[6|7]Joanna Jabłkowska
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Die Einführung zum Vorspann des Films »Gebürtig«1 nach dem gleichnamigen Roman von Robert Schindel beginnt mit einer Sequenz, die als Parabel für die österreichische Vergangenheitsbewältigung gedeutet werden kann. Wir sehen eine ›typische‹ Szene aus einem Konzentrationslager. Die Häftlinge treten zum (Straf-)Appell an, danach werden sie vom KAPO zum Marsch getrieben. Die SS-Leute schauen zu und trinken etwas Warmes, die Hunde bellen. Es ist glatt, einer der Häftlinge fällt hin. Wir erwarten, dass der SS-Mann, der sich ihm nähert, ihn gleich erschießen wird. Er reicht dem Häftling aber die Hand, hilft ihm aufzustehen, der Häftling nimmt eine Zigarette aus seiner Mütze, der SS-Mann gibt ihm Feuer. Die Zuschauer sind verunsichert, denn in diesem Moment beginnt der Vorspann. Erst im Laufe der Handlung erweist sich, dass ein Holocaust-Film gedreht wird. Es ist offensichtlich, dass dieser Film im Film die Funktion eines Verfremdungseffekts hat, er soll die Zuschauer überraschen, möglicherweise auch auf die weitere Geschichte gespannt machen. Was diese ›Überraschung‹ zu vermitteln hat, ist für die österreichische Erinnerungskultur signifikant. Die Verwechslung der Rollen, das Nebeneinander verschiedener Geschichten, die Täter und Opfer durcheinanderbringen, keine klare Vorstellung von Schuld und Unschuld, das Aufgehen der Verantwortung in der ›Kultur der Gemütlichkeit‹ – dies thematisiert die österreichische Literatur seit dem Zweiten Weltkrieg. Anders als dies sich in der Bundesrepublik entwickelte, spielte die ›Aufarbeitung der Vergangenheit‹ in Österreich in den ersten 40 Nachkriegsjahren keine herausragende Rolle im öffentlichen Diskurs. Erst die Waldheim-Affäre war der Auslöser von intellektuellen und politischen Debatten, in denen sich die österreichischen Autoren mit den sieben Jahren zwischen 1938 und 1945 auseinanderzusetzen versuchten.2 Doch bei aufmerksamer Betrachtung der österreichischen Literatur muss diese Bestandsaufnahme ergänzt werden. In der Generation der Kinder und Enkel ging es in der Regel nicht mehr um die Rekonstruktion der historischen ›Wahrheit‹ über den Zweiten Weltkrieg, sondern darum, wie man heute mit der Geschichte umgeht. Die verspätete Erinnerung, die Opfer und Täter nach jahrzehntelanger [7|8]Verdrängungsarbeit einholt, ist das Motiv, das in der österreichischen Literatur sehr explizit präsent ist. Es lassen sich selbstverständlich Ausnahmen nennen, zu denen beispielsweise einige fiktionalisierte Dokumentarromane von Erich Hackl gehören, etwa »Abschied von Sidonie« (1989) oder »Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit« (2002), die wichtige Stationen der bisher wenig beleuchteten österreichischen Vergangenheit – den Bürgerkrieg 1934 oder die Teilnahme der Österreicher am Spanischen Bürgerkrieg problematisieren; Ernst Jandl entwarf in seinem Gedicht »wien: heldenplatz« (1971) – einem einmaligen sprachlichen Konstrukt – Hitlers Einmarsch in Wien 1938; mit besonderer Eindringlichkeit und kritischem (Sprach-)Elan befasste sich Elfriede Jelinek in ihrem Drama »Rechnitz (Der Würgeengel)« (2008) mit dem Mord an jüdischen Zwangsarbeitern im März 1945. Es lassen sich darüber hinaus noch viele Beispiele aus dem Schaffen österreichischer Autoren nennen, die die NS-Zeit direkt thematisieren. Doch in erster Linie gilt ihr kritisches Interesse den Tabuzonen, Ängsten und Neurosen, schließlich auch Lügen der Gegenwart, die nicht der ›Bereinigung‹ der jüngsten Geschichte dienen, sondern im Gegenteil ihrer Verdrängung.
In den wenigen, allerdings wichtigen Werken der ersten vier Jahrzehnte nach 1945 wurde ebenfalls vor allem die nachträgliche Leugnung der Täterschaft problematisiert. Bis auf einige bedeutende Texte, die von den Opfern des Nationalsozialismus verfasst wurden – die hervorragendsten Beispiele sind Gedichte von Paul Celan oder der Roman »Die größere Hoffnung« (1948) von Ilse Aichinger, die sich direkt auf die Shoah beziehen –, handelt es sich in der kritischen österreichischen Kultur um Bloßlegung der alltäglichen Scheinheiligkeit, die die alten Verbrechen verharmlost oder unter den Teppich kehrt. Erinnerungsarbeit bedeutet in diesem Kontext, die sich sauber gebende Oberfläche abzukratzen, damit die untere Schicht einer unklaren, doch schrecklichen Wahrheit sichtbar wird. Eine solche Struktur haben viele Werke der Nachkriegsliteratur, »Die Wolfshaut« (1960) von Hans Lebert, »Unter Mördern und Irren« (1961) von Ingeborg Bachmann, »Der Herr Karl« (1961) von Helmut Qualtinger, »Fasching« (1967) von Gerhard Fritsch, das Drama »Der Himbeerpflücker« (1965) von Fritz Hochwälder, um nur die bekanntesten zu nennen.3
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Die Entlarvung der Sprachlüge und der falschen ›Gemütlichkeit‹ bedeuteten für die österreichische Kultur einen langen und komplizierten Prozess und harte Erinnerungsarbeit, während der die faschistische (austrofaschistische und nationalsozialistische) Vergangenheit mit der jahrhundertealten monarchisch-katholischen Tradition zu einem komplizierten kulturellen [8|9]Gedächtnis verbunden werden musste, um ›bereinigt‹ zu werden. In Ingeborg Bachmanns »Drei Wege zum See« (1972) wird besonders tief und komplex über diese historischen Mäander und Verflechtungen reflektiert. Franz Joseph Eugen Trotta – ein Österreicher, der französische Staatsbürgerschaft hatte – erzählt von Verhören potenzieller Kriegsverbrecher unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg: »Bei den Befragungen (…) kamen (…) einmal zwei von unseren Leuten an die Reihe. Elisabeth unterbrach ihn (…): was meinst du mit ›unseren‹? (…) Natürlich die Österreicher, und denen war die Gemeinheit, der Genuß an jeder erdenklichen Brutalität in die Visagen geschrieben (…). Das waren (…) die einzigen dämonischen Figuren, die mir untergekommen sind, für die kann ein Befehl nur ein willkommener Vorwand gewesen sein, für die Deutschen war ein Befehl ein Befehl, und deshalb waren sie so konsterniert, dass man ihnen dann einige Millionen von Ermordeten übel nahm. Aber unsere Franzosen (…) schickten (…) die beiden Verbrecher weiter, weil die harmloser erschienen, aus einem Operettenland eben, das mit allen seinen Operettenfiguren ein Opfer geworden war. Ein Opfer ja, aber ich wollte ihnen nicht erklären, warum und weshalb, es war eben zu kompliziert zu sagen, auf welche Weise, mit welcher Geschichte, dieser amputierte Staat ein Opfer geworden war.«4
Verschiedene Erinnerungsschichten werden in Bachmanns Erzählung miteinander verbunden und enthüllen ein kompliziertes nationales Gedächtnis, voller Schuldbewusstsein und Schuldbekenntnis, doch auch voller Lücken, die übersehen werden wollen und nicht ›aufgearbeitet‹ sind.
An zwei Beispielen werden verschiedene Möglichkeiten kurz besprochen, mit denen die kritische Erinnerungsarbeit sowohl geleistet als auch beim Leser beziehungsweise der Leserin provoziert wird. Die unten genannten Musterfälle schöpfen das Spektrum ästhetischer Entlarvungsstrategien nicht aus, sie deuten sie lediglich an. Dass zwei Dichterinnen gewählt wurden, lässt sich als Zufall auslegen oder auch als paritätische Einseitigkeit. Allerdings gibt es in dieser Wahl eine Methode – der Nationalsozialismus war nicht nur eine Ideologie, die Gewalt mit sich brachte, sondern eine, die mit gesellschaftlichen Strukturen besonders patriarchalisch umging. Patriarchalisch bedeutete nicht direkt, im Namen oder im Interesse der männlichen Bürger zu handeln, es bedeutete vor allem autoritäre Umgangsformen im Alltag und im politischen Leben zu entwickeln.
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Ilse Aichinger5 gehört der gleichen Generation an wie Ingeborg Bachmann. Fünf Jahre älter und als ›Halbjüdin‹ erlebte sie die Zeit des Nationalsozialismus bewusster, und unmittelbar nach dem Krieg begann sie Werke zu [9|10]schreiben, die die Verbrechen thematisierten. Im September 1945 erschien im »Wiener Kurier« ihre Erzählung »Das vierte Tor«, die vom Genozid handelt und zugleich eine Vorstufe für den Roman »Die größere Hoffnung« (1948) bildet.6 Im Schaffen von Aichinger, die vor allem Gedichte und Kurzerzählungen schrieb, blieb dieses autobiografische Jugendwerk der einzige Roman. Er ist Zeugnis für das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus, erzählt aus der Perspektive des Kindes, dank der die Wirklichkeit sowohl verfremdet wird als auch besonders realistisch wirkt. Allerdings kann der Roman auch kritisch gelesen werden. Irene Heidelberger-Leonard sieht in »Die größere Hoffnung« ein Werk, das der Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung nicht wirklich gerecht wurde: »Zwischen Tod in Auschwitz und Ellens Tod liegt die Geschichte. Und weil ihr Abgrund bei Aichinger übersprungen wird, ist die von ihr vorgeschlagene Therapie des Unheils nicht anwendbar. Gewiss, nach dem Krieg haben deutsche Leser Aichingers Roman dankbar entgegengenommen. Es machte sie zu Agenten eines transzendenten Sinnzusammenhangs und entlastete von kollektiver Scham.«7
Doch unabhängig von der Bedeutung Aichingers für die Entlastung der Generation der Gruppe 47 war und ist nach wie vor die Erinnerungsarbeit der Autorin von Belang, wenn man das komplizierte österreichische Gedächtnis fokussiert, zu dem auch das jüdische und ›halbjüdische‹ in viel stärkerem Maße als in Deutschland gehört. Aichingers Rolle für die ›Sozialisierung‹ der Autoren der Gruppe 47 kann man in diesem Zwielicht wahrnehmen. Wie Heidelberger-Leonard suggeriert, war sie – um es direkt zu formulieren – eine ›Alibi-Jüdin‹, auch –...