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Gewalt an Schulen

Pädagogische Antworten auf eine soziale Krise

AutorHeidrun Bründel, Klaus Hurrelmann
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783407224101
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Seit über 20 Jahren beschäftigt das Thema »Gewalt in der Schule« die öffentliche Diskussion. Die Massenmedien erwecken den Eindruck, als nähmen Gewalt und Aggressionen in den Schulen ständig zu. Was aber hat sich wirklich verändert, und wie ist diesen Veränderungen zu begegnen? Klaus Hurrelmann und Heidrun Bründel ziehen kritisch Bilanz - und schlagen eine Fülle von präventiven Maßnahmen vor. Immer mehr psychisch und sozial unsichere und irritierte Schülerinnen und Schüler kommen in die Schule. Sie stammen häufig aus haltlosen und unstrukturierten Familienbeziehungen, aggressionsgeladenen Jugendgruppen und desolaten Vierteln. In ihrer Freizeit konsumieren sie gewalthaltige Medienangebote bis zum Überdruss. Entsprechend »importieren« sie viele Aggressionsimpulse in den schulischen Raum. Andererseits hat sich die Schule in vielen Studien als eine besonders geeignete Institution für die vorbeugende Bekämpfung von Gewalt erwiesen. Deswegen zeigt dieses Buch nicht nur, wo Gewalt herkommt und wie die Schule ihr unmittelbar begegnen kann. Im Mittelpunkt stehen präventive Ansätze wie der gezielte Aufbau sozialer Kompetenz, die Stärkung von Eigenverantwortung von Schülerinnen und Schülern und die enge Zusammenarbeit von Schule und Elternschaft.

Prof. Dr. Klaus Hurrelmann gehört zu den bekanntesten Kindheits- und Jugendforschern in Deutschland. Er ist seit 2009 Senior Professor an der Hertie School of Governance in Berlin. Zuvor war er Professor an der Fakultät für Pädagogik in Bielefeld. Er leitete von 1986 bis 1998 das Kooperationszentrum »Health Behavior in School Children« der WHO. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Sozialisation, Bildung und Gesundheit von Kindern in Familien und Schulen. Dr. Heidrun Bründel ist Dipl.-Psychologin. Sie war als Lehrerin in Schulen, in einer Kinderklinik und fast 30 Jahre in einer schulpsychologischen Beratungsstelle tätig und hatte in dieser Zeit mehrere Lehraufträge an der Universität Bielefeld. Heute arbeitet sie freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung von Psychologen, Schulleitern und Lehrkräften.

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Leseprobe

Erscheinungsformen und Ausprägungen von Gewalt


Aggression, die sich gegen ein Objekt, also entweder ein Lebewesen oder eine Sache richtet, wird im öffentlichen Sprachgebrauch und zunehmend auch in der wissenschaftlichen |12|Forschung als »Gewalt« bezeichnet. Deutlicher als der Begriff Aggression bezeichnet der Begriff Gewalt den Sachverhalt einer auf ein Objekt gerichteten schädigenden Handlung. Wohl aus diesem Grunde hat er sich in den letzten Jahren immer stärker durchgesetzt, obwohl er sprachlich nicht ganz eindeutig zu fassen ist.

Der Begriff der »Gewalt« ist in der deutschen Sprache doppelbödig (Imbusch 2002, 29). Er enthält die Komponenten sowohl der direkten persönlichen Gewalt (lateinisch violentia) als auch der legitimen institutionellen Gewalt (lateinisch potentia). Im angelsächsischen Sprachraum lässt sich mit »violence« und »power« diese Unterscheidung deutlich zum Ausdruck bringen. Im Deutschen aber bleibt die Doppelbedeutung ein und desselben Begriffs bestehen, einmal Gewalt als Bezeichnung für einen einmaligen physischen Akt, bei dem ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke oder psychisch-verbaler Abwertung zufügt, zum anderen Gewalt als Bezeichnung für öffentliche Macht, mittels derer bestimmte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt werden.

Im ersten »Internationalen Handbuch der Gewaltforschung« haben Heitmeyer und Hagan (2002) auf die Schwierigkeit hingewiesen, einen für den wissenschaftlichen Gebrauch geeigneten Gewaltbegriff zu definieren. Neben der erwähnten Doppelbedeutung verweisen sie auf die sich im historischen Verlauf schnell und stark verändernden Vorstellungen von der Akzeptanz und Legitimität von Aggression und Gewalt, die eine genaue und dauerhafte Festlegung dieser beiden Begriffe fast unmöglich machen. Im Zeitverlauf verschieben sich die Vorstellungen davon, welche Ausprägungen von Aggression und Gewalt als kulturell akzeptabel oder sogar produktiv gelten und von welcher Ausprägung und Schwelle ab sie als illegitim und zerstörerisch wahrgenommen |13|werden. Mit der Veränderung von moralischen, rechtlichen, politischen, erzieherischen und sexuellen Normen und Werten wandeln sich auch die Grenzbeziehungen und Festlegungen. »Neue Grenzmarkierungen von Gewalt stellen sich beispielsweise aufgrund einer höheren Sensibilität (Vergewaltigung in der Ehe) oder eines veränderten Wahrnehmungsmusters (Sitzblockade) ein. Gerade weil der Problembereich der Gewalt in besonderem Maße uneindeutig ist, ist eine erhöhte Sensibilität und Reflexibilität geboten« (Heitmeyer und Hagan 2002, 16).

Historische Veränderungen von Gewaltprofilen

Die systematische Aufbereitung der bisherigen Gewaltforschung durch die beiden Herausgeber verweist auf ein insgesamt sehr hohes Ausmaß von individueller, kollektiver und staatlicher Gewalt im 20. Jahrhundert. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse waren in den letzten hundert Jahren – wie wahrscheinlich in den Jahrhunderten davor auch – mit äußerst inhumanen und destruktiven Begleiterscheinungen verbunden. Obwohl mit dem staatlichen Gewaltmonopol ein Instrumentarium zur Bewältigung gewalthaltiger Spannungen in modernen Gesellschaften vorhanden ist, wird die »Potentia« von vielen Regierungen dieser Welt immer wieder auch zur Unterdrückung unbequemer Bevölkerungsgruppen eingesetzt. Obwohl alle Menschen Sehnsucht nach unverletzter Integrität haben, kommt es auch im 21. Jahrhundert zu verheerenden und destruktiven Ausprägungen von körperlicher und psychischer Gewalt im zwischenmenschlichen Zusammenleben.

Zusammenfassend stellen die beiden Herausgeber fest: »Die Hoffnung einer ganzen Reihe von Kultur- und Zivilisationstheoretikern|14|, dass sich die Menschheit in einem permanenten Zivilisationsprozess befindet, an dessen vorläufigem Ende eine gewaltfreie Moderne steht, hat sich als ein Traum herausgestellt. Die Vorstellung, Gewalt sei in vormodernen Gesellschaften stärker verbreitet gewesen, in fremden Gesellschaften viel häufiger anzutreffen, nur in modernen Gesellschaften lediglich noch eine Ausnahmeerscheinung, scheint ein Mythos mit beträchtlichen Fehlwahrnehmungen zu sein« (Heitmeyer und Hagan 2002, 20). Von einer besseren oder überlegenen moralischen Grundausstattung der Gattung Mensch in den heutigen hoch entwickelten Gesellschaften kann also demnach nicht die Rede sein.

Diese Bestandsaufnahme gilt nicht nur im Blick auf die Gesamtgesellschaft, sondern auch auf ihre Teilsysteme. Sie kann in vollem Ausmaß auf das gesellschaftliche Teilsystem »Bildung« und die hierin vorherrschende Organisationsform »Schule« übertragen werden. Trotz aller kulturellen Errungenschaften, die mit dem Fortschritt pädagogischer Umgangsformen einhergehen, ist es zweifelhaft, ob in den heutigen Schulen in der Gesamtbilanz aller Ausprägungsformen ein geringeres Ausmaß von Gewalt vorherrscht als etwa im deutschen Kaiserreich, in dem die körperliche Züchtigung von Schülerinnen und Schülern durch Lehrkräfte gesetzlich vorgeschrieben war. Auch heute herrschen in Schulen ungleiche Machtverhältnisse vor, die zu neuartigen Formen der strukturellen, indirekten Gewalt führen, die in das gesellschaftliche Teilsystem Schule gewissermaßen eingebaut sind. Dazu gehört die hohe Macht der Lehrkräfte zur Definition des erreichten Leistungsstandes von Schülerinnen und Schülern, die über den gesamten weiteren beruflichen Lebenslauf der Jugendlichen entscheiden kann. Hieraus hat sich gewissermaßen eine neue historische Form des »Züchtigungsrechtes« der Lehrkräfte entwickelt, die zwar nicht mit körperlicher |15|Gewalt verbunden ist, aber auf ihre Weise ebenfalls starke Schädigungen und Verletzungen bei Schülerinnen und Schülern nach sich ziehen kann sowie als Folge davon gewalttätige Handlungen gegen Lehrkräfte und sogar Gewaltexzesse in Form von Amokläufen (Füllgrabe 2000; 2004).

Neue Ausprägungen von Aggression und Gewalt

Auf der direkten interaktiven Ebene sind auch in den Schulen des 21. Jahrhunderts Ausprägungen von physischer, körperlicher Gewalt weiterhin stark verbreitet, obwohl sie möglicherweise gegenüber früheren historischen Epochen im Umfang zurückgegangen sind. Daneben haben sich neue Formen von psychischer und verbaler Gewalt etabliert (»Mobbing«, »Bullying«), die bei den Opfern möglicherweise stärkere Verletzungen und Demütigungen zur Folge haben als körperliche Übergriffe (Dambach 2002). In Anlehnung an das Resümee der allgemeinen Gewaltforschung lässt sich deswegen auch sagen: Die Hoffnung vieler Pädagogen und Erziehungstheoretiker, dass sich Bildungsprozesse in der Schule in einem permanenten Zivilisationsprozess befinden, an dessen Ende eine gewaltfreie Umgangsform zwischen Lehrerinnen und Lehrern auf der einen Seite und Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite und auch innerhalb der Schülerschaft und der Lehrerschaft besteht, hat sich als ein Traum herausgestellt. Vielmehr hat der historische Wandel von Bildungs- und Unterrichtsabläufen zu neuen Formen von Ausprägungen, Formen und Verläufen von Gewalt in Schulen geführt.

Sowohl für Lehrerinnen und Lehrer als auch für Schülerinnen und Schüler stellt Gewalt eine jederzeit verfügbare Ressource dar, die sich ihre spezifischen Profile und Wege sucht |16|und in einer frappierenden Weise den breiten menschlichen Einfallsreichtum widerspiegelt. Denken wir an solche Ausprägungen von Gewalt wie das Filmen von Übergriffen auf Mitschülerinnen und Mitschüler durch Mobilkameras, dann wird deutlich, wie stark die jeweiligen Ausprägungen von Aggression und Gewalt von der jeweils aktuellen technischen und medialen Entwicklung gespeist werden.

Gewalt ist also auch heute tief im Gewebe des sozialen Zusammenlebens in der ganzen Gesellschaft und deswegen auch in der Schule verankert. Sie stellt so etwas wie eine offenbar nicht völlig vermeidbare »chronische Sozialkrankheit« einer jeden Gesellschaft dar. Wie jede Krankheit hat auch Gewalt spezifische Ursachen, die analysiert und verstanden werden müssen, wenn Gewalt zurückgedrängt werden und im Idealfall eliminiert werden soll. Das Auftreten von Aggressionen unter Menschen ist immer schon in der menschlichen Geschichte ein Signal dafür gewesen, dass die sozialen Kontakte zwischen ihnen nicht in gegenseitiger Zufriedenheit ablaufen und Ungleichheit mit ungerechter Verteilung von Ressourcen vorherrscht. Genau an dieser Stelle können dann auch entsprechende Gegenstrategien ansetzen. Diese Überlegungen gelten ohne jede Einschränkung auch für Bildungs- und Schulsysteme.

Definitionen von Aggression und Gewalt

Für die weitere Argumentation verwenden wir die beiden Begriffe Aggression und Gewalt gleichberechtigt. Aggression ist der in der wissenschaftlichen Sprache üblichere Begriff und bezeichnet eine Handlung, die auf die Verletzung eines anderen Menschen zielt. Als Gewalt...

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