Prolog
Der 7. August 2013 war in weiten Teilen Europas ein kalter, regnerischer Tag. Am Tag zuvor hatte es vom Atlantik kommend heftige Stürme gegeben, die starke Regenschauer mit sich brachten. An der Südseite der Alpen, im Tessin und im Wallis etwa, fiel gar schon Schnee. Die Lufttemperatur stand in keinem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur. Es war kein schöner Augusttag des Jahres 2013. Auch die Lektüre der Tageszeitungen vermochte keinerlei sommerliche Freude zu erwecken. Viel war zu lesen von Männern mit allzu dunklen Eigenschaften. Die Süddeutsche Zeitung berichtete von dem bekannten russisch-orthodoxen Priester und Kirchenkritiker Pawel Adelgejm, der im Nordwesten Russlands von einem religiös erregten jungen Mann erstochen worden sei. «Adelgejm hatte unter anderem den Prozess gegen die Frauen-Punkband Pussy Riot scharf kritisiert und sich damit gegen die Kirchenführung gestellt. Er rief zudem die Gläubigen auf, homosexuelle Paare zu tolerieren.» Auch im Bericht über die politische Lage in Tunesien ging es um religiös motivierten Mord. Im Februar sei der «linke Aktivist Chokri Belaid», ein Jurist, der «für die strenge Trennung von Staat und Religion» gekämpft habe, vor seinem Haus ermordet worden, und Ende Juli der ebenfalls linke Politiker Mohamed Brahmi. Die «islamistische Regierungspartei Ennahda» weise die Vorwürfe, hinter den Anschlägen zu stehen, zurück «und macht radikale Islamisten für die Tat verantwortlich. Das Innenministerium sieht den 30-jährigen, in Frankreich geborenen Boubaker Hakim als Täter an. Er soll der radikalen Gruppe Ansar a-Scharia (Helfer der Scharia) angehören. … Ennahda gerät gleich von zwei Seiten unter Druck: Weltlich orientierte Kräfte werfen ihr vor, die schleichende Islamisierung der Gesellschaft zu betreiben. Radikale religiöse Gruppen wie die Salafisten werben dagegen um enttäuschte Ennahda-Anhänger, denen die Partei zu moderat auftritt.» In der Besprechung des Fotobandes Iranian Living Room wurde die Frage gestellt, inwieweit die westlichen Bilder von «Gottesstaat und Mullah-Diktatur» die privaten Lebenswelten der Menschen im Iran zu erfassen vermögen. «Alle Macht der Religion und kaum ein Recht den Frauen – Iran gilt im Westen als Ayatollah-Staat. Doch wird diese Vorstellung dem Leben in dem Land gerecht?» Die Antwort fiel zwiespältig aus.
Zwei Seiten weiter las man von neuen Spannungen im französischen Kopftuchstreit. «Soll das Kopftuchverbot auf die Universitäten ausgeweitet werden? Seit 2004 dürfen französische Schüler nicht mehr mit bedecktem Haar am Unterricht teilnehmen. Nun empfiehlt der Integrationsrat (Haut Conseil à l’intégration), ein ähnliches Gesetz auch für die Hochschulen einzuführen. Am Montag veröffentlichte die Zeitung Le Monde einen Bericht, in dem der Integrationsrat den zunehmenden Einfluss religiöser Gruppen an den Universitäten beklagt. Von Bekehrungseifer ist dort die Rede, von Studenten, die sich weigern, an gemischt-geschlechtlichen Kursen teilzunehmen, und davon, dass immer mehr Studenten Ausnahmeregelungen und Unterrichtsbefreiung fordern, um ihre Religion ausüben zu können. Dabei geht es um muslimische Gruppen genauso wie um christliche Kreationisten und Neobaptisten, die die Theorien Darwins ablehnen und die sich gegen die Lektüre des eigentlich unantastbaren Kanons von Voltaire bis Camus einsetzen.» Noch mehr an Glaubensnachrichten an diesem einen Tag: Auch in Niedersachsen wurde ums Kopftuch gestritten. Die Süddeutsche Zeitung brachte dazu eine dpa-Meldung: «Die Muslime sehen den Start des islamischen Religionsunterrichts in Niedersachsen durch das Kopftuchverbot an den Schulen behindert. Zur Einführung des Islamunterrichts als Regelfach zum Schuljahresstart gebe es einen Lehrermangel, der auch mit dem Kopftuchverbot zusammenhänge, sagte Firouz Vladi, der Geschäftsführer des Beirats für den Islamischen Religionsunterricht. An Grundschulen, wo vor allem Frauen unterrichten, gebe es für muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch eine Zulassungshürde. ‹Darüber reden wir noch mit der neuen Landesregierung, wie wir zu einer Lösung kommen können.› Bislang dürfen die Frauen das Kopftuch nur während des Religionsunterrichts tragen.» Und zur «Lebenslüge schwuler Priester» wurde berichtet, dass der Berliner Jesuit Klaus Mertes den Begriff der «schwulen Lobby» für einen Begriff «aus dem Arsenal der homophoben Kampfsprache» hält. Zum Streit um ein Asylantenheim in Berlin-Marzahn, gegen das eine wohl rechtsradikale Bürgerbewegung protestiert hatte, konnte man lesen, dass sich Anfang August «Vertreter von Kirchen, Polizei und Flüchtlingsinitiativen getroffen» hätten, «die das Heim befürworten». In der Klatschspalte über die «Leute» teilte die Süddeutsche Zeitung schließlich die wahrlich wichtige Nachricht mit, dass «Franziskus, 76, Papst … als bekennender Fan des argentinischen Fußballvereins San Lorenzo weiterhin jeden Monat seinen Mitgliedsbeitrag» zahle – «pünktlich per Lastschrift».
An jenem kalten Augusttag informierte die Neue Zürcher Zeitung, die NZZ, über den Streit um Pakistans Trickfilmserie Burka Avenger. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung bot «zum pakistanischen Burka-Streit» einen größeren Bericht. «Burkas seien islamische Verpflichtung, erklärt Kuser Firaus von der fundamentalistischen Dschamaat-e-Islami-Partei. ‹Sie für Charaktere in Comics zu benutzen, ist eine Beleidigung für eine Religion und ihre Symbole.›» Zudem berichtete die FAZ über den neu eingeführten islamischen Religionsunterricht in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Auch fand der aufmerksame Leser einen Bericht über den Angriff auf einen in Hessen lebenden muslimischen Islamkritiker, der wenige Tage zuvor im Auftrag eines «islamistischen Aktivisten» von zwei Männern überfallen worden war. Der angegriffene Zahid Khan, ein aus Pakistan eingewanderter Sufi-Mystiker, hatte Ende Juni sein Buch Der Islam gehört nicht zu Deutschland auf dem Offenbacher Marktplatz vorgestellt. «Dagegen protestierten mehr als hundert Muslime. Khan wurde bespuckt, mit Münzen und einer Flasche beworfen. Die Polizei beendete daraufhin die Kundgebung.» Auf der Leserbriefseite teilte ein Deutscher aus Bremen mit, wegen des «Familienpapiers der EKD» aus der bremischen Landeskirche ausgetreten zu sein: «Die EKD droht im Strudel des Relativismus zu versinken. Sie ist führungslos. Mit Nikolaus Schneider steht ein Zeitgeist-Theologe an der Spitze, der den Überblick verloren hat. … Ich habe jetzt nach 58 Jahren die evangelische Kirche verlassen. Eine solche Kirche ist nicht mehr meine Kirche. Und wenn sie diesen Weg fortsetzt, wird sie nicht mehr lange Kirche sein.» Mittwoch, der 7. August, war wirklich kein schöner Sommertag des Jahres 2013.
Mord aus Glaubenshass, Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester, Blasphemie durch einen Burka-Comic, ein Papst der Armen als Fußballfan, die theologische Schwäche der EKD – all das gehört zur religiösen Signatur der Gegenwart. Religion zieht vor allem dann mediale Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie Meinungsstreit und politischen Konflikt schürt. Gerade politisierte Religion führt in vielen Ländern der Welt zu ganz harten Kulturkämpfen und immer neuem Streit um die Grundlagen der politischen Ordnung. Braucht der Staat eine religiöse oder religiös-sittliche Grundlage, ein in Gottes Gesetz selbst verankertes Wertefundament, um eine von vielfältigen Modernisierungskrisen zutiefst verunsicherte Gesellschaft integrieren zu können? Müssen staatliche Verfassungen nicht uralten religiösen Rechtsvorstellungen entsprechen? Sollte staatliches Recht nicht in einer «Politischen Theologie» verankert sein, um wirklich starke Bindungskraft entfalten zu können? Wie lässt sich in multireligiösen und polyethnischen Einwanderergesellschaften ein möglichst friedvoll entspanntes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft und Bindung sichern? Wie kann man die weltweit wachsende Faszinationskraft fundamentalistischen Hard-core-Glaubens erklären? Weshalb sind die meisten US-Amerikaner ungleich religiöser, glaubensaktiver als viele Europäer? Ist wissenschaftskritischer «Kreationismus» primär nur eine protestantische, vor allem in den USA einflussreiche Glaubenshaltung, oder finden sich kreationistische Überzeugungen auch in anderen Konfessionen und Religionen? Wird es schon bald oder in einigen Jahrzehnten ein ökumenisches Welteinheitschristentum geben? Wie ist in den europäischen Staaten jeweils das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften verfassungs- oder vertragsrechtlich geordnet, und welche zivilgesellschaftlichen Handlungschancen für Kirchen und sonstige religiöse Akteure ergeben sich jeweils daraus? Warum sind die vielen neuen Christentümer, allen voran die Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen, in vielen Teilen der Welt seit etwa 1970 so überaus erfolgreich? Das sind die Fragen, um die es in diesem Buch geht. Im...