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Gewaltfreie Pflege

Praxishandbuch zum Umgang mit aggressiven und potenziell gewalttätigen Patienten

AutorGernot Walter, Johannes Nau, Nico E. Oud
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783456758664
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Pflege-, Sozial- und Gesundheitsberufe sehen sich zunehmend an vielen Stellen des Gesundheitswesens mit aggressiven und potenziell gewalttätigen Patienten konfrontiert. Sie müssen daher nach Möglichkeiten suchen, um Aggressionen vorzubeugen, aggressive Ausbrüche zu verhindern und im Fall von Gewalttätigkeit Schaden von sich und anderen abwenden. Dazu liefert das Praxishandbuch wissenschaftlich fundierte Grundlagen sowie kurz gefasste und leicht lesbare Assessments, Tools und Techniken. Aus dem InhaltEinführungBegriffserklärungenOrte der Gewalterfahrung und ihre HäufigkeitGewalterlebnisse von PflegendenGewalterlebnisse von Angehörigen und PflegebedürftigenTheorien und Modelle der AggressionsentstehungEskalationsprävention und DeeskalationsstrategienHilfen für BetroffeneZusammenfassung

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Leseprobe

4
Gewalterlebnisse von Pflegenden


4.1
Arten von Aggressionsereignissen


Bisher ist nur angeklungen, welcher Art die Aggressionsereignisse sind. Hier soll nun ein Ordnungsschema angeboten werden.

Aggressionsereignisse lassen sich anhand ihrer Wirkung und der direkten oder indirekten Ausübung in psychische oder physische Ereignisse kategorisieren (Tab. 4-1).

Die linke Spalte zeigt die physischen Übergriffe. An diese wird häufig zuerst gedacht, wenn man auf das Thema „Aggression und Gewalt“ zu sprechen kommt: im Besonderen also Schlagen, Zwicken, Beißen, Stoßen. Dass Missachtung persönlicher Zonen auch dazu gehört, wird häufig erst beim zweiten Blick erkannt. Zum Beispiel mag es jemanden geben, der einen ständig am Oberarm anfasst, obgleich klargestellt ist, dass man diese Berührung nicht möchte. Sowie er diesen Wunsch nicht respektiert, agiert er übergriffig. Es spielt keine Rolle, dass diese Körperregion keiner Intimzone zugerechnet wird.

Die mittlere Spalte macht auf die psychischen Übergriffe aufmerksam. Das Beispiel „Dauerndes Schreien oder Rufen“ macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur darauf ankommt, wie etwas gemeint ist, sondern auch darauf, wie es erlebt wird (s.a. Kap. 2). So kann ein ständiges Hallo-Rufen eventuell vom Sender in keiner Weise als aggressive Handlung gemeint sein. Vielleicht könnte es für den Rufer die letzte noch existierende Verbindung in die Welt der Nichtdementen sein, dennoch können Pflegende in ein Erleben kommen, bei dem sie merken, dass die Nerven zu vibrieren beginnen und sie das Verhalten als aggressiv bezeichnen würden.

Besonders erwähnenswert ist die leise Aggression, da sie leicht übersehen werden kann. Beispiele werden in der rechten Spalte von Tabelle 4-1 angeführt. Sie wird von vielen Menschen als besonders schlimm erlebt, da sie das Selbstwertgefühl empfindlich nach unten ziehen. Eine giftige Wirkung entsteht, wenn zum Beispiel nicht mehr mit einem gesprochen wird, man wie Luft behandelt wird oder laufend signalisiert bekommt, dass man alles falsch macht, zu nichts taugt und wertlos ist. Das letzte Beispiel ist eher bei überforderten Angehörigen anzutreffen, die ohne hinreichende Anleitung in die Begleitung einer pflegebedürftigen Person geraten sind. Vielleicht mag ein Grund sein, dass immer noch die Maßstäbe einer gesunden Person angelegt werden. Dann sind gegen einen Menschen mit Parkinson-Krankheit Sätze zu hören, wie zum Beispiel: „Vater, schämst Du Dich nicht! Schau, wie es an Deinem Platz aussieht.“ Aber auch Unterlassungen können zur aggressiven Handlung werden, wenn dadurch Schaden ausgelöst wird, wie zum Beispiel beim Unterlassen von Umlagerungen oder fehlendem Wechseln von Inkontinenzhilfen.

4.2
Depressionsphase, akute und posttraumatische Belastungsstörungen


Unabhängig davon, ob es zu einer körperlichen Verletzung kam oder nicht, kann ein Aggressionsereignis beim Betroffenen psychische Nachwirkungen haben. Die Nachwirkungen sind ggf. nicht deutlich sichtbar, wirken aber nachhaltig zerstörender als das Verletzungsereignis an sich.

Buijssen (1997) hat verdeutlicht, dass Menschen sich grundsätzlich in unterschiedlichen Gemütszuständen befinden können: sehr glücklich sein, sich wohl fühlen, in normalem Gemütszustand sein, sich elend fühlen und sehr unglücklich sein. Ein als dramatisch erlebtes Ereignis (z.B. der Tod einer engen Bezugsperson) oder ein traumatisches Ereignis (z.B. Unfall) führen nach einer Betäubungsphase, in der Betroffene sagen, sie fühlten gerade nichts, steil nach unten, das heißt zu dem Gemütszustand sehr unglücklich sein. Entgegen der populären Erwartung, dass es einen linearen, kontinuierlichen aufwärtsführenden Erholungsprozess gibt, entwickelt sich ein Auf und Ab im Besserungsverlauf – ohne klare Prognose, wie lange die Verarbeitung andauert (Abb. 4-1) – ähnlich, wie man es ggf. von einer gescheiterten Partnerbeziehung kennt: Es ging einem ganz ordentlich, bis man zum Beispiel „jene Musik“ wieder hört, bei der man miteinander etwas Besonderes erlebt hatte. Eine vorwurfsvolle Reaktion der Umwelt, nach dem Motto: „Jetzt ist es doch schon xy Tage/Wochen/Monate her und sie hätte das ja inzwischen mal bewältigen können“, ist völlig unangebracht und dennoch im Alltag des menschlichen Zusammenlebens leider häufig anzutreffen.

Die insgesamt mildeste Reaktion eines betroffenen Menschen ist die Stresserholungssymptomatik, die als physiologische Reaktion auf Phasen höchster Erregtheit eintreten kann. Diese kann als Stresserholungsreaktion, etwa bei einem gerade noch verhinderten Unfall auftreten (z.B. weiche Knie, Erschöpfungsgefühl) und hat zunächst noch nichts damit zu tun, was einem physisch oder psychisch widerfahren ist.

Die stärkere unmittelbare Reaktion wird in Form einer Krankheitsdiagnose als akute Belastungsstörung beschrieben und in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD) aufgeführt (s. folgende Kästen).

Abbildung 4-1: Verlauf der Verarbeitung eines erschütternden Ereignisses (Quelle: Buijssen, 1997, S. 12)

Akute Belastungsstörung nach ICD-10-GM Version 2016, F43.0

Eine vorübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt, und die im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt. Die individuelle Vulnerabilität und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Coping-Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad der akuten Belastungsreaktionen eine Rolle. Die Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild, beginnend mit einer Art von „Betäubung“, mit einer gewissen Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten und Desorientiertheit. Diesem Zustand kann ein weiteres Sich-Zurückziehen aus der Umweltsituation folgen (bis hin zu dissoziativem Stupor, siehe F44.2) oder aber ein Unruhezustand und Überaktivität (wie Fluchtreaktion oder Fugue). Vegetative Zeichen panischer Angst, wie Tachykardie, Schwitzen und Erröten, treten zumeist auf. Die Symptome erscheinen im Allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und gehen innerhalb von 2 oder 3 Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie (s. F44.0) bezüglich dieser Episode kann vorkommen.

Eine noch stärkere Reaktion charakterisiert eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD.

Posttraumatische Belastungsstörung (Post-Traumatic Stress Disorder, PTSD) nach ICD-10-GM Version 2016, F43.1

Eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.

Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden.

Bisher konnte keine lineare Beziehung zwischen der Stärke des Ereignisses und der Stärke des Effekts beim Betroffenen festgestellt werden. Aufzuführen ist, dass …

  • … ein schwerer Körperschaden zunächst zu einer größeren posttraumatischen Belastung führt
  • … ein Ereignis ohne Körperschaden zu einer größeren Belastung führen kann, als Erlebnisse mit geringem Körperschaden (Richter, 2007).

Dies ist besonders erwähnenswert, da in pflegerischen und medizinischen Teams sowie in arbeitsmedizinischen Untersuchungen bisher hauptsächlich Körperschäden Beachtung erhalten und dokumentiert werden.

Unstrittig ist, dass jeder betroffene Mensch anders reagiert – auch in Abhängigkeit zur erlebten Aggression. Der Verlauf der Verarbeitung von Aggressionserfahrungen wird nämlich von mehreren Determinanten beeinflusst (s. Kasten).

Faktoren mit Einfluss auf den Verarbeitungsverlauf

  • Persönlichkeitsfaktoren
  • Frühere Erfahrungen und psychische Reaktionen auf Stressereignisse
  • Schwere des Ereignisses
  • Unkontrollierbarkeit und Unvorhersagbarkeit
  • Subjektiv erlebte Traumatisierung
  • Soziale Umweltbedingungen (v.a. die wahrgenommene soziale Unterstützung) (Richter,...
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