„Alle Menschen streben nach Glück, erklärte Aristoteles im 5. Jahrhundert v. Chr. am Beginn seiner Nikomachischen Ethik [...]. Man darf hinzufügen: Ihr Streben richtet sich nicht auf etwas, das ihnen fern und nur vom Hörensagen bekannt ist; sie befinden sich nicht in einem Tal der Ahnungslosen, vielmehr können sie sich auf das Glück nur beziehen, weil sie Vorstellungen davon mitbringen“ (Thomä/Henning/Mitscherlich-Schönherr 2011:1). Der Begriff der Vorstellung weist wiederum darauf hin, dass das Glück etwas ideelles ist, etwas, dass kaum greifbar ist und dass sich deswegen für mannigfaltige Interpretationen anbietet. Dieses Kapitel wird sich also damit beschäftigen, das Glück, zumindest theoretisch, greifbar zu machen, indem es gängige Interpretationen darstellt und den Versuch unternimmt, zu definieren, was Glück ist, und was es nicht ist. Dazu wird zunächst der Begriff, also das eigentliche Wort und dessen Bedeutung beschrieben (Kap. 2.1.), woraufhin erläutert wird, welche Bedeutungen sich ergeben, wenn man das Glück mit anderen Begriffen in Verbindung bringt: Mit der Zeit, mit Normativität und letztlich mit dem Alter (Kap 2.2. ). Darauf folgt ein kurzer Exkurs, welcher die Relevanz des Glücks in verschiedenen Bereichen beschreibt (Kap. 2.3.), schließlich werden dann die Bedingungen herausgearbeitet, die für das Entstehen von Glück von Bedeutung sind (Kap. 2.4.)
„Das Wort >Glück< wird auf unterschiedlichste Weisen verwendet. Im weitesten Sinn handelt es sich um einen Oberbegriff für alle Vorstellungen vom guten Leben. In dieser Bedeutung wird der Begriff oft synonym mit Ausdrücken wie >Wohlbefinden< oder Lebensqualität gebraucht und bezeichnet sowohl individuelles wie auch soziales Wohlergehen“ (Veenhoven 2011:1). Bellebaum fügt ergänzen hinzu: „Angesichts einer verwirrenden Vielfalt von Glücksbegriffen ist [sogar] vorgeschlagen worden, auf das Wort Glück zu verzichten. Dies ist bislang [jedoch] nicht gelungen, und es kann allein schon wegen der anhaltenden kulturellen Bedeutung dieses Wortes nicht gelingen. Es muss freilich nicht alle glücksbezogene Forschung mit dem Wort Glück arbeiten. In manchen Studien werden angrenzende oder verwandte Termini benutzt“ (Bellebaum 2002:9), von denen im Folgenden die in der wissenschaftlichen Literatur gebräuchlichsten Begriffe vorgestellt werden: Das „Glück“ selbst, die verwandten Begriffe „subjektives Wohlbefinden“ und „Lebenszufriedenheit“ und schließlich auch das „gute Leben“.
„Die deutsche Sprache verfügt nicht über große Differenzierungsmöglichkeiten, wenn es um Bezeichnungen für Glückserfahrungen geht. Anders als das Altgriechische τέχνη (téchne), εύδαιμονία (eudaimonia) und μακαριότης (makariotes)[4], das Lateinische, das zwischen fortuna, felicitas und beatitudo[5], das Französische, das zwischen chance, bonheur, félicité, fortune und béatude[6] oder gar das Englische, das zwischen luck, happiness, felicity, chance, bliss und beatitude[7] unterscheidet, kennt das Deutsche nur das eine Wort »Glück«, um körperlich-sinnliche oder sinnerfüllte, intensiv-glühende oder transzendenzlastige[8], zufällig sich einstellende oder durch eigenes Streben errungene Glückszustände zu benennen" (Hörisch 2011:1). Oftmals müssen also andere Begriffe zur Hilfe genommen werden, um verschiedene Nuancen des Glücksbegriffs zu beschreiben. Allerdings existiert auch in der deutschen Sprache ein gravierender Bedeutungsunterschied zwischen den Begriffen „Glück haben" und „glücklich sein". Ersterer beschreibt eine günstige Fügung, also einen unwahrscheinlichen und als positiv bewerteten Zufall, während letzterer einen emotionalen Zustand des Wohlbefindens, der (Bedürfnis- und Lust-)Befriedigung und der Erfülltheit oder auch Sättigung beschreibt. „Glücklichsein" hat jedoch auch eine kognitive, weniger emotionale, Komponente: So kann beispielsweise die Reflexion insofern als glücklich machend empfunden werden, als sie es dem Menschen ermöglicht, sich (zuerst vor allem gedanklich) von der eigenen Lebenssituation, den eigenen Lüsten und Bedürfnissen und den eigenen Nöten zu distanzieren und gegebenenfalls zu lösen: „Dabei ist oftmals weniger der Gegenstand des Sehens [hier zu verstehen als: Reflektierendes Wahrnehmen; Anm. TB] beglückend, denn das Sehen selbst. Die Wahrnehmungen des Lebens sind deshalb schön und beglücken[d], weil sie in der Distanz zum wirklichen Leben gewonnen werden: Sie beglücken, weil sie Freiheit erfahrbar werden lassen, Freiheit von den eigenen unmittelbaren Bedürftigkeiten und Freiheit zum eigenen Entwurf von Selbst und Welt" (Zirfas 2011:4). Durch die Unterscheidung in Glück durch Befriedigung und Glück durch Reflexion ist das Glück jedoch kaum hinreichend charakterisiert. Ganz
im Gegenteil gibt es noch eine ganze Reihe von begrifflichen und semantischen Verknüpfungen, die dem Glücksbegriff eine neue Bedeutung verleihen.
Was hat es nun aber mit dem Wort „Glück" in der deutschen Sprache auf sich? Die Wortherkunft betreffend, taucht das Wort erst in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts in Form der mittelhochdeutschen Wörter „gelücke" und „gelucke" auf, und zwar „plötzlich und ohne jede ahd. [althochdeutsche; Anm. TB] Vorstufe, scheinbar ohne nähere Verwandte und in seiner ganzen Art unerklärbar" (Sanders 1965:1). Die Rekonstruktion der Wortherkunft- und entstehung gestaltet sich dabei aus verschiedensten Gründen als schwierig, wie Sanders in seiner Dissertation über den Glücksbegriff berichtet. Die Schwierigkeiten rühren daher, „daß [sic] Glück sich von einem Wortstamm herleitete, der zur Zeit seines ersten Auftretens bereits unaufhaltsam im Aussterben begriffen war; daß [sic] es in einem Teil des deutschen Sprachgebietes auftrat, dessen Überlieferung schlecht war; daß [sic] es als Begriff von lokal beschränkter Geltung unmittelbar nach seinem Auftreten in den mhd. [mittelhochdeutschen; Anm. TB] verpflanzt wurde, wo es unbekannt sein mußte [sic] und von vornherein Mißdeutungen ausgesetzt war und dergleichen mehr" (ebd.:247). Dennoch ist bekannt, dass das Wort Glück über Jahrhunderte hinweg ausschließlich als Begriff benutzt wurde, um das Schicksal beziehungsweise den günstigen Zufall (Fortuna) sowie sein Gegenteil bzw., allgemeiner gesprochen, den Ausgang einer Sache zu beschreiben (vgl. ebd.:249). Erst im sechzehnten Jahrhundert n. Chr. wurde das Wort Glück dann synonym zum Begriff „gelingen" verwendet, obwohl die beiden Begriffe etymologisch nicht verwandt sind (vgl. ebd:247).
Hörisch rekonstruiert die heutzutage gebräuchliche Bedeutung des Wortes wie folgt: „»Lücke« ist das nächstverwandte Wort zu »Glück«. [...] Das Verb »glücken« verweist wie das verwandte »gelingen« [...] auf ein Verschließen, Ausfüllen und Erfüllen von »Lücken«" (Hörisch 2011:1). So lässt sich also das Glück als der Zustand beschreiben, der Eintritt, wenn eine „Lücke", bspw. in Form eines Mangels oder einer Not, „gefüllt" wird. Glück ist also, gemäß dieser Herleitung, ein Zustand der Befriedigung oder Zufriedenstellung. Jedoch konstituiert sich durch den Zusammenhang von „Lücke" und „Auffüllen" (oder von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung bzw. Not und Linderung) eine Abhängigkeit: „Ohne die Lücken, ohne die Entsagungserfahrungen, ohne die zahlreichen Mängel, die unser Leben prägen, ist Glück nicht zu haben. Dennoch", fügt Hörisch hinzu, „ist wahres Glück unendlich mehr als ein bloßer Lückenbüßer" (ebd.:2).
Ohne an dieser Stelle näher auf die gegenseitige Bedingtheit von Glück und Unglück eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass der Glücksbegriff in der deutschen Sprache vieldeutig und dadurch missverständlich ist. Eine eindeutige Unterscheidung zwischen Zu-
falls-Glück und emotionalem Glück, wie sie in verschiedensten Sprachen vorzufinden ist (s.o.), existiert im Deutschen nicht. Daher kommt auch diese Arbeit nicht umher, sich mit sinnverwandten Termini zu behelfen.
„Glück als Emotion lässt sich schließlich beschreiben als ein umfassendes Gefühl der Zufriedenheit oder auch des Wohlbefindens [...], das sowohl die aktuelle Befindlichkeit wie die biographische Entwicklung umfasst" (Zirfas 2011:11). Die Begriffe „Wohlbefinden" wie auch „Lebenszufriedenheit" weisen zugegebenermaßen viele Gemeinsamkeit auf und sie werden teilweise synonym verwendet: So werden bspw. in internationalen Glücks- bzw. Well-being-Studien beide Begriffe dazu verwendet, in Erfahrung zu bringen, wie Menschen ihre eine Situation bewerten und wie glücklich sie sich schätzen. Die Begriffe „subjektives Wohlbefinden" und „Lebenszufriedenheit" sind dabei als Konstrukte zu verstehen, die nicht endgültig definiert sind und sich fortwährend im Wandel befinden. So ist die Annahme (bzw. Erkenntnis), dass die Lebenszufriedenheit eines Menschen nicht allein von seinen Lebensumständen (z.B. Einkommen, Bildung, Gesundheit, Familienstand, etc.) abhängt, zeitgeschichtlich noch relativ jung. Die Erkenntnis, dass für die Lebenszufriedenheit vor allem von Bedeutung ist, wie ein Mensch seine Lebensumstände wahrnimmt und bewertet, spiegelt sich u.a. in den Begriffen „subjektives Wohlbefinden"[9] oder auch „subjektive Lebenszufriedenheit"[10]...