Ansätze zur Primär- und Sekundärprävention aggressiven Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen ( S. 141)
Mario Gollwitzer
Der folgende Beitrag befasst sich mit unterschiedlichen Ansätzen zur Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen. Der Autor konzentriert sich dabei insbesondere auf Trainingsprogramme zur Förderung der sozialen Kompetenz. Zwei Fragen werden vertiefend behandelt: (1) Was weiß man über die Wirksamkeit solcher Sozialkompetenz- Trainings? (2) Welche (impliziten) Annahmen liegen den Modellen zur Wirksamkeit solcher Trainings zugrunde?
1 Einleitung und Definition
In die primäre Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter werden im Allgemeinen viele Hoffnungen gesteckt (vgl. Coie et al., 1993, Scheithauer und Hayer, in diesem Band). Grundlogik der primären Gewaltprävention ist das systematische Ausschalten von Risikofaktoren (also solchen Bedingungen, die aggressives Verhalten wahrscheinlicher machen) und das gleichzeitige Aufbauen und Fördern von Schutzfaktoren (also solchen Bedingungen, die aggressives Verhalten weniger wahrscheinlich machen). Damit stellt sich die Frage: Was sind solche Risiko- und Schutzfaktoren im Zusammenhang mit der Auftretenswahrscheinlichkeit aggressiver Verhaltenstendenzen im Kindes- und Jugendalter?
Risikofaktoren. Risikofaktoren existieren auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Das Gefühl einer fehlenden Integriertheit in das gesamtgesellschaftliche System, Zukunftsängste (in Bezug auf Arbeitsplatzsicherheit, soziale Sicherheit etc.) sowie eigene Macht- und Hilflosigkeit in Bezug auf die Veränderungsmöglichkeit gesellschaftlicher und politischer Zustände wären auf der „obersten", makrosozialen Ebene anzusiedeln. Negative Einflüsse durch deviante „Peer-Gruppen" oder durch das soziale Milieu, suboptimale Formen der elterlichen Erziehung, ungünstige Lernbedingungen in der Schule etc. sind auf einer „mittleren", einer Meso-Ebene, zu nennen.
Die Unfähigkeit, in einer konkreten Konfliktsituation kompetent zu reagieren, Entwicklungsverzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten sowie andere dispositionelle Faktoren oder ein überhöhtes, aber labiles Selbstkonzept zählen zu den psychologischen Bedingungen, die man auf der Mikro-Ebene angesiedelt sehen könnte. Da die Hoffnung, mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen solche Risikofaktoren effektiv und nachhaltig einzudämmen, eher gering ist, konzentriert man sich bei der Prävention üblicherweise auf eine Förderung der Schutzfaktoren.
Diese Asymmetrie ist schon aus der Forschung zur Gesundheitsförderung bekannt: Es ist wesentlich einfacher, neues Verhalten zu initiieren als alte Gewohnheiten abzubauen. Soziale Kompetenz. Zu den zentralen Schutzfaktoren, also jenen Bedingungen, die aggressives Verhalten weniger wahrscheinlich machen oder eindämmen, gehören soziale Fertigkeiten, die unter dem Begriff „Soziale Kompetenz" zusammengefasst werden.
Der Förderung sozialer Kompetenzen wird bei der Aggressionsprävention eine wichtige Rolle zugeschrieben. Der Begriff an sich ist jedoch nur unzureichend definiert, wie wir später noch sehen werden. Diese begriffliche Unschärfe mag auch der Grund dafür sein, dass es inzwischen eine unüberschaubare Menge aggressionspräventiver Maßnahmen gibt, die alle unter dem Etikett „Soziales Kompetenz- Programm" firmieren, beispielsweise Konfrontationstechniken (vgl. den Beitrag von Gall &, Brand, in diesem Band), die Vermittlung von Kampfsport- und Selbstverteidigungstechniken, die Einführung von Schüler-Streit-Schlichtern an Schulen („Peer- Mediation", vgl. den Beitrag von Montada, in diesem Band), erlebnispädagogische Angebote (vgl. den Beitrag von de Graaff, Pensé &, Pensé, in diesem Band), Informationsveranstaltungen mit kirchlicher oder kriminalpolizeilicher Beteiligung oder pädagogisch- psychologische Trainings, in denen verschiedene Aspekte sozial kompetenten Verhaltens thematisiert und eingeübt werden.