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»Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!« - Wie 1968 die Pädagogik bewegte

VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl279 Seiten
ISBN9783407223937
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die Themen Bildung und Schule entscheiden Wahlkämpfe und beherrschen die Schlagzeilen von heute. Was aber hat davon mit 1968 zu tun? Was ist von der Aufbruchstimmung übrig geblieben, was hat geschadet, aber vor allem: was hat genutzt? Namhafte Autorinnen und Autoren wie Ute Andresen, Micha Brumlik, Oskar Negt, aber auch die Stimmen der nachfolgenden Generation, Erziehungswissenschaftler, Lehrerinnen und Sozialpädagogen, blicken zurück auf die Kinderläden, die Sexualerziehung, auf Schule, Hochschule und Jugendarbeit, auf die Debatten um Autorität und Familie. Sie fragen, was damals neu war, was davon geblieben ist und ob die 68er-Bewegung die Bildungslandschaft wirklich nachhaltig verändert hat. Die AutorInnen: Ute Andresen, München Johannes Bilstein, Essen Micha Brumlik, Frankfurt Peter Cloos, Hildesheim Carola Groppe, Hamburg Oskar Negt, Hannover Tatjana Freytag, Hildesheim Frodo Ostkämper, Hildesheim Christa Sager, Hildesheim Pia Schmid, Halle-Wittenberg Wolfgang Schröer, Hildesheim

Meike Sophia Baader ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim. Zahlreiche Buchpublikationen, u. a. zur romantischen Idee des Kindes und der Kindheit (1996), zu den religiösen Dimensionen von Reformpädagogik (2005) und, zusammen mit Sabine Andresen, zu Ellen Key (1996). Johannes Bilstein, Prof. Dr. phil., ist Professor für Pädagogik an der Kunstakademie Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Pädagogische Anthropologie, Ästhetische Bildung und Bildungsgeschichte. Lothar Böhnisch, Dr. rer. soc. habil., war bis 2009 Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden, und lehrte Soziologie an der Freien Universität Bozen/Bolzano. Prof. Dr. Micha Brumlik lehrte nach Assistenzjahren in Göttingen, Hamburg und Mainz Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Ruprechts-Karl-Universität Heidelberg. Seit dem Jahr 2000 lehrt er Allgemeine Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt 'Theorien der Bildung und Erziehung' an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, wo er in den Jahren 2000 bis 2005 zugleich Direktor des 'Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocausts und seiner Wirkung' war. Zahlreiche Buchveröffentlichung, im Beltz Verlag u. a. 'Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts' (2004) und als Herausgeber 'Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb' (2007). Peter Cloos, Dr. phil., ist Professor für die Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität Hildesheim, Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Institut für Erziehungswissenschaft. Wolfgang Schröer, Dr. phil., Jg. 1967, ist Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim.

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Leseprobe
"Traditionen/Innovationen (S. 159-160)

Micha Brumlik

»Autorität« und »Antiautoritarismus«


1. Der »Antiautoritarismus« der Autoritären

Begriff, Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung waren seit ihrem Entstehen konservativen bis reaktionären Einwänden ausgesetzt – etwa durch die Thesen des Bonner Forums »Mut zur Erziehung« aus dem Jahr 1978 (Bausch u. a. 1978; dazu kritisch Benner u. a. 1983). Die damals gestellten und diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von Pädagogik, Autorität und Disziplin sollten freilich mit den Bonner Thesen und den auf sie folgenden Erwiderungen keineswegs ein für allemal erledigt sein, sondern dreißig Jahre später noch einmal aufbrechen – zuletzt anhand der Debatte um Bernhard Buebs Pamphlet »Lob der Disziplin« (2006).

Nicht zuletzt dieses Pamphlets wegen hat sich auch die wissenschaftliche Pädagogik des Themas zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder grundsätzlich angenommen und es in ihren Zeitschriften gründlich erörtert (Sünker 2007; Claußen 2007). So ist etwa im Rückgriff auf die von Bueb reklamierte reformpädagogische Tradition, unter Bezug auf Siegfried Bernfeld und Janusz Korczak der Nachweis gelungen, dass Buebs Begriff der Disziplin in äußerster, undifferenzierter Schlichtheit letztlich nur das umfasst, was man als »militärische Disziplin« bezeichnen könnte: unhinterfragter Gehorsam gegenüber präzise umrissenen Befehlen (Wyrobnik 2007).

Weitere Autoren nahmen sich der Thematik sogar in ganz anderen, systemischen Begrifflichkeiten kritisch an (Arnold 2007). Wenn es endlich noch eines empirischen Beweises für die innere Widersprüchlichkeit des »Lobs der Disziplin« bedurft hätte, so hat der demagogische und ausländerfeindliche Wahlkampf der hessischen CDU diesen Beweis wider Willen erbracht. Tatsächlich hat nämlich die Debatte um die Gewaltdelinquenz junger Leute mit sogenanntem »Migrationshintergrund« vor allem zu Tage gebracht, dass deren familiale Erziehungsstile vielfach durch genau das geprägt sind, was man als autoritäre Erziehungsstile bezeichnen kann: das beinharte Beharren vor allem traditionalistischer Väter auf gegebene Anordnungen. Paradoxerweise hat die Demagogie dieses Wahlkampfes so das bestärkt und befördert, was doch angeblich so kritikwürdig ist: partnerschaftliche Erziehung!

So erweist sich die nicht nur von Bueb noch einmal vorgetragene Kritik an den »68ern« – jedenfalls in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht – als gegenstandslos. Freilich erschienen 2008 – im Rückblick von vierzig Jahren – vielfältige Untersuchungen und Reflexionen, die die politische Programmatik der meist männlichen Führungskader vor allem des SDS und seiner späteren Spaltprodukte – von der RAF bis zu maoistischen Operettenparteien – zu Recht totalitären Denkens sowie einer machistischen Gewaltkultur zeihen (Aly 2008; Schneider 2008; Koenen 2003; Koenen 2001).

Es kommt indes einer unwissenschaftlichen Blickverengung gleich, die sozialen Bewegungen der Jahre 1967–1969 alle auf diesen wenn auch durchaus auffälligsten und von den Medien meistbeachteten Ausschnitt zu reduzieren. Tatsächlich waren die Kinderladenbewegung und die antiautoritäre Erziehung bei allen gar nicht zu leugnenden anfänglichen Schwierigkeiten die institutionellen Kerne einer modernen, partnerschaftlichen Erziehung und zumal ihnen lässt sich nicht nachweisen, dass sie entweder totalitär waren oder unoriginell an bereits im konventionellen Erziehungswesen vorhandene Liberalisierungen anschlossen. Gleichwohl hat sich in systematischer Hinsicht – sowohl in den Arenen der Öffentlichkeit als auch innerhalb der wissenschaftlichen Debatte – gezeigt, dass das jahrelang eher vernachlässigte Problem der »Autorität« in der Erziehung
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis6
Vorwort: Erziehung und Bildung: übersehene Dimensionen in der 68er-Retrospektive8
Frühe Kindheit/Kinderläden16
Meike Sophia Baader Von der sozialistischen Erziehung bis zum buddhistischen Om. Kinderläden zwischen Gegen- und Elitekulturen17
Pia Schmid Wie die antiautoritäre Erziehung für einige Jahre in städtische Kindertagesstätten gelangte. Das Frankfurter Modellprojekt Kita 3000, 1972–197837
Christin Sager Das Ende der kindlichen Unschuld. Die Sexualerziehung der 68er-Bewegung57
Peter Cloos Die Neu-Entdeckung der frühen Kindheit?70
Schule/Hochschule90
Oskar Negt Schule als Erfahrungsprozess? Gesellschaftliche Aspekte des Glocksee-Projekts91
Carola Groppe »Die Universität gehört uns«. Veränderte Lehr-, Lern- und Handlungsformen an der Universität in der 68er-Bewegung122
Generationen-/Geschlechterverhältnisse142
Lothar Böhnisch & Wolfgang Schröer 1968 – Politische Generation – 1988 – Unpolitische Generation – 2008?143
Meike Sophia Baader Das Private ist politisch. Der Alltag der Geschlechter, die Lebensformen und die Kinderfrage154
Tatjana Freytag Väterliche Autoritäten und vaterlose Gesellschaft?174
Traditionen/Innovationen184
Micha Brumlik »Autorität« und »Antiautoritarismus«185
Johannes Bilstein Die Wieder-Entdeckung der Psychoanalyse213
Frodo Ostkämper »Wenn Ihr Interesse für Erziehung mehr ist als eine Eintagsfliege …« Zum Zusammenspiel von antiautoritärer Erziehung und Bildungsreform im Spiegel der Zeitschrift betrifft: erziehung228
Olga Remisch »Die Wirklichkeit der Kinder«. Eine Kontroverse um das Politische im Kinderbuch241
Anhang260
Literatur261
Die Autorinnen und Autoren278

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