Kapitel 2
Der lächelnde Christus von Lérins
Abfahrt in Sénanque, heftige Rückkehr in die Welt. Nach der Zeit der Stille kommt die Normalität überfallartig, sie hat andere Termine. Doch versöhnt die südliche Landschaft und ihre klassischen Namen: Im Massiv der Sainte-Baume, die Zuflucht der heiligen Sünderin Maria Magdalena; der mythische Berg La Sainte-Victoire, der Cézannes Leben geprägt und Peter Handke inspiriert hat; Abzweigungen nach St. Tropez, dem Pilgerort der Reichen und Schönen. Die Autobahn schlängelt sich durch die Ausläufer der Seealpen. Gebirge und Meer in blauen, grünen, manchmal schwarzen Farben. Keine einzige Wolke, hinter den Höhen schon das Mittelmeer.
Sanary-sur-Mer ist ein kleiner Badeort zwischen Marseille und Toulon. In den kritischen Jahren zwischen 1933 und 1940 hat er einer Kolonie namhafter deutscher und österreichischer Schriftsteller Schutz gewährt. Thomas und Klaus Mann, Bert Brecht, Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und viele andere lebten hier in einem zwiespältigen Exil. Die einen mondän, der Rest auf die Großzügigkeit der erfolgreichen Kollegen angewiesen. Die Nachrichten aus der Heimat waren verheerend, die Schergen der Nazis rückten näher. Walter Hasenclever hielt den Druck nicht aus und nahm sich das Leben. Am Tourismus-Pavillon erinnert eine Gedenktafel an die tragische Episode deutscher Literaturgeschichte. Sechsunddreißig Namen sind aufgezeichnet, alles abenteuerliche Geschichten.
Das Meer klatscht gegen die Ufermauer, im späten Winter bereits etwas Strandstimmung. Die leichte Melancholie des Wellenganges, Abschied und Wiederkehr. Weiße Segel in der Bucht, man möchte mit hinaus. Sonderbar, tief im Kloster war auch solche Weite. Péguy hat in einem Mariengedicht geschrieben: „Du gleichst dem Flimmern der Deltas …“ Morgenstern, Seestern, die Attribute der Jungfrau.
Ich bin gerne in Sanary-sur-Mer. Die bunten Fischerboote im Hafen. Mädchen mit wehenden Haaren, die Beine schon gebräunt. Der Hotelier im „Beaujour“ hat noch ein Zimmer frei, ein munterer Typ. Überall hängen Bilder in maritimen Farben. Ringsum in den Gassen lässige Lebensfreude. In der Bar „Gavroche“ zwei Bier, man ist gleich Freund.
Abendmesse in St Jean. Die Kirche vollbesetzt, sogar ein Hund räkelt sich zwischen den Bänken. Eine schöne Frau verteilt in einem langen, weißen Umhang Liedblätter. Am Ausgang küsse ich ihre Hand, sie sagt überrascht: „Merci Monsieur.“ Der junge Priester mischt sich im vollen Ornat unters Volk und begrüßt seine Anhänger in Jeans und Lederjacken. Einer schubst ihn mit der Faust in die Seite. Er schubst zurück.
Im „Bistrot du théâtre“ eine gegrillte Dorade. Dunkler Wein am offenen Feuer. Nachdenken über einen gelungenen Tag.
Anbruch der Nacht auf einer Bank im Hafen. Schiffe erwecken immer eine Impression von Abschied, bereit, alle Sicherheit zu verlassen. Je größer die Dunkelheit, umso stärker die Unsicherheit, das andere Ufer nicht zu erreichen. Ich denke an die tobende See und die vom Untergang bedrohten Jünger. Dann der Herr über den Wassern, die Lichtgestalt über den Abgründen. Auch über unseren eigenen steht der Retter mit ausgestreckter Hand: „Fürchtet euch nicht!“
Doch leuchten in Sanary-sur-Mer die Reklameschriften der Bars und Restaurants. Liebespaare gehen Hand in Hand. Ein Bettler hält seine Mütze hin. Möwen picken sich Brotreste aus den Mülltonnen und verschwinden in den Zypressen. Aus vorbeifahrenden Autos tönt Technomusik. Nur das Meer ist still, eine große schwarze Fläche mit den Lichtern einiger Schiffe. Die Nacht und das Meer, die Freunde der Ewigkeit. Nur die Sterne flackern über dem Turm von St Jean.
Das alte Schiff „Honorat II“ verbindet Sommer wie Winter die Klosterinsel Lérins mit dem Hafen von Cannes. Die Überfahrt dauert nur vierzig Minuten, doch dazwischen liegen Welten. Hier der Jachthafen und das Palazzo des Filmfestivals, dort die Garteninsel der Zisterziensermönche. Seewind kommt auf, die Freiheit auf dem Meer zu sein: mare nostrum, dort wo die Heiligen Kassian und Honoratus kreuzten.
Vorbei an Olivenbäumen und Lavendelfeldern führen verzweigte Wege zur Abtei. Die Rebstöcke säuberlich geschnitten. Zwischen dunklen Kiefern da und dort der ockerfarbene Turm der Kirche, Glockenschläge einer anderen Zeitrechnung. Ringsum nur rauschendes Meer, azurblau. An der Küste Felsen und trockenes Seegras, wie ein Teppich. Die Lust der Möwen und Tauben, zwischen Buchsbäume flieht ein Fasan.
Der Eingang zum Kloster kann mediterraner nicht sein. Hohe, ockerfarbene Wände. In den Nischen Geranien. Hinter den Mauern das Grün der Pinien und Zypressen. Am Himmel kreisen Vögel. Links der Gästetrakt, rechts die Klausur – Zugang verboten. Hinter der Türe beginnt die Zone des Schweigens. Dunkel das Portal der Kirche, erfrischende Kühle, Weihrauchgeruch. Das Chorgestühl glänzt, über dem Altar ein hohes Kreuz, am Eingang erkennt man im Holz eine Silhouette: Christus im gebrochenen Licht. Das Ergreifende leerer Kirchen. Sie holen Atem für das Wesentliche. Ich werde hier Stunden verbringen.
Der Pförtnerbruder Etienne gleicht einem Rugbyspieler. Er möchte gleich die Miete, 40 Euro Vollpension, das ist kein Preis. Dann führt er mich zwischen Rosen und Narzissen in den Gästetrakt. Verwinkelte Treppen, Säulen, Arkaden. Meine Zelle liegt auf der ersten Etage, unten Mandarinen- und Aprikosenbäume, dahinter ausbruchsicher die Klostermauer. Zur Sonnenseite Palmen und Orangen, in den Beeten frühe Rosen. Der Anblick erinnert mich an die Klostergärten auf dem Athos. So früh schon blühende Mimosen und Mandelbäume. In der Ferne das Signal eines Schiffhorns: 16.30 Uhr, das letzte Boot legt ab, zurück in das knisternde Cannes. Jetzt sind wir Gefangene der Schönheit.
Honoratus ist ein Heiliger des frühen Christentums. Ursprünglich wollte er zu Beginn des 5. Jahrhunderts zusammen mit seinem Bruder Venantius in die Wüstenklöster Ägyptens, doch fand dieser während der Reise den Tod. Honoratus kehrte nach Marseille zurück und gründete auf der kleinen Insel Lerina eine Einsiedlerkolonie. Ein Zentralgebäude mit Noviziat und sieben Kapellen für die Eremiten. Es erinnert an den Lebensstil der Väter in der ägyptischen Wüste. Honoratus schrieb die erste Klosterregel des Abendlandes und wurde in Arles von der Bevölkerung zum Bischof gewählt. Das alte Lerina geriet zu einer Insel der Heiligen. Neue Regelversionen entstanden, die Strukturen des Chorgebetes wurden festgelegt. Berühmte englische Mönche schlossen sich der Gemeinschaft an. Als die Sarazenen im 8. Jahrhundert einbrachen, wurde zum Schutz eine befestigte Klosterburg errichtet. Sie steht noch heute robust und trotzig an der Küste. Über dunkle Treppen kann man hinauf zu den Zinnen. Hier haben die Wachen gestanden und die Glocken geläutet. Der Blick geht hinaus auf das Meer. Kein Feind mehr in Sicht.
Die Geschichte der Klöster ist eine Geschichte der Auf- und Abstiege. Auch Lérins konnte den Glanz der Anfänge nicht bewahren. Geschäftige Politik mischte sich ein, Aufhebung drohte, die Revolution besorgte den Rest. Eine Schauspielerin ersteigerte die Ruinen. Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Zisterziensermönche die Tradition von Honoratus wieder auf. Die Beter kehrten zurück.
Ich liebe das Dunkel leerer Kirchen. Aus ihnen kann noch alles kommen. Raum mächtiger Stille. Leere, die nicht leer ist. Armut, erhaben über jeden Besitz. Zugleich faszinierend und beängstigend, die Nähe des Heiligen.
Das matte Holz des Chorgestühls, geschliffen von Tausenden Berührungen. Schmuckloser Stein, es zählt nur noch das Eigentliche. An der Säule vor der Apsis eine Marienstatue, die von den Mönchen verehrte Jungfrau. Sie strahlt viel Demut aus. So schlicht kann Schönheit sein.
In einem Lichtkegel an der Rückfront das Kreuz. Der Herr mit gesenktem Kopf. Doch welche Überraschung! Der Durchbohrte lächelt. Es ist keine Täuschung, kein Schattenspiel im Clair-obscur. Weder Schmerzensmann noch triumphierender Pantokrator. An diesem Ort der Tag- und Nachtgebete ein mysteriöses Zeichen der Zärtlichkeit. Lächeln lädt ein und berührt das Herz. Kein Blut, keine Trauer, keine Schmerzen mehr. Es ist vollbracht. Neue Zeit, alles und immer.
Bruder Gilles ist ein echter Zisterziensermönch. Klein, kräftig, doch mit Augen, als habe er gerade geweint. Er sieht übernächtigt aus und ist doch hellwach. Er kennt keine Scheu, über sehr persönliche Dinge zu sprechen. Der 61-jährige Prior war zuvor für das Theologiestudium der Novizen und die geistliche Begleitung der Gäste verantwortlich. Fragt man ihn jedoch nach seiner eigentlichen Funktion, sagt er sogleich: Gott suchen.
So ist er. Nachdenklicher Beantworter ohne Zögern. Was ihn umtreibt, ist die Frage des klösterlichen Nachwuchses. Seit 1990 ist kein Kandidat geblieben. Jung einzutreten bedeute eine Chance, mehr Frische. Die heutigen Postulanten sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Doch weiß er zu relativieren: In anderen Gemeinschaften seiner Kongregation in Québec, Italien und vor allem in Vietnam sieht es anders aus. Seit 1990 ist im fernöstlichen Kloster die Zahl der Mönche von 5 auf 50 gestiegen.
Bruder Gilles liebt das Gespräch mit jungen Menschen und macht sich über die Situation der Zeit keine Illusionen: „Sie sind großherzig, scheuen jedoch als 20- bis 30-Jährige ein Engagement. Das ist nicht dramatisch, manche ziehen zunächst einen Job in fernen Ländern vor.“ Die Distanzen zwischen Kirche, Welt und Kloster hält er für enorm. Deshalb hat man, in der Nähe der Anlegestelle des Klosters, eine Stiftung gegründet, die außerhalb der Kirche...