Prolog
Was soll dieses Buch?
Wir lieben es, wenn die Protagonisten von Filmen, Theaterstücken oder Romanen ins Chaos stürzen und schreckliche Situationen zu bestehen haben, die wir selbst im richtigen Leben auf gar keinen Fall erleben wollen und mit aller Macht zu verhindern versuchen. Wir bemühen uns daher – meistens erfolgreich –, unser Leben so sicher und stabil wie möglich zu gestalten und keine riskanten Dinge auszuprobieren. Wir haben es meist lieber etwas zu langweilig als zu aufregend. Die Stabilität unserer Persönlichkeit liegt uns besonders am Herzen.
Wir werden von unserer Umwelt von klein auf trainiert, uns konsistent zu verhalten. Bereits als Kind hören wir häufig »Das hätte ich nicht von Dir erwartet!« oder »Dass du deinem Lehrer so frech widersprochen hast, passt doch gar nicht zu Dir!« und ähnliche Ermahnungen, die uns daran erinnern sollen, wie wir eigentlich zu sein hätten. Auch als Erwachsene versuchen die meisten Menschen, für andere vorhersagbar und schlüssig zu erscheinen – nicht an einem Tag laut und witzig zu sein und sich am nächsten Tag als schweigend und introvertiert zu präsentieren. Ein Mensch, der unberechenbar ist, erschreckt und verunsichert die anderen und gilt schnell als durchgeknallt. Weil wir unserer Kreativität bei der eigenen Neuerfindung ständig Fesseln anlegen, müssen wir bei dem Versuch, Neues auszuprobieren, über viele Schatten springen. Das macht Änderungen sehr zäh und kompliziert.
Da wir die Stabilität so lieben, wenn es um andere Menschen und vor allem aber um unsere eigene Person geht, geraten bestimmte Charakterzüge bei der Selbstwahrnehmung in den Vordergrund und definieren das Selbstbild. Dadurch glauben wir, nur in der einen Art und Weise reagieren zu können. Aber kein Mensch hat den einen, für alle Zeiten festgelegten Charakter, sondern jede Persönlichkeit besteht aus vielen Facetten, von denen mal die eine und mal die andere dominant wird oder zumindest potenziell in den Vordergrund rückt, wenn das selbst verpasste Korsett nicht zu eng ist. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass aus einem Einsiedlerkrebs die Stimmungskanone auf einer Party wird, ist sogar das prinzipiell möglich. Mancher Mensch ändert sich und damit sein Leben durch einen Schicksalsschlag wie einen Herzinfarkt, mancher durch ein freudiges Ereignis wie z. B. eine neue Liebe, die ganz überraschende Seiten in ihm zum Klingen bringt. Fatal ist nur die starre Festlegung auf eine Richtung, die einem keine Wahl mehr lässt. Dann glaubt man wirklich unverrückbar, wer man ist, verweigert jede Veränderung und fährt lieber mit 180 Sachen ungebremst in den Abgrund, als irgendetwas Neues zuzulassen.
Es ist das gute Recht jedes Menschen, sich nicht mehr ändern zu wollen. Wenn Sie also rundum zufrieden sind und nichts in Ihrem Leben verändern möchten, wenn Sie auch als Psycho-Fachmann glauben, genug brauchbare Methoden zur Verfügung zu haben, um jeden Problemfall befriedigend zu lösen, dann schenken Sie dieses Buch jemandem, der sich Ihrer Meinung nach unbedingt ändern sollte – zum Beispiel Ihrer Schwiegermutter. Wenn Sie jedoch Lust haben, sich neugierig einer ungewöhnlichen Beratungsform zuzuwenden und auch sich selbst infrage zu stellen, steht Ihnen eine vergnügliche Lektüre bevor, die Ihnen manche Last von der Schulter nehmen und eine ganz neue Lebensqualität erschließen kann. Allerdings dürfen Sie dann nicht mehr uneingeschränkt glauben, wer Sie sind.
Der Provokative Stil
Seit den 1960er Jahren sprießen neue Therapien aus dem Boden wie Schneeglöckchen an den ersten warmen Frühlingstagen. Die meisten kommen aus den USA und werden von der wissenschaftlichen Psychoszene in Europa zunächst fast immer als amerikanischer Blödsinn abgetan. Angeblich gibt es derzeit allein in der westlichen Welt ungefähr 4000 Psychotherapieformen, die natürlich allesamt von sich behaupten, die einzig richtige und effiziente zu sein. Viele verschwinden so schnell, wie sie auftauchen, wieder in der Versenkung, ohne nachhaltige Spuren zu hinterlassen. Einige wenige haben sich so stabil etabliert, dass man ihre Botschaften wie von Gott gesandt und in Stein gemeißelt empfindet. Dadurch erscheint ein Infragestellen dieser angeblich unbezweifelbaren Wahrheiten geradezu als Gotteslästerung. In jüngerer Zeit sind nun Therapien aufgetaucht, die nachweisbar unglaublich schnell und dauerhaft wirken, aber die Fachwelt in Aufruhr versetzen, weil sich ihre Wirkung nur schwer mit den gängigen Modellen erklären lässt. Dazu gehört auch die Provokative Therapie und der daraus entwickelte Provokative Stil®, der Grundlage dieses Buches ist.1
Es ist – auch in der Fachwelt – keineswegs geklärt, warum manche Menschen sich das Leben selbst zur Hölle machen, wieso sie seelisch krank werden bzw. psychosomatische Symptome entwickeln und andere dagegen nicht. Manche Leute glauben, sie seien an der Entstehung solcher Stolpersteine in ihrem Leben völlig unbeteiligt, diese würden Gott oder das Schicksal für uns bereithalten, um uns zu quälen oder – die positivere Variante – um uns zu prüfen. Oder sie sind überzeugt, dass diese Widrigkeiten Überbleibsel aus einem früheren Leben sind und uns jetzt als Strafe für vergangene Missetaten heimsuchen. Oder sie fallen einfach sinnlos vom Himmel und treffen uns ganz zufällig, weil wir gerade an der falschen Stelle herumstehen. Selten sind wir in der Lage, unseren Eigenanteil an der Entstehung von Symptomen richtig einzuschätzen. Da haben wir einen großen blinden Fleck.
Es geht beim Provokativen Stil um das Durchbrechen der eigenen Fixierungen auf bestimmte Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die wir als zu unserer Persönlichkeit gehörend empfinden, die uns aber störend im Wege stehen und bei denen wir auch schon erfolglos probiert haben, etwas Neues zu etablieren. Grundsätzlich gehen wir beim provokativen Ansatz davon aus, dass wir uns die Stolpersteine größtenteils selbst vor die Füße rollen. Wenn man sie aktiv herbeigerollt hat, muss man sie auch aktiv wegrollen können. Um wahrzunehmen, wo es einen Hebel zur Beseitigung von Stolpersteinen gibt, wo es also Ansatzpunkte für Veränderungen geben könnte, müssen wir uns neben uns stellen und uns selbst relativieren. Dabei ist unser Intellekt äußerst hinderlich. Er liefert uns tausend Gründe dafür, alles lieber so zu lassen, wie es ist. Es gilt, diesen Zensor, der uns ständig im Wege steht, beiseitezuräumen. Die Entscheidung zu einem Symptom ist nach meinem Verständnis ein aktiver Vorgang, der emotional geladen ist. Sie ergibt emotionalen Sinn, ist aber selten bewusst. Diese Entscheidung bringt nicht nur Nachteile in Form der Symptomatik, sondern auch Vorteile, denn sie schützt das eigene Selbst- und Weltbild und verhindert damit Angst.2
Eine Provokation zielt direkt und ohne Umwege in das limbische System, dem Sitz der Gefühle.3 Jeder weiß, was eine Provokation ist. Im Allgemeinen wird darunter etwas Negatives verstanden: Ich trete jemandem ans Schienbein, ich bohre beim Frühstück in der Nase und schmiere den Popel auf die Tischdecke oder ich entblöße mich unschicklich. Eine solche Alltagsprovokation ist darauf aus, andere zu ärgern, die einem möglicherweise gar nichts getan haben, und reißt den Provozierten üblicherweise zu unbedachten Handlungen hin. Dies ist durchaus bezweckt und für den Provozierer äußerst befriedigend. Dann gibt es noch die getarnte Provokation, die man dann einsetzt, wenn einen jemand geärgert hat: Klaus antwortet Helga nicht mehr, weil sie ihn zuvor einen Versager genannt hat, und provoziert sie somit dazu, einen Teller nach ihm zu werfen. Provokative Therapie und Provokativer Stil, wie ich sie verstehe, gehören nicht zu diesen Arten von Provokation.
Beim Provokativen Stil provoziert man den anderen mit warmem, offenem Herzen und ohne Groll – nicht mit dem Ziel, ihn zu ärgern, sondern seine Stolpersteine, die ihm das Leben unnötig schwer machen, zu entkräften. Provozieren wird hier nicht als »aufreizen« verstanden, sondern sinngemäß eher als »hervorlocken«, »ans Licht bringen«, »verdeutlichen«.4
Wenn man den Provokativen Stil als pure Technik begreift, sind Missverständnisse vorprogrammiert. Er ist keine bloße Technik, sondern eine komplexe Vorgehensweise, die vom Anwender eine bestimmte Grundhaltung erfordert und mit der man oft auf verschlungenen Wegen sehr schnell zum Ziel kommt. An der Oberfläche springt einem als Erstes die »unverschämte«5 Kommunikation ins Auge, weil sie speziell im therapeutischen Umfeld so ungewöhnlich ist. Die zugrunde liegenden Werthaltungen, die vor allem nonverbal vermittelt werden, sind jedoch weitaus wichtiger als die ausgefeiltesten, mechanisch einstudierten Sätze. Der provokative Ansatz verlangt vor allem eine bestimmte Geisteshaltung und Lebensphilosophie.
Da beim Einsatz des Provokativen Stils das dahinterstehende Menschenbild, die Auffassung von...