Menetekel und Plagiat
Es sah aus wie ein Menetekel. Genau an jenem elften September des Jahres 2001, an dem die politische Weltlage sich mit den Ereignissen in New York schlagartig und alptraumhaft änderte, begann das, was man Bob Dylans ‹Spätwerk› nennen kann. An diesem Tag erschien sein lang erwartetes Album «Love And Theft», wie in New York, so in aller Welt. Dylan hatte es in den Tagen um seinen sechzigsten Geburtstag herum eingespielt, mit seiner exzellenten Tourband und als sein eigener Produzent (unter dem spaßhaften Pseudonym «Jack Frost»). Was als Markierung eines lebensgeschichtlichen Einschnitts und einer werkgeschichtlichen Neuorientierung gedacht war, hörte sich in den Ohren mancher Fans plötzlich an wie eine prophetische Warnung. Waren diese neuen Songs nicht, inmitten ihrer Aneignungen amerikanischer Songtraditionen, erfüllt von den unheilvollen Zeichen von Gewalt, Zerstörung, Zusammenbruch, von genau jenen Tell Tale Signs, die dann sieben Jahre später einer Sammlung von Material unter anderem auch zu diesem Album den unheimlich Poe’schen Titel gaben?[1]
Wer so fragte, übersah, dass Dylans Alben schon von Anfang an, mit zunehmender Tendenz seit seiner Konversion um 1980 und erst recht seit seiner triumphalen Rückkehr mit Time Out Of Mind 1997, mit dunkel apokalyptischen Andeutungen umgegangen waren. Eigentlich hätte man sich kaum eines seiner großen Alben denken können, dessen Veröffentlichung am 11. September 2001 nicht als Menetekel empfunden worden wäre. Neu an «Love And Theft» war im Vergleich dazu viel eher der sonderbar spielerische Charakter, der auch den Szenen von Gewalt und Grausamkeit, Verfall und Tod anhaftete: als sei dies alles eben gerade nicht von der Vehemenz des vertrauten prophetischen Pathos bestimmt, sondern vielmehr von der Indirektheit des Zitats.
Je länger man den zwölf Songs zuhörte, die Dylan zusammengestellt hatte, desto mehr Echos waren zu hören: Spuren des Delta Blues von Charlie Patton, dem einer der Songs ausdrücklich gewidmet ist, und des frühen Rock ’n’ Roll von Chuck Berry (dessen Gitarrenriff man nur im Hintergrund wahrnehmen konnte), Reminiszenzen an Blind Willie McTell und Robert Johnson, die Mississippi Sheiks, Sonny Boy Williamson und Victoria Spivey (mit denen der blutjunge Dylan noch zusammengearbeitet hatte), Entlehnungen aus frühen Swingnummern und einer alten Aufnahme des klassischen crooner Gene Austin und ungezählten weiteren Quellen der amerikanischen Musik.
Erst recht die lyrics erwiesen sich, je länger, je mehr, als randvoll von Übernahmen, ja passagenweise geradezu als Collagen aus fremdem Material. Aufmerksame Kritiker bemerkten, dass ganze Sätze auf «Love And Theft» mit minimalen Abwandlungen aus unterschiedlichen Buchvorlagen übernommen waren. So war in den 1991 in den USA erschienenen Confessions of a Yakuza von Jun’ichi Saga (in der Übersetzung von John Bester) der Satz zu lesen gewesen: «I’m not as cool or forgiving as I might have sounded» – in seinem Song Floater singt Dylan zehn Jahre später: «I’m not quite as cool or forgiving as I sound». Und so fort, allein dem Nachweis der aus diesem Buch zitierten Wendungen auf «Love And Theft» ist bis heute eine eigene Website gewidmet.[2]
Aber das war erst der Anfang. Dylans Album zitierte Shakespeare und Tennessee Williams, Lewis Carrolls Alice In Wonderland und F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Selbst kleine, beiläufige Wendungen wie «leaves are rustling in the woods», in denen niemand überhaupt irgendeinen literarischen Bezug vermutet hätte, erwiesen sich als Übernahmen aus Mark Twains Huckleberry Finn und standen unversehens neben Bibelanspielungen und alten Kinderreimen.
Dabei stießen gerade die in der Dylan-Deutung bevorzugten biographischen Deutungsmuster bei diesen Songs an ihre Grenzen. Nicht wenige der auf Bekenntnisse eingestellten Fans hatten sich schon beim ersten Hören darüber gewundert, wie in Po’ Boy von den Familienverhältnissen die Rede war. «My mother was a daughter of a wealthy farmer», singt Dylan, «My father was a travelin’ salesman, I never met him.» Auch dies ist fast wörtlich aus Sagas Buch entlehnt: «My mother», heißt es dort, «was the daughter of a wealthy farmer», «[she] died when I was eleven», dann: «my father was a traveling salesman … I never met him.»[3] Wenn dann der Sänger des Lonesome Day Blues 2001 den Tod der Mutter beklagte («I wish my mother was still alive»), da klang es wie eine Reaktion auf den Tod von Dylans Mutter Beatty kurz zuvor; sogar der ansonsten gegen biographische Kurzschlüsse zuverlässig gewappnete amerikanische Historiker und Dylan-Kenner Sean Wilentz verstand es so.[4] Aber im selben Song wird auch ein im Krieg gefallener Bruder betrauert («my brother got killed in the war»), wo doch Dylans einziger Bruder David sich guter Gesundheit erfreute. Aber natürlich stammte auch diese Bemerkung aus Sagas Yakuza-Erinnerungen.
So machte bald halblaut, dann immer nachdrücklicher der Vorwurf die Runde, Dylan habe plagiiert. «Plagiarism» war das Schlagwort, das es 2003 bis auf die Titelseite des Wall Street Journal brachte. Es passte allerdings nicht recht zu dem Umstand, dass Dylan selbst mit einigem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sein neues Album es auf eine grundlegende Weise mit Zitaten zu tun hatte. Schon die Schreibweise des Albumtitels gab das zu erkennen. Denn nicht Love And Theft hieß das Album ja, wenn man genau las, sondern «Love And Theft». Zum ersten Mal in Dylans langer Werkgeschichte gehörten die Anführungszeichen zum Text. Rasch war ermittelt, was da zitiert wurde: Eric Lotts gelehrte Abhandlung über die amerikanische Tradition der minstrel shows – davon wird hier im 3. Kapitel noch ausführlich die Rede sein – mit ihren mannigfaltigen Formen der Travestie, ihrer Umschreibung und Transformation literarischer und musikalischer Quellen, kurz: ihrer populären Kunst des Zitats. Lott beschrieb sie als komödiantisch-burleske Vermischung von high culture und popular culture, von Schwarz und Weiß, von Theater, Jahrmarkt und Musik. Diese Zusammenhänge waren es, nicht Anspielungen auf die Apokalypse, was Dylans Album am 11. September 2001 zuerst signalisieren sollte.
Kein Zweifel, die Anführungszeichen im Albumtitel waren so programmatisch wie nur möglich zu verstehen. So wurde denn der Vorwurf des Plagiats immer leiser, je mehr Zitate identifiziert wurden und je deutlicher sich Dylans Arbeit des Aus- und Zuschneidens, der fintenreichen Neukombination, der De- und Rekontextualisierung seines Materials erkennen ließ. Schließlich, so mussten auch die Kritiker zugeben, wäre es am Ende wohl doch sehr viel einfacher gewesen, ganz neue Songs zu verfassen, als diese überaus komplexen Collagen zu basteln. Kein Zweifel, Dylans Album setzte jenes Spiel mit Hoch und Tief, Klassisch und Populär, Alt und Neu, Aneignung und Transformation fort, das Lott an der Tradition der minstrelsy vorgeführt hatte.[5] Auf eine eigenwillige Weise trat «Love And Theft» vom ersten bis zum letzten Song in die Tradition ein, die Love & Theft beschrieb.
Und das Spiel setzte sich auf den folgenden Alben fort. «Love And Theft» markierte, so zeigte sich nun, erst den Beginn einer Schaffensphase, die zu Dylans produktivster Zeit seit den sechziger Jahren werden sollte. So flammten die Debatten über Plagiat und Originalität, Autorschaft und Authentizität bei der Veröffentlichung der folgenden Alben wieder auf, wenn auch mit allmählich nachlassender Heftigkeit. Auf Modern Times 2006 war es der weithin vergessene Südstaatenpoet Henry Timrod (1829–1867), der in der Reihe der Bestohlenen den Platz Jun’ichi Sagas einnahm; Gedichte wie seine Two Portraits, A Vision of Poesy oder A Rhapsody of a Southern Winter Night wurden von Dylan zweckmäßig bearbeitet, zugeschnitten und pointiert[6] und fanden sich, wie zuvor die japanische Autobiographie, in höchst unerwarteter Nachbarschaft wieder – aber wieder dauerte es einige Zeit, ehe findige Hörer die Spuren entdeckt und identifiziert hatten – mit Dichtungen des klassischen Rom, mit Melville und Mark...