Ein Mann will nach unten
Warum ich dem Bösen
auf den Abgrund gehen will
»Wer kann Hinweise geben?«, steht auf dem Polizei-Plakat, das an einer Hauswand klebt. Jemand hat ein Gebäude in der Nachbarschaft angezündet. Eine Mutter und ihre drei Kinder sind in den Flammen umgekommen. Dabei sieht die Straße im Zentrum von Berlin ganz friedlich aus. Einige Mädchen kommen mir auf Fahrrädern entgegen. Vielleicht kannten sie die Opfer, haben mit ihnen gelacht und gealbert, bevor das Böse zugeschlagen hat. Mein Blick wandert zwischen ihnen und dem Plakat hin und her. Ich bin zu einem Freund unterwegs. Aber die Lust auf eine lockere Unterhaltung ist mir vergangen. Die Fragilität des Lebens wird mir mit einem Schlag bewusst. Als ich die Straße entlanggehe, beäuge ich die Passanten eine Spur misstrauischer.
Eigentlich bin ich Experte für das Böse. Durch meinen beruflichen Alltag zieht sich eine Blutspur. Ich arbeite schließlich als Nachrichtenjournalist. Und schlechte Nachrichten sind, gemessen an Einschaltquoten und Auflagenzahlen, gute Nachrichten. Das kennt jeder Autofahrer. Mehr als die schönste Landschaft fesselt der Anblick eines Autowracks, vor allem, wenn es noch raucht. Noch größer werden unsere Augen, wenn wir sehen, wie Menschen aufeinander losgehen. Oder wie massakrierte Leichen herumliegen. So sind wir. Unglücksjunkies. Solange es um das Unglück der anderen geht. Wenn anderen eine Grube gegraben wird, stehen wir daneben und gucken fasziniert zu. Zumindest, wenn wir es bequem vom Fernsehsessel aus tun können. Oder wie ich vom Redakteursstuhl.
Trotzdem wird mir immer wieder bewusst, wie wenig ich tatsächlich vom Bösen verstehe. Von seinen Ursachen, seinem Wesen, seinen Auswirkungen. Vielleicht hätte ich statt Geschichte und Filmwissenschaften lieber Theologie und Philosophie studieren sollen. Oder einfach gründlicher recherchieren, was sich hinter den negativen Schlagzeilen tatsächlich verbirgt.
Zugegeben: Mit den besonders schrecklichen Auswüchsen menschlichen Fehlverhaltens werde auch ich nur selten konfrontiert. Ich bin politischer Korrespondent. Das heißt: Meistens beschäftige ich mich mit Menschen, die zivilisiert miteinander umgehen. Zumindest nach außen hin. Die Spitzenpolitiker, die in meinen Beiträgen zu Wort kommen, haben nicht mehr und nicht weniger kriminelle Energie als andere Bürger. Manche lassen sich im Urlaub von ihren reichen Freunden freihalten. Andere schreiben bei ihrer Doktorarbeit ab. Kleinkram.
Doch zuweilen bricht das nackte Grauen ohne Vorwarnung auch in meine Arbeit ein. Dann stehe ich mit meinen Kollegen zusammen, und wir schütteln fassungslos die Köpfe, bevor wir uns an die Arbeit machen. Bilder drehen. Reaktionen einholen. Das Unfassbare in Zwei-Minuten-Beiträge packen. Ich habe in meinen zehn Jahren als Hauptstadtkorrespondent mehrere Hundert Pressekonferenzen besucht, mehrere Tausend Interviews geführt, unzählige Informationen zu Beiträgen aufbereitet. Das meiste davon habe ich vergessen. Woran ich mich erinnere, sind die Momente, in denen ich gespürt habe, dass ich gerade mit dem unverhüllt Bösen konfrontiert werde.
Wie damals an einem sonnigen Spätsommernachmittag, als ich mich auf einen frühen Dienstschluss freute und auf meinem Computermonitor plötzlich eine Eilmeldung rot aufleuchtete: Angriff auf das World Trade Center. Ein paar Minuten später stand ich mit anderen Kollegen und dem Chefredakteur in dessen Büro, und wir starrten fassungslos auf den Bildschirm, auf dem sich das zweite Flugzeug in den anderen Turm bohrte und beide Türme kurz darauf kollabierten.
Oder damals auf dem Kongress in Berlin, auf dem ich Jugendlichen etwas über gesellschaftliche Verantwortung erzählen sollte, als die Nachricht vom Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hereinplatzte. Ich wurde zurück zu meinem Sender kommandiert, um beim ARD-Brennpunkt mitzuhelfen, und musste 200 junge Leute verstört und fragend zurücklassen.
Oder beim Besuch der Deutschen Botschaft in Bagdad. Ich schlenderte auf dem von fünf Sicherheitsmauern umgebenen Innenhof herum. Ein Wachmann bot mir an, mir die Stelle zu zeigen, an der ein paar Monate zuvor eine Bombe die äußerste Mauer zerstört hatte. Der Sprengsatz hatte auch seine linke Gesichtshälfte weggesprengt – und den Kopf seines Bruders.
Oder auf dem Rückflug von Afghanistan. Dort hatte ich über den Beginn des Truppenabzugs berichtet. Wir waren in einem Panzerwagen herumkutschiert worden. Zusätzlich mussten wir uns kugelsichere Westen umschnallen. Es passierte nichts. Keine Bombenattentate. Keine tödlichen Schüsse. Im gefährlichsten Land der Welt hatte das Böse eine Pause eingelegt. Kurz bevor wir in Berlin landeten, kam ein erschütterter Guido Westerwelle in den hinteren Teil des Flugzeugs gelaufen: Der Außenminister meldete, dass in Norwegen ein Attentat verübt worden war. Über Täter und Hintergründe hatte er noch keine Informationen.
Wir zeichneten rasch ein Interview mit ihm auf. Westerwelle zeigte sich betroffen und drückte sein Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer aus. Er hätte sich natürlich viel drastischer geäußert, wenn er die tatsächliche Dimension des Verbrechens und den wahren Täter gekannt hätte. Ein milchgesichtiger Junggeselle, Anders Breivik, hatte planvoll 77 Leben ausgelöscht. Unter seinen Opfern befanden sich vor allem idealistische Jugendliche, die auf einer idyllischen Insel über eine bessere Welt diskutierten. Die Mordtat ereignete sich ausgerechnet in und kurz vor Oslo, einer der friedlichsten Hauptstädte der Welt. Als ich das letzte Mal dort gewesen war, hatten junge Leute auf der Hauptstraße Gratis-Umarmungen an wildfremde Menschen verteilt.
Wir werden immer öfter mit dem Bösen konfrontiert, weil es im Internetzeitalter immer weniger Geheimnisse gibt. Früher konnten Leichenberge noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit verscharrt werden. Heute findet sich immer jemand, der eine Handykamera draufhält und den Clip anschließend um die Welt schickt.
Wer sich für das Böse interessiert, muss allerdings nicht Youtube-Clips aus Norwegen, Syrien, dem Iran oder dem Jemen angucken.
Das Böse ist auch unter uns.
Dabei denke ich nicht nur an die Salafisten, die an Bahnhöfen scheinbar harmlos Korane verteilen, während ihre Gesinnungsgenossen in anderen Ländern Kirchen abbrennen und Andersgläubige töten. Oder an die Neonazi-Szene, die in der Mordserie des selbst ernannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« ihre militante Fratze gezeigt hat. Oder an die ehemaligen Wärter des Stasi-Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen, die jahrzehntelang Regimegegner drangsaliert haben und jetzt immer noch Informationsabende über die SED-Diktatur mit pöbelnden Zwischenrufen sprengen. Oder an in Deutschland illegal arbeitende Prostituierte, denen die Kinder nach der Geburt weggenommen werden, um sie an Pädophile zu verkaufen.
Ich denke auch an Alltagsschurken, die unbemerkt von der Öffentlichkeit ihren Mitmenschen die Lebensfreude rauben: prügelnde Eltern, betrügerische Geschäftsleute, sadistische Lebenspartner, verleumderische Nachbarn.
Mir kommt eine Freundin in den Sinn, die mir irgendwann die Ursache für ihre nicht enden wollende Traurigkeit erzählte. Sie war als Studentin vergewaltigt worden, und mit der Erinnerung an dieses Trauma schlief sie jeden Abend ein, um mit demselben Gedanken wieder aufzuwachen. Sie hatte den Täter vorher gekannt und wollte über seine Person nur so viel sagen: »Er sagte, er sei mein Freund.«
Dann ist da noch der junge Mann, der mir den Grund für seinen Hass auf das Christentum erzählte. Er war in einer angeblich strenggläubigen Familie aufgewachsen. Sein Vater hatte ihn jahrelang missbraucht. Sowohl seine Mutter als auch die Leitung der Kirchengemeinde hatten die Tat gedeckt oder zumindest nicht auf die Hilferufe des Jungen reagiert.
So schlimm wie weitverbreitet sind auch die Erfahrungen eines Freundes. Ich traf ihn auf einem Sommerfest, nachdem er gerade aus der Reha-Klinik entlassen worden war. Sein Chef hatte ihn in das Burn-out gemobbt. Kaum war mein Freund zurück an seinem Arbeitsplatz, setzte der Boss die Schikanen fort. »Er hat einfach Spaß daran, Menschen zu demütigen und zu quälen«, sagte mein Freund, während seine Frau tröstend ihren Arm um ihn legte. Und ich habe mich gefragt: Was hat zu der charakterlichen Deformation dieses Vorgesetzten geführt? Und welche Möglichkeiten gibt es für einen Untergebenen, sich gegen solche giftigen Attacken zu immunisieren?
Was ist das Böse und wie kann es bekämpft werden? Vor allem diesen beiden Fragen will ich nachgehen. Deshalb habe ich diesen Anti-Böse-Ratgeber verfasst. Er bildet einen Gegenakzent zu den vielen Anleitungen zum Glücklichwerden und zur Daseinsoptimierung. In der ersten Hälfte des Buches beschreibe ich das Gift und seine Wirkung. In der zweiten Hälfte skizziere ich mögliche Gegenmaßnahmen. Mein Ziel ist es, dabei zu helfen, das Böse zwar nicht zu eliminieren, aber zu reduzieren.
Das Böse zu outen.
Das Böse zu beschreiben und zu erklären.
Das Böse in die Defensive zu bringen.
Denn das Böse breitet sich da aus, wo es unerkannt, unverstanden und unwidersprochen bleibt. Wo es ohne Aufmerksamkeit und ohne Gegenwehr verstören und vergiften kann.
Wie wichtig Schlechtigkeitsprophylaxe ist, wusste keiner besser als Jesus. Man muss nur das bekannteste Gebet der Christenheit lesen, das Vaterunser. Jesus beginnt mit einer Anrede des Allmächtigen: »Vater unser im Himmel«. Dann folgen sieben Bitten, von denen die ersten drei der Verherrlichung Gottes gewidmet sind (»Dein Name werde geheiligt,...