2. Wie Kommunikation Einfühlungsvermögen blockiert
„Verurteile nicht, und du wirst nicht verurteilt werden. Denn wenn du andere verurteilst, so wirst du selbst verurteilt werden ...“
Matthäus 7.1
Bestimmte Arten der Kommunikation entfremden uns von unserer natürlichen, einfühlsamen Natur.
Bei meinem Studium der Frage, was uns von unserer einfühlenden Natur entfremdet, habe ich spezifische Formen der Sprache und der Kommunikation identifiziert, von denen ich glaube, dass sie zu unserem gewalttätigen Verhalten uns selbst und anderen gegenüber beitragen. Mit dem Begriff „lebensentfremdende Kommunikation“ meine ich diese Kommunikationsformen.
2.1 Moralische Urteile
Eine Variante lebensentfremdender Kommunikation sind moralische Urteile, die anderen Leuten unterstellen, dass sie unrecht haben oder schlecht sind, wenn sie sich nicht unseren Wünschen gemäß verhalten. Beispiele für solche Urteile sind etwa: „Dein Problem ist, dass du zu selbstsüchtig bist“; „Sie ist faul“; „Die haben Vorurteile“; „Es ist unangemessen“. Schuldzuweisungen, Beleidigungen, Niedermachen, in Schubladen stecken, Kritik, Vergleiche und Diagnosen sind alles Formen von Verurteilungen.
In der Welt der Urteile drehen sich unsere Gedanken um die Frage: „Wer ist was?“
Der Sufi-Poet Rumi schrieb einst: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“ Lebensentfremdende Kommunikation jedoch lockt uns in die Falle einer Welt von Annahmen darüber, was richtig und was falsch ist – einer Welt der Urteile. Dazu gehört eine Sprache, reich an Worten, die Handlungen abstempeln und bewertend voneinander trennen. Wenn wir diese Sprache sprechen, verurteilen wir andere und ihr Verhalten, während wir damit beschäftigt sind, wer gut oder böse ist, normal, unnormal, verantwortlich, unverantwortlich, gescheit, dumm usw.
Analysen von anderen Menschen sind in Wirklichkeit Ausdruck unserer eigenen Bedürfnisse und Werte.
Lange bevor ich erwachsen wurde, lernte ich, in einer unpersönlichen Art zu kommunizieren: Es war nicht nötig, anderen das zu zeigen, was in mir vorging. Wenn mir Menschen begegneten, deren Verhalten ich entweder nicht mochte oder nicht verstand, dann reagierte ich darauf, indem ich ihr Fehlverhalten definierte. Wenn meine Lehrer mir eine Aufgabe zuwiesen, die ich nicht tun wollte, waren sie „gemein“ oder „unvernünftig“. Wenn jemand im Verkehr direkt vor mir ausscherte, war meine Reaktion: „Du Idiot!“ Wenn wir diese Sprache sprechen, dann kommunizieren wir in Kategorien von „was mit den anderen nicht stimmt, wenn sie sich so und so verhalten“, oder auch gelegentlich „was mit uns selbst nicht stimmt, wenn wir etwas nicht verstehen oder nicht so reagieren, wie wir es gerne tun würden“. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich eher darauf, zuzuordnen, zu analysieren und Ebenen des Fehlverhaltens zu identifizieren, als auf das, was wir und andere brauchen und nicht bekommen. So ist dann auch meine Partnerin „bedürftig und abhängig“, wenn sie mehr Zärtlichkeit möchte, als ich ihr gebe. Aber wenn ich mehr Zärtlichkeit möchte, als sie mir gibt, dann ist sie „unnahbar und unsensibel“. Wenn sich mein Kollege mehr Gedanken über Details macht als ich, ist er „pingelig und zwanghaft“. Andererseits, mache ich mir mehr Gedanken über die Details als er, ist er „schlampig und schlecht organisiert“.
Es ist meine Überzeugung, dass diese ganzen Analysen des Verhaltens anderer Menschen tragischer Ausdruck unserer eigenen Werte und Bedürfnisse sind. Tragisch aus folgendem Grund: Wenn wir unsere Werte und Bedürfnisse auf diese Weise ausdrücken, erzeugen wir genau bei den Menschen Abwehr und Widerstand, an deren Verhalten uns etwas liegt. Oder: Wenn sie wirklich damit einverstanden sind, sich in Übereinstimmung mit unseren Werten zu verhalten, weil sie unserer Analyse ihres Fehlverhaltens zustimmen, werden sie es sehr wahrscheinlich aus Angst, Schuldgefühl oder Scham tun.
Wir bezahlen alle teuer dafür, wenn Menschen aus Angst, Schuldgefühl oder Scham auf unsere Werte und Bedürfnisse eingehen und nicht aus dem Wunsch heraus, von Herzen zu geben. Früher oder später werden wir die Konsequenzen nachlassenden Wohlwollens von denen zu spüren bekommen, die aus einem Gefühl äußerer oder innerer Nötigung heraus unsere Wünsche erfüllt haben. Sie selbst bezahlen ebenfalls emotional, denn wenn sie etwas mitmachen aus Angst, Schuldgefühl oder Scham, werden sie höchstwahrscheinlich Widerwillen empfinden und einen Teil ihres Selbstbewusstseins einbüßen. Dazu kommt noch, dass jedes Mal, wenn andere uns in ihrer Vorstellungswelt mit diesen Gefühlen zusammenbringen, die Wahrscheinlichkeit abnimmt, dass sie in Zukunft auf unsere Werte und Bedürfnisse einfühlsam eingehen werden.
Es kommt hier darauf an, Werturteile nicht mit moralischen Urteilen zu verwechseln. Wir treffen alle Werturteile im Einklang mit den Eigenschaften, die uns im Leben wichtig sind; wir können z. B. Wert legen auf Ehrlichkeit, Freiheit oder Frieden. Werturteile reflektieren unsere Überzeugung davon, wie das Leben am besten zu seiner vollen Entfaltung kommen kann. Moralische Urteile über andere Menschen und ihr Verhalten geben wir dann ab, wenn sie unsere Werturteile nicht mittragen. Wir sagen dann z. B.: „Gewalt ist schlecht. Menschen, die andere töten, sind böse.“ Wären wir mit einer Sprache aufgewachsen, die den Ausdruck von Einfühlungsvermögen unterstützt, dann hätten wir gelernt, unsere Bedürfnisse und Werte direkt zu benennen, statt auf das Fehlverhalten eines anderen Menschen anzuspielen, wenn sie nicht erfüllt werden. Wir können z. B. statt „Gewalt ist schlecht“ sagen: „Es macht mir Angst, Gewalt einzusetzen, um Konflikte zu lösen; mir ist es wichtig, dass zwischenmenschliche Konflikte mit anderen Mitteln gelöst werden.“
Die Beziehung zwischen Sprache und Gewalt ist das Thema der Forschungsarbeit von Psychologieprofessor O. J. Harvey an der Universität von Colorado. Er hat beliebige Textpassagen aus der Literatur verschiedener Länder ausgewählt und darin die Häufigkeit von Wörtern bestimmt, mit denen andere Menschen abgestempelt und verurteilt werden. Seine Studie weist einen starken Zusammenhang zwischen dem häufigen Gebrauch solcher Wörter und gewalttätigen Vorfällen auf. Es überrascht mich nicht zu hören, dass es deutlich weniger Gewalt in Gesellschaften gibt, in denen die Menschen in Begriffen von menschlichen Bedürfnissen denken, im Gegensatz zu Gesellschaftsformen, in denen die Menschen einander als „gut“ oder „schlecht“ bezeichnen und daran glauben, dass es die „Schlechten“ verdienen, bestraft zu werden. In 75 Prozent des amerikanischen Fernsehprogramms, das zu einer Zeit ausgestrahlt wird, wenn die meisten Kinder zusehen, bringt der Held entweder jemanden um oder schlägt Leute zusammen. Typischerweise bildet die Gewalt den „Höhepunkt“ der Sendung. Zuschauer, denen beigebracht wurde, dass es die Bösen verdienen, bestraft zu werden, sehen sich solche Gewaltsendungen mit Genugtuung an.
Menschen in Schubladen zu stecken und zu verurteilen fördert die Anwendung von Gewalt.
Hinter vieler, wenn nicht aller Gewalt – ob verbal, psychologisch oder physisch, ob unter Familienangehörigen, Stämmen oder Nationen – steht eine Art des Denkens, die die Ursache eines Konflikts dem Fehlverhalten des Gegners zuschreibt. Dazu gehört auch eine Unfähigkeit, über sich selbst oder andere in Worten von Verletzlichkeit zu denken – was jemand vielleicht fühlt, befürchtet, ersehnt, vermisst usw. Diese gefährliche Art des Denkens zeigte sich während des Kalten Krieges. Unsere amerikanischen Machtinhaber sahen Russland als ein „Reich des Bösen“ an, besessen davon, den American Way of Life zu zerstören. Die russischen Machtinhaber sprachen vom amerikanischen Volk als „imperialistischen Unterdrückern“, die versuchten, sie zu unterjochen. Keine Seite nahm die Angst wahr, die sich hinter solchen Etiketten versteckt.
2.2 Vergleiche anstellen
Vergleiche sind eine Form von Verurteilung.
Eine andere Form von Verurteilung ist das Anstellen von Vergleichen. In seinem Buch How to Make Yourself Miserable (dt.: Die Kunst, sich schlecht zu fühlen) demonstriert Dan Greenberg mittels Humor die heimtückische Macht, die das Denken in Vergleichen auf uns ausüben kann. Er schlägt vor, dass die Leser, die den ernsthaften Wunsch haben, sich ihr Leben zu vermiesen, lernen sollen, sich mit anderen zu vergleichen. Für diejenigen, die mit dieser Praxis noch nicht so vertraut sind, hält er ein paar Übungen bereit. In der ersten werden Ganzkörperbilder von einem Mann und einer Frau gezeigt, die die aktuellen körperlichen Schönheitsideale in den Medien verkörpern. Die Leser werden angewiesen, ihre eigenen Körpermaße zu nehmen, sie mit denen der attraktiven Menschen auf den Bildern zu vergleichen und sich dann in die Unterschiede zu vertiefen.
Diese Übung hält, was sie verspricht: Sobald wir uns mit den Vergleichen beschäftigen, fangen wir an, uns mies zu fühlen. Wenn wir dann so deprimiert wie nur möglich sind, blättern wir eine Seite weiter und entdecken, dass die erste Übung lediglich zum Aufwärmen gedacht war. Da körperliche Schönheit relativ oberflächlich ist, gibt uns Greenberg jetzt die Gelegenheit, uns auf einer Ebene zu messen, die zählt: Leistung. Er nimmt das Telefonbuch zu Hilfe, um seinen Lesern einige beliebig ausgesuchte Vergleichspersonen vorzustellen. Der Erste, von dem er behauptet, ihn aus dem Telefonbuch zu haben, ist Wolfgang Amadeus Mozart. Greenberg führt alle Sprachen...