speisen. Diese sollen, wie in der Einleitung bereits angedeutet, in den folgenden Kapiteln theoretisch und praktisch vorgestellt werden.
Ich empfinde es für eine Gegenstandsbestimmung wichtig, zuerst den gewählten Blickwinkel anzudeuten: Mein Standort ist der eines Schreibenden und damit naturgemäß zwiespältig. Er zwingt mich, sowohl das Verfertigen eines Textes als auch den Text als Produkt ins Auge zu fassen. Während der eine Teil (Schreiben als Prozeß), wie später noch deutlicher werden wird, mein schreibpädagogisches Interesse besonders stark dominiert, verkörpert der andere Aspekt (Schreiben als Produkt) eine Größe, die, was ihre Bedeutsamkeit betrifft, im Wandel begriffen ist.
Meine Betrachtung dessen, was Schreiben ist, vollziehe ich durch die Linse des jeweiligen Schreibprodukts. Ich frage: Welcher Arbeitsprozeß hat zum vorliegenden Ergebnis geführt? Dieser rückwärts gewandte Blick erscheint unlogisch, da er sich der natürlichen Dynamik des Schreibens entgegenzustemmen versucht, ist aber in meinem Falle folgerichtig und zwar aus zwei Gründen: Ich verfüge (noch) nicht über Begriffe für eine effektive Kategorisierung von Schreibanlässen und -motivationen, die zu bestimmten Textsorten führen. Es existiert jedoch eine historisch gewachsene Terminologie zur Beschreibung von Gattungen und Genres. Jenes begriffliche Dilemma spiegelt gleichzeitig die hinlänglich bekannte Produktorientiertheit jahrhundertelanger Betrachtungen zu Literatur und Schreiben wider. Einer solchen Tradition kann und will ich mich nicht entziehen, ich möchte, von ihr ausgehend, den Bogen spannen zum Schreibprozeß – dem lange unterbelichtet gebliebenen Teil –, um letztlich die Vorteile beider Pole moderner Schreibpädagogik füreinander nutzbar zu machen.
Ein erster produktiver Kompromiß in dieser Richtung besteht meiner Auffassung nach darin, daß ich für einen Gesamtüberblick über das Terrain in Anlehnung an Wendy Bishops categories of written discourse’4 grundlegende Schreibweisen (prozeßorientiert) und deren Existenzformen (produktorientiert) zusammenführe: (Abb. 2)
Die drei Schreibweisen leiten sich jeweils von einer dominierenden Befindlichkeit der Schreibenden ab und bestimmen schließlich Form und Funktion des Textes: Instrumentales Schreiben resultiert aus einem vordergründig rationalen Bedürfnis, Fakten mitzuteilen, über die äußeren Parameter eines Ereignisses, einer Tätigkeit etc. zu berichten. Imaginatives Schreiben speist sich mehr aus emotionalen Anlässen, sich zu äußern, was zu Darstellungen der Innerlichkeit des schaffenden Subjekts führt. Expressives Schreiben kommt von einem starken Ent-und Aufdeckungsbedürfnis, das sowohl rational als auch emotional begründet ist und in dieser Kombination das Erfahrene in seinen Zusammenhängen tiefer ergründen möchte. Selbstverständlich existieren alle drei Schreibweisen im Kontext äußerer Erfordernisse, die das schaffende Subjekt in seiner Eigenschaft als Zugehöriger eines Berufes, sozialen Gruppierung oder einer Hierarchie beeinflussen: Der Unterschied zwischen einer Zeitungsreporterin, die einen Artikel für die Morgenausgabe zu liefern hat und einem Mitglied einer Laien-schreibgruppe ist offensichtlich.
Wenn ich sage, daß expressives Schreiben in seinem Verlauf zwischen Emotionalität und Rationalität pendelt, so soll dies keine Hervorhebung gegenüber den beiden anderen Grundformen signalisieren. Schreiben als eine komplexe Fähigkeit und Fertigkeit gründet sich sowohl auf das Zusammenspiel der drei Grundformen als auch auf deren spezifische Charaktere, welche nicht zuletzt spezielle Funktionen für die Entwicklung des Schreibens in sich tragen.
An diesem Punkt schlage ich vor, das bisher Gesagte auf seine Gültigkeit für einen selbst zu befragen. Es erscheint mir für die eigene Positionierung als Schreibender wichtig, daß sowohl der allgemeine als auch der persönliche Aktionsradius der Tätigkeit Schreiben näher ergründet wird.
Schreib- und Lesemotivation
1. In welchen Genres/Textsorten (journalistische oder akademische Texte, Prosa, Lyrik oder Dramatik, Tagebucheintragungen, Alltagsnotizen, Skizzen, Impressionen etc.) fühlen Sie sich am wohlsten zu schreiben? Machen Sie auch eine Liste mit den Bereichen, die Sie gewöhnlich vermeiden.
2. Schauen Sie auf jeden einzelnen Posten ihrer beiden Listen und notieren Sie rasch einige mögliche Gründe.
3. Legen Sie zu den folgenden Fragen Listen an: Wann (unter welchen inneren und äußeren Umständen) greifen Sie besonders oft zur „Feder“ und wann seltener oder überhaupt nicht? Antworten Sie so schnell wie möglich.
4. Von welchen Genres/Textsorten fühlen Sie sich als LeserIn besonders angezogen? Listen Sie auch hier wiederum gegenteilig wirkende Bereiche auf.
5. Wiederholen Sie nun auch die anderen Aufgaben zum Schreiben für das Lesen. Vergleichen Sie dann Ihre Eindrücke zum Schreiben und Lesen, und versuchen Sie, Ihren derzeitigen individuellen Standort im Umgang mit Texten auf der Abbildung 2 zu lokalisieren. Vielleicht können Sie ihn sogar farbig sichtbar machen.
So wie die individuelle Positionierung gegenüber den drei Grundformen des Schreibens wohl kaum eindeutig ausfallen wird, gerät auch die eigene Zuordnung zu bestimmten Genres/Textsorten zum Drahtseilakt. Mit Blick auf Abbildung 2 wird nämlich deutlich, daß Genres und Textsorten ein und denselben Bedürfnisstrukturen erwachsen, die auch dem Schreiben zugrunde liegen. Daher ist nicht verwunderlich, daß zum Beispiel auch die Erscheinungsformen Imaginativen Schreibens – Lyrik, Epik und Dramatik – einander ergänzen bzw. in ihren Grenzen überlappen (vgl. Abb. 3).5
Das Gedicht, die Kurzgeschichte oder die dramatische Szene sind letztlich nichts anderes als Produkte ursprünglichen Schreibwillens bzw. darunter liegender Mitteilungsbedürfnisse. Der Schein trügt, wenn diese literarischen Gebilde im Kontext von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Text und Sprache die Vorstellung aufbauen, sie benötigten ein gewisses Arbeitsmaterial und bestimmte...