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E-Book

Gotthold Ephraim Lessing

AutorFriedrich Vollhardt
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406688362
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
Gotthold Ephraim Lessing gilt als der mustergültige Vertreter der Aufklärung in Deutschland. Der überzeugte Toleranzdenker, der mit 'Nathan der Weise' und 'Minna von Barnhelm' Theatergeschichte schrieb, legte zudem eine tiefe Skepsis bei der Suche nach letzten Gewissheiten an den Tag und scheute vor scharfen Auseinandersetzungen nicht zurück. Neben Leben und Werk beleuchtet Friedrich Vollhardt auch das Netz der Gesprächspartner und Freunde Lessings sowie die Strategien, mit denen er seine Gegner vor einem aufmerksamen Publikum höchst wirkungsvoll sezierte.

Friedrich Vollhardt ist Professor für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Leseprobe

III. Schriftsteller und Kritiker (1755–1759)


Theorie und Praxis der Tragödie


Im Februar 1755 schreibt Moses Mendelssohn aus Berlin einen Brief an Lessing, in dem er dessen längere Abwesenheit beklagt und ankündigt, «auf einige Stunden zu Ihnen zu kommen» (B XI/162) − nach Potsdam nämlich, wohin sich Lessing zurückgezogen hatte, um ungestört an einem Theaterstück zu arbeiten. Mendelssohn gehörte zu den wenigen, die von diesem Vorhaben wussten, über dessen Zustandekommen eine – allerdings etwas zweifelhafte – Anekdote von Friedrich Wilhelm von Ramdohr berichtet: «Lessing war mit Mendelsohn bey der vorstellung eines der französischen weinerlichen dramen zugegen. Der letzte zerfloss in thränen. Am ende des stücks fragte er seinen freund, was er dazu sagte? Das es keine Kunst ist, alte Weiber zum heulen zu bringen […]. Was gilt die wette, sagte Lessing, in sechs wochen bringe ich ihnen ein solches stück.» (GBL 569f.) Tatsächlich hat Lessing während seines Potsdamer Aufenthaltes ein solches Stück verfasst, wohl auch, um in den sechsten Teil seiner bei Voß erscheinenden Schrifften eine Tragödie aufnehmen zu können, die das Gattungsspektrum abrunden sollte. Zur Ostermesse 1755 erschien dieser Band mit dem Erstdruck der Miß Sara Sampson, einem, wie der Untertitel näher ausführt, bürgerlichen Trauerspiel, in fünf Aufzügen. Bei dem revidierten Neudruck im Jahr 1772 hat Lessing den Zusatz «bürgerlich» streichen lassen, die Typisierung haftet dem Stück jedoch noch heute an. Darauf ist vorab kurz einzugehen, da sowohl die Kategorie des Bürgertums als auch die Abgrenzung der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels Kontroversen in der Forschung hervorgerufen haben, die seit langem andauern und in einzelnen Aspekten noch immer der Klärung bedürfen.

Will man verstehen, was bürgerlich (im Unterschied zu natürlich) in der Mitte des 18. Jahrhunderts heißt, wird man auf die Theorie des Naturrechts und die Rechtssprache zurückgehen müssen: De officio hominis et civis lautet der Titel des vielgelesenen, 1673 erstmals gedruckten Kompendiums von Samuel Pufendorf, in dem erklärt wird, wie der Bürger eines Staates (civis) im Unterschied zu einem Menschen im Stand der Natur (homo) bestimmte Pflichten gegenüber Gott und der Gemeinschaft, aber auch gegenüber sich selbst zu erfüllen hat. Es sind die modernen Funktionseliten aus den Bereichen der staatlichen Verwaltung, der Universität und der Kirche, die sich mit dem älteren städtischen Bürgertum verbinden und in literarischen Medien, die sie ihren Intentionen anpassen oder eigens entwickeln – dazu zählen seit dem Anfang des Jahrhunderts die Moralischen Wochenschriften −, eine Verständigung über diese gemeinsamen Handlungsorientierungen und Normvorstellungen (officia) suchen, mit denen sich die Folgen der gesellschaftlichen Differenzierung, aber auch individuelle Orientierungsprobleme bewältigen ließen. Was die gesellschaftlichen Gruppen teilen, sind zunächst kulturelle Gemeinsamkeiten, kein eigenes Standes- oder gar Klassenbewusstsein, das – wie in der älteren Forschung angenommen wurde – auf politische Emanzipation oder Partizipation zielte.

Die neuen, vor allem aus der soziologischen Systemtheorie gewonnenen Perspektiven haben die Frage nach den bürgerlichen Werten und Sozialitätskonzepten sowie den sich wandelnden Stil- und Geschmacksregeln angemessener erklären können als die älteren sozialgeschichtlichen Ansätze; ein solcher Konsens ist im Blick auf die Gattung des bürgerlichen Trauerspiels noch nicht abzusehen. Zwar verfügen wir inzwischen über eine genauere Kenntnis der über zweihundert Texte, die sich diesem Dramentyp zuordnen lassen (vgl. Mönch 1993), womit jedoch die Frage, ob Lessings Trauerspiel – das am Beginn der Reihe steht – für die Gattung vorbildlich war (vgl. Guthke 2008) oder eine Ausnahmestellung einnimmt, noch nicht abschließend beantwortet ist. Wenn es zutrifft, dass die Mehrzahl der untersuchten Texte auf eine abschreckende, keineswegs der Mitleidsdramaturgie verpflichtete Wirkung setzt – das Böse wird seiner gerechten Strafe zugeführt, wobei die Sympathielenkung dem Tugend-Laster-Schema folgt −, dann wären Miß Sara Sampson und Emilia Galotti nicht repräsentativ für die Entwicklung der Gattung im 18. Jahrhundert. Es ist daher von «zwei Modellen für das bürgerliche Trauerspiel auszugehen» (FICK 161), die in unterschiedlicher Weise den erhöhten moralischen Reflexionsbedarf des Publikums zu decken versuchten. Worin bestand dieser Bedarf, und worin unterscheidet sich Lessings Trauerspiel von der Trivialdramatik?

Miß Sara Sampson


Die Uraufführung des Trauerspiels fand am 10. Juli 1755 in Frankfurt an der Oder statt. Da Lessing gemeinsam mit Karl Wilhelm Ramler die Vorstellung besucht hat, konnte er sich vom Gewinn der Wette vor Ort überzeugen. In einem wenig später geschriebenen Brief berichtet Ramler über die Reaktionen des Publikums: «Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint.» (GBL 85) Lessing hatte die Vorlagen für sein Familienstück offenbar gut gewählt – dazu gehörte eine ältere Komödie, Thomas Shadwells The Squire of Alsatia (1688) – und eine Reihe von englischen Namen eingeführt (Arabella, Norton, Betty, Solmes, Belfort u.a.), bei denen sich die Zuschauer an ihre Lektüre des empfindsamen Briefromans Clarissa von Samuel Richardson erinnern konnten, der 1748/51 ins Deutsche übersetzt worden war. Die Titelfigur des Romans erleidet ähnliche Qualen wie Sara, ihr Schicksal zwischen Verführung, Schuld und Tod wurde zum vielfach kopierten Muster empfindsamer Affekterregung. Auch Lessing versteht es, Gefühle zu schildern (auf der Bühne wird ausgiebig geweint) oder diese bis zu einem extrem leidenschaftlichen Verhalten zu steigern, um beim Publikum eine Rührung zu erzeugen, die Mitleid hervorbringen soll: Die positive Naturanlage des Menschen – seine Fähigkeit zum sympathetischen Fühlen – wird bestimmten Normen des sozialen Handelns, etwa der Verzeihensbereitschaft, zugeordnet und so zu einem Argument erhoben, dessen Lehrgehalt sich vorzüglich in dramatischen Experimenten wie der Sara Sampson prüfen und bestätigen ließ.

Das Stück war beim zeitgenössischen Publikum ein großer Erfolg, doch auf lange Sicht sollten frühe Kritiken wie die von Johann Jakob Dusch Recht behalten, wonach die Handlung des Trauerspiels zu schleppend und unmotiviert erscheint und die Wirkung sich – gleichsam überdeterminiert – in der Erregung von Emotionen und Flüssen von Tränen erschöpft, doch auch das nur in der kurzen Phase, in der die empfindsame Sprache des Herzens vom Publikum verstanden wurde. Das 19. Jahrhundert hat sich mit dem weinerlichen Rührstück wenig befasst, symptomatisch ist das Urteil des Mediziners Paul Albrecht, der auf seiner unermüdlichen Suche nach Plagiaten im Werk Lessings nebenbei die Frage stellte, an welchem Gift die Hauptperson stirbt und diese auch gleich selbst beantwortet: «Am Theatrin!»

Die Schemata von Tugend und Laster, Gut und Böse, Hof und Familie, Verstellung und Natürlichkeit bilden den Ausgangspunkt für zahlreiche Interpretationsversuche, in denen auch auf den neuen Gefühlskult und die im Stück diskutierte Ambivalenz der Empfindungen hingewiesen wird. Nun steht außer Frage, dass der dramatische Konflikt auf einem Fehler des «zärtlichen Herzens», also der Liebesfähigkeit der Titelheldin beruht, der sie von der behüteten Welt des Vaterhauses trennt. Die Tragik entsteht jedoch erst aus ihrer Unfähigkeit, die vom Vater gewährte Verzeihung zu akzeptieren, wodurch sich eine Verbindung zwischen den beiden Welten (und deren Normvorstellungen) wieder herstellen ließe. Verfährt Lessing hier also sozialkritisch, indem er einen Vater-Tochter-Konflikt inszeniert, der die mitfühlenden Zuschauer über fatale, die Persönlichkeit zerstörende Folgen der Tabuisierung weiblicher Sexualität und den schädlichen Zwang familiärer Rollenmuster aufklären soll? Auf solche Standarddeutungen bewegen sich viele Analysen ...

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