Axel T. Paul
Masse und Gewalt
»Wenn wir in den Sümpfen Tutsi aufspürten, sahen wir in ihnen keine Menschen mehr. Sie waren nicht mehr unsere Ebenbilder […]. Es war eine wilde Jagd, die Jäger waren wild, Wild auch die Gejagten: Die Wildheit bemächtigte sich unserer Köpfe. Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden. Diese Wahrheit mag jemand, der sie nicht mit all seinen Muskelfasern erlebt hat, nicht glauben wollen. Unser Alltag war ein Leben der anderen Art, es war von Blut gezeichnet, und das kam uns durchaus zupass.«1 Mit diesen Worten beschreibt Pio Mutungirehe dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld gegenüber sein Tun und Erleben während des ruandischen Völkermords.
Mutungirehe hatte sich 1994 als Mitglied einer Clique von größtenteils jungen Männern in der Gemeinde Nyamata am kollektiven Morden beteiligt. Er war, wie die meisten seiner Freunde aus der Clique, ja wie die Mehrzahl der Täter überhaupt, Bauer und seinerzeit 20 Jahre alt. Für seine Taten, zu denen er sich zum Zeitpunkt der Hatzfeld-Interviews bereits bekannt hatte, wurde er im Zuge der sogenannten Gacaca-Verfahren, einer laiengerichtlichen Aufarbeitung des Genozids,2 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. 2003 erfolgte die vorzeitige Freilassung. Auch die übrigen Bandenmitglieder hatten gestanden, waren verurteilt worden und lebten im Jahre 2003, als die französische Originalausgabe von Hatzfelds Buch erschien, mit einer Ausnahme wieder in Freiheit.
Juristisch konnte Mutungirehe und seinen Freunden aus den Gesprächen mit Hatzfeld kein Schaden mehr erwachsen. Dennoch könnte man mutmaßen, dass er sich durch seine passivische Formulierung, von bestialischer Wildheit ergriffen worden zu sein, von moralischer Schuld freisprechen wolle, so als habe es keine Möglichkeit gegeben, sich dem Morden zu verweigern. Tatsächlich haben sich Einzelne auch in Ruanda sehr wohl dem Mittun entziehen und sogar Widerstand gegen die Ermordung ihrer ethnisch »anderen« Mitbürger leisten können; auch haben längst nicht alle, die am Morden beteiligt waren, mit Begeisterung gemordet;3 und doch gibt es nicht nur bei Hatzfeld, sondern in etlichen Quellen kaum missverständliche Belege dafür, dass manche Täter sich zeitweise in einer Art Blutrausch befanden und dass dieser Blutrausch Teil einer kollektiv geteilten Erfahrung war.4 Pio Mutungihere sagt: »Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden.« Und sein Freund Joseph-Désiré Bitero ergänzt: »Das war ein Wahnsinn, der seinen Lauf nahm, und den keiner mehr lenkte. […] Du warst in der Menge dabei.«5
Über ähnliche Erfahrungen in einem ganz anderen Kontext berichtet der Literaturkritiker Bill Buford, der in den 1980er Jahren beschließt, in die ihm unbekannte Welt der englischen Hooligans einzutauchen, gerade weil sie ihm so rätselhaft erscheint. Er begleitet die nicht nur gewaltbereiten, sondern gewaltsuchenden Fans – keineswegs nur oder auch nur vornehmlich Angehörige der Unterschichten – in die Stadien, auf ihren Reisen, auf ihren Sauftouren und auf ihren Märschen durch die Städte gegnerischer Mannschaften. Fußball ist im Grunde nur der an sich kontingente Anlass, der Kalender, der dazu dient, die eigentlich gesuchte Randale zu synchronisieren. Buford steht dieser (Männer-)Welt des Alkohols, des Grölens, der Kameradschaft und der Gewalt zunächst befremdet, wenn nicht angeekelt gegenüber, gewöhnt sich mit der Zeit jedoch an ihre Rituale, freundet sich mit den Fans an und kann sich schließlich auch der Faszination der kollektiv verübten und erlittenen Gewalt nicht entziehen.
Die zwar bewusst inszenierten, in ihrem Verlauf und Ausgang freilich unkalkulierbaren Straßenschlachten zwischen den Hooligans, in denen nicht nur Scheiben zu Bruch und Autos in Flammen aufgehen, sondern Menschen schwerstens verletzt werden, offenbaren ihm, inneren kognitiven und moralischen Widerständen zum Trotz, einen vordem ungekannten Zustand der Glückseligkeit: »Sich in einer Masse befinden. Und – noch stärker – sich in einer Masse befinden, die einen Gewaltakt begeht. Was wir dort finden, ist das Nichts. Das Nichts in seiner Schönheit, seiner Schlichtheit, in seiner leeren Reinheit.« Zwar beteiligt Buford sich nicht aktiv an der Gewalt – zumindest erfährt der Leser davon nichts –, »schon« das bloße Bezeugen eines Gewaltexzesses jedoch schildert er als Transzendenzerfahrung mit Suchtpotenzial: »Die Gewalt ist eines der stärksten Erlebnisse und bereitet denjenigen, die fähig sind, sich ihr hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindungen. Dort, in den Straßen von Fulham, […] fühlte ich mich, als sei ich buchstäblich schwerelos geworden. […] Und zum ersten Mal kann ich die Worte verstehen, mit denen sie diesen Zustand beschreiben. Daß die Gewalttätigkeit in der Masse eine Droge für sie sei. Und was war sie für mich? Die Erfahrung absoluten Erfülltseins.«6
Ein drittes Zeugnis dafür, dass zwischen Masse und Gewalt ein Zusammenhang besteht, oder genauer, die gewöhnliche Abscheu vor unmittelbar drohender Gewalt offenbar auch und nicht zuletzt durch die physische Präsenz anderer wenn nicht in Gewaltlust, so doch in einen gegenüber Zerstörung und gewaltsamem Tod indifferenten Rauschzustand umschlagen kann, findet sich in den Lebenserinnerungen Elias Canettis.
Im Sommer 1922 wird der siebzehnjährige Canetti in Frankfurt am Main Zeuge einer Arbeiterdemonstration gegen die Ermordung Walter Rathenaus. Es ist der Demonstrationszug selbst – nicht die Sache, gegen die protestiert wurde, oder die Solidarität mit den Arbeitern –, der auf Canetti eine »physische Anziehung« ausübt. Auch nachdem er sich der Demonstration angeschlossen hatte, kam es ihm vor, »als ginge es hier um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist. Aber eine wirkliche Erklärung […] war das natürlich nicht. Denn weder vorher, isoliert, noch nachher, in der Masse, war man etwas Lebloses, und was mit einem in der Masse geschah, [war] eine völlige Änderung des Bewußtseins.«7
Diese erste Erfahrung der Masse bestätigt und verstärkt sich am 15. Juli 1927. An diesem Tag demonstrierten Wiener Arbeiter gegen den Freispruch einer wegen Mordes an Genossen aus dem Burgenland angeklagten Gruppe. Die Demonstration kulminierte darin, dass der Wiener Justizpalast in Brand geriet und die Polizei auf die Demonstranten zu schießen begann. Es gab 90 Tote. Canetti erinnert sich: »Die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. […] Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Er hört die Schüsse der berittenen Polizei, er rennt und flieht mit den ihm fremden Demonstranten; der Zug zerreißt und sammelt sich wieder; erst erfährt er, dass der Justizpalast brennt, dann sieht er ihn brennen. »Das Feuer war der Zusammenhalt. […] Auch dort, wo man es nicht sah, hatte man’s im Kopf, seine Anziehung und die Masse waren eins. […] Wo immer man sich unter der Einwirkung der Salven fand, scheinbar geflüchtet war – der […] Zusammenhang mit den anderen blieb wirksam.« Canetti fühlte sich »von einem einheitlichen Gefühl getragen […] – eine[r] einzige[n] ungeheuerliche[n] Woge, die über die Stadt schlug und sie in sich aufnahm: als sie verebbte, war es kaum glaublich, daß die Stadt noch da war.«8
Noch vor der Erfahrung des Nationalsozialismus, des Aufstiegs und der Verheerungen einer Massenbewegung, waren es diese beiden Erlebnisse, die Canetti dazu veranlassten, sich über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema Masse zu beschäftigen und 1960 mit »Masse und Macht« schließlich ein Buch vorzulegen, das als abseitiger sozialanthropologischer Theorieentwurf eines Literaturnobelpreisträgers galt, auch weil es zu einer Zeit erschien, in der Anthropologie unter Ideologieverdacht stand.9
Die ersten wissenschaftlichen Anstrengungen, den Zusammenhang von Masse und Gewalt zu bestimmen, stammen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert. Dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt, galt seit Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1790) als selbstverständlich. Die Masse, das war für die Historiografen und politischen Beobachter des 19. Jahrhunderts der aufständische Pöbel, die Bezeichnung einerseits für eine aus der alten Ständeordnung herausfallende und zugleich die neue bürgerliche Gesellschaft bedrohenden »Schicht«, andererseits für die sich in den Städten ballenden Menschenmengen, der Begriff für ein gefährliches, gewalttätiges, offenbar geschichtsmächtiges Kollektivsubjekt. Marx sah...