Einleitung
Gewalt ist allgegenwärtig. In ihren vielschichtigen und komplexen Erscheinungsformen betrifft sie sämtliche Lebensbereiche. Jeder von uns wird mit ihr konfrontiert, sei es durch die mediale Kommunikation oder durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen im beruflichen wie auch im privaten Alltag. Längst hat Gewalt auch Einzug in die pflegerische Versorgung genommen. Fälle von Gewaltanwendungen innerhalb der Pflegebeziehung bis hin zur Tötung von Patienten bzw. pflegebedürftigen Menschen durch Angehörige der Gesundheitsfachberufe haben in den letzten Jahren wiederholt Schlagzeilen gemacht und die Öffentlichkeit erschüttert. Ans Tageslicht kommen vielfach nur die extremsten Fälle, denen mit Entsetzen, Unverständnis und vorschnellen Schuldzuweisungen begegnet wird. Eine ernsthafte Auseinandersetzung, warum es zu diesen Überschreitungen und Vorfällen gekommen ist, eine genaue Analyse, in welcher Lage sich Täter und Opfer befunden haben und welche verantwortlichen Ursachen es für diese Ereignisse gibt, fehlt meistens. Zu schnell wird in den betroffenen Einrichtungen zur Tagesordnung übergegangen. Das betrifft auch die nicht weniger wichtige Frage nach den Konsequenzen bzw. den Lehren, die aus erlebten Gewaltsituationen gezogen werden können.[1]
Wir wollen mit diesem Buch das Bewusstsein für Gewalthandlungen in der Pflege schärfen und die Mauer des Schweigens um das tabuisierte Thema «Gewalt in der Pflege» durchbrechen. Wir sind überzeugt: Nur durch eine möglichst frühe Wahrnehmung und das Erkennen erster Anzeichen von Fehlverhalten innerhalb der pflegerischen Beziehung lässt sich der Gewalt präventiv entgegenwirken.
Aufgrund der enormen Komplexität, die das Thema der Gewalt in der pflegerischen Versorgung mit sich bringt, haben wir uns auf die Behandlung ausgewählter Themenkomplexe beschränkt. Unser Interesse gilt ausschließlich den Gewalthandlungen, die von Gesundheits- und Krankenpflegepersonen ausgehen und pflegebedürftige, alte Personen treffen, sowohl im Zuge der Langzeitpflege als auch der Akutversorgung in den Krankenhäusern. In unserer Betrachtung wird somit lediglich der intramurale Bereich abgedeckt. Den umgekehrten Fall, den es auch gibt, nämlich Übergriffe pflegebedürftiger Menschen gegenüber den beruflich Pflegenden, lassen wir außer Acht. Das betrifft auch die Gewalt innerhalb der familiären Pflege.
Es geht uns in diesem Buch weder darum, Anklage zu erheben, noch die in der Pflege tätigen Personen mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu konfrontieren. Wir wollen nicht pauschalieren oder gar behaupten, alle Pflegenden seien gewalttätig; dies wäre in der Tat eine höchst unqualifizierte und auch falsche Behauptung. Es ist nicht unsere Absicht, mit unseren Zeilen Unmut hervorzurufen oder jemanden vor den Kopf zu stoßen. Im Gegenteil, das persönliche Engagement, der enorme Einsatz und die unermüdliche Geduld der meisten Pflegenden im Umgang mit den ihnen anvertrauten Personen schätzen wir sehr. Für diese schwere, vielfach energieraubende Arbeit möchten wir unsere Anerkennung klar zum Ausdruck bringen.
Ziel des Buches ist es vielmehr herauszuarbeiten, welche Ursachen für Gewaltanwendungen in der Pflege verantwortlich sind und wie gute und professionelle Pflege der Entstehung von Gewalt rechtzeitig entgegenwirken kann. Wir fragen uns, welcher Veränderungen es bedarf, um die beschriebene Problematik einzudämmen und gleichzeitig den jüngsten Entwicklungen im Pflegebereich hinreichend Rechnung zu tragen. Die aktuellen Maßnahmen des österreichischen Sozialministeriums und etwa die Installierung eines «Pflegenotrufs» im Bundesland Brandenburg belegen die Brisanz des Themas. Die Frage, wie die weitere Versorgung bei schwindenden Ressourcen gewährleistet werden kann, hat uns ebenfalls beschäftigt. Darüber hinaus ist ein wichtiger Aspekt, inwieweit sich die Pflegeausbildung im Hinblick auf die Gewaltproblematik positiv beeinflussen lässt. Die Qualität der Pflege ständig weiterzuentwickeln und auch die Ausbildung der Pflegenden zu verbessern, ist ein wesentliches Anliegen von uns.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Kapitel 1 widmet sich aktuellen Fällen von Gewalt im Gesundheitswesen innerhalb der letzten Jahre, die das gesamte Spektrum von verbaler Gewalt (Respektlosigkeit, Lieblosigkeit, Verdinglichung des Patienten, Zynismus) und physischer Gewaltanwendungen bis hin zur Tötung von Patienten bzw. pflegebedürftigen Menschen abdecken. Die Geschehnisse veranschaulichen, dass es sich bei weitem nicht um Einzelfälle handelt, und machen mitunter deutlich, in welcher Vielschichtigkeit Gewalt in der Pflege auftreten kann. Am Ende des Kapitels steht ein Überblick über jene Fragen, die für uns bei der Konzeption dieses Buches maßgeblich waren.
Kapitel 2 beschäftigt sich mit der Asymmetrie der Pflegebeziehung und geht besonders auf Macht und Ohnmacht innerhalb dieses Beziehungsgeflechts ein. Die Frage, wie Macht Potenzial für Gewaltentstehung sein kann und inwieweit Macht und Gewalt zusammenhängen, wird behandelt. Dazu widmen wir uns den unterschiedlichen Formen und Ausprägungen von Gewalt in der Pflege und unternehmen einen Versuch, Gewalt von Aggression abzugrenzen. Beispiele aus dem Pflegealltag dienen der Veranschaulichung und zeigen auch, wie schwer es ist, Gewalt als solche zu erkennen. Mögliche Hinweiszeichen für die Wahrnehmung von Gewalt werden dargelegt. Kurz angeschnitten wird die Frage nach jener Gewalt, die innerhalb der pflegerischen Versorgung «legitim» eingesetzt wird.
Kapitel 3 befasst sich mit der schlimmsten Form der Gewalt innerhalb der Pflegebeziehung, der Patiententötung, und ihren Spezifika. Im Rahmen dieses Kapitels erfolgt eine eingehende Darstellung und anschließende Analyse zum österreichischen Pflegeskandal von Lainz, der in den Achtzigerjahren Furore gemacht hat. Grundlage unserer Beschäftigung ist die Einsichtnahme in die Prozessakten des am Landesgericht für Strafsachen Wien 1991 verhandelten Geschworenenverfahrens. Davon ausgehend versuchen wir, die Motive und Charakteristika solcher Taten aufzuklären. Wir stellen uns die Frage, was die Pflege aus den Vorfällen in Lainz lernen kann bzw. bereits in positiver Hinsicht gelernt hat und in welchen Bereichen Handlungs- und Aufholbedarf besteht.
Kapitel 4 widmet sich den jüngsten Entwicklungen in der Pflege, allen voran dem demographischen Wandel und dessen Auswirkungen. Das gesellschaftliche Altersbild im Wandel der Zeit wird beleuchtet. Wir beschäftigen uns mit der Rolle des alten Menschen als Patient und fragen nach dem Zeitpunkt, zu dem Pflegebedürftigkeit eintritt. Leben, Leiden, Sterben und Tod sind Teil des pflegerischen Alltags, im Gegensatz zum «normalen» bzw. «alltäglichen» Leben, aus dem das Sterben, aber auch das Leiden möglichst weit hinausgedrängt werden. Auf die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die diese «Parallelwelt» für Pflegende schafft, gehen wir im Rahmen dieses Kapitels im Detail ein. Ein kurzer Exkurs widmet sich dem Pflegeberuf im gesellschaftlichen Kontext.
In Kapitel 5 wagen wir den Versuch, Umstände und Hintergründe, die für Gewaltdelikte in der Pflege ursächlich und verantwortlich sein können, zu definieren. Es werden sowohl jene Ursachen betrachtet, die sich innerhalb der Pflegebeziehung finden, als auch jene, die strukturelle Gegebenheiten betreffen. Ziel des Kapitels ist, die Vielfalt gewaltursächlicher Faktoren und deren mögliches, wechselseitiges Zusammenspiel bewusstzumachen.
Ansätze zur Gewaltprävention und gewaltvermindernde Ressourcen werden in Kapitel 6 vorgestellt. Eingegangen wird vor allem auf jene präventiven Maßnahmen, die mit den in Kapitel 5 dargelegten Ursachen für Gewalt in Verbindung stehen. Besonders von Bedeutung ist die Frage, auf welche Art und Weise Pflegende bei ihrer Arbeit unterstützt werden und welchen gewaltpräventiven Beitrag Institutionen, Führungskräfte und die Gesellschaft leisten können.
Was können wir gegen Gewalt in der Pflege tun? Welche Maßnahmen und Interventionen sind besonders notwendig, um Fälle von Gewaltanwendungen in der Pflege zu verhindern bzw. zu minimieren? In den Schlussbemerkungen formulieren wir Forderungen an die Politik und die Entscheidungsträger und weitere für uns wichtige Anliegen.
Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten und allfällige Schwierigkeiten sprachlicher Natur zu vermeiden, verwenden wird in diesem Buch meist nur die Sprachform des generischen Maskulinums. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll und dass selbstverständlich bei allen Ausführungen auch die weibliche Form mitgemeint ist.
Neben gewöhnlichen Anmerkungen, auf die mit hochgestellten Ziffern hingewiesen wird und die im Anhang zusammengefasst sind, finden sich im laufenden Text auch reine Quellenangaben. Diese sind durch Ziffern in eckigen Klammern gekennzeichnet und verweisen auf das Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Auf die genaue Seitenangabe aus der zitierten Quelle wurde verzichtet, sowohl bei indirekten als auch bei direkten Zitaten. Direkte Zitate werden im laufenden Text zusätzlich durch Anführungszeichen...