Kapitel 1
„Ich nehm mir, was ich kriegen kann.“
Warum Menschen kriminell werden
Die Unterlagen von Paul liegen vor mir. Der Satz am Ende meiner Notizen von der letzten Sitzung mit dem Sechzehnjährigen lautet: „Paul zeigt immer noch keine Reue.“
Es läutet. Da ist er. Leicht außer Atem und wieder einmal ein wenig verspätet. Ich reiche ihm die Hand. Mittlerweile muss ich schon ziemlich aufschauen, um in sein Gesicht zu sehen.
Paul ist guter Dinge, frohgemut und setzt sich auf die Couch. Er macht es sich gerne bequem. Bis er seine richtige Sitzposition gefunden hat, dauert es eine Weile. Wie oft in letzter Zeit kann er sich einen leichten Seitenhieb auf meine Kleidung nicht ersparen:
„Hey, diese weiße Cordhose stammt ja wohl noch aus den Achtzigern …“
„Stimmt“, antworte ich, „wenn nicht sogar aus den Siebzigern. Aber du siehst heute gut aus.“
„Ja, alles neu“, erzählt Paul stolz und schaut an sich herunter. „Die schwarze Jeans“, die wie jede Hose an ihm weit unten hängt, „ist von Fishbone. Aber vor allem der Gürtel“, dabei zeigt er auf das weiße Prachtstück mit einer überdimensionierten grauen Metallschnalle, die wie eine kleine Ziegelmauer aussieht, „die ist von Jeans only, der letzte Schrei.“
Ich stutze. Der letzte Schrei – das ist doch ein Ausdruck aus den Siebzigern. So redet doch heute kein Jugendlicher! Stellt sich dieser Junge etwa so gut auf mich ein? Will er auch mich so manipulieren, wie er es mit allen Menschen in seiner Umgebung macht? Einen Moment lang fühle ich mich düpiert, aber dann sage ich mir selbst: Warum sollte gerade ich eine Ausnahme sein?
Paul schaut mich kurz etwas irritiert an und fährt dann fort: „Mein Hemd“, ebenfalls schwarz und im Militärlook, „ist auch von Fishbone, war nicht billig!“ Stolz zeigt Paudann noch sein schwarzes Superman-Leibchen. In diesem Moment sehe ich vor mir das Bild, wie Paul als Erwachsener, im Maßanzug und perfekt gestylt, gestandene Wirtschaftsmanager über den Tisch zieht.
„Aber die Socken“, dabei zeige ich schmunzelnd auf seine alten, leicht zerfledderten hellgrauen Frotteesocken, „das ist ja ein richtiger Stilbruch. Sind die von Aldi?“
„Ich hatte es eilig“, antwortet Paul auffallend ruhig. Dann kontert er spielerisch aufgebracht mit einem schelmischen Lächeln: „Du hast es nötig, du mit deiner weißen Hose!“ Lachend beschließen wir unser Eingangsritual.
„Letzte Woche hatte ich riesiges Glück“, sagt Paul.
„Wie zeigte sich denn dein Glück?“, frage ich nach.
„Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich ein Sparbuch gefunden habe. Das gehört einem alten Bauern im Altersheim. Der liegt im Koma und stirbt wahrscheinlich in den nächsten Tagen.“
„Ich dachte, du wolltest das Sparbuch zurückgeben“, setze ich nach.
„Wieso, der hat doch keine Erben und er selber kann damit nichts mehr anfangen.“
„Ja, aber ohne Passwort hast du keine Chance.“
„Mein Lehrer, der war mal Rechtspfleger und meint, dass in so einem Fall ein Totenschein ausreicht, damit die 12534 Euro mir gehören.“
Die Summe schockiert mich, die Höhe war mir neu. „Was du machst, ist nicht in Ordnung, das ist nicht legal“, beziehe ich Stellung.
„Ja, ja“, meint Paul, „aber ich tue doch niemandem weh, ich schade niemandem.“
„Und den Erben? Du kannst nicht sicher sein, dass es keine gibt.“
„Um den Mann hat sich doch niemand gekümmert, also gehört das Geld mir. – Aber das ist nur ein Teil meines Glücks“, fährt Paul fort. „Mein Opa war letztes Wochenende mit seinem Fahrrad am Kirchenflohmarkt und dort hat man ihm sein Rad gestohlen. Weil er so an seinem Rad hängt, ein Erbstück von seinem verstorbenen Bruder, hat er mir eine Belohnung von 150 Euro versprochen, wenn ich das Rad wieder auftreibe. Ich habe dann im Pfarramt angerufen. Sein Rad war gar nicht gestohlen worden. Ich habe es einfach abgeholt, aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Hundert Euro habe ich schon gekriegt, die restlichen 50 bekomme ich morgen, dann gibt es wieder neue Klamotten.“
Bevor ich ihn auf das moralische Dilemma aufmerksam machen kann, setzt Paul fort: „Ach ja, und sehr wahrscheinlich habe ich jetzt eine Lehrstelle.“
Das erstaunt mich jetzt wirklich. Paul, der laut Arbeitsmarktservice so gut wie keine Chancen auf eine Lehrstelle hatte, schon seines miserablen Schulabschlusszeugnisses wegen. Spontan stehe ich auf, reiche Paul die Hand und gratuliere. „Erzähl!“, fordere ich ihn auf.
„Ja, ich war im Baumarkt, da musste ich mit 25 anderen einen Test machen. Stell dir vor, ich habe den zweitbesten Test geschrieben. Von 102 Fragen habe ich 98 richtig. Die schulischen Noten sagen gar nichts aus, ich bin eben doch ein Genie. Die nehmen nur drei Lehrlinge. Mit dem Juniorchef habe ich auch gesprochen, der war richtig begeistert von mir, von meiner ‚Ausstrahlung‘ hat er gesagt. Die Lehrstelle habe ich.“
Wir freuen uns eine Zeit lang gemeinsam. Dann frage ich ihn: „Wird dir deine Vorstrafe diese Lehrstelle nicht vermasseln?“
„Das ist doch Quatsch“, sagt Paul leicht aufgebracht, „es steht noch nicht fest, wann die Verhandlung ist. Jetzt kann ich noch ein positives Leumundszeugnis vorlegen und wenn ich dann die Lehrstelle habe, können die mich nicht mehr hinauswerfen. Im ersten Lehrjahr verdiene ich zwar wenig, aber mit dem zweiten wird das schon ganz gut“, lenkt Paul das Gespräch wieder auf das Geld, auf das für ihn wesentliche Thema.
„Eigentlich schön blöd von dir, wegen 200 Euro 35 Zeitungskassen aufzuknacken“, stelle ich in den Raum.
„Ja, ja, das habe ich bei den Bullen so gesagt. In Wirklichkeit waren es 800 Euro und so an die 70 Zeitungskassen.“ Dabei grinst er mich an und seine blauen Augen strahlen mit seinen Zähnen um die Wette. Nichts kann heute sein Glück trüben.
Adel schützt vor Schande nicht
Paul stiehlt und lügt schon sehr lange. Bereits in der Schule steckte er wahllos Buntstifte, Füllfederhalter, Radiergummis und Comichefte der Mitschüler ein. Nichts war vor ihm sicher. Nicht einmal die Geldtasche seiner freundlichen und schon etwas betagten Nachbarin, die ihn dann doch anzeigte. Für diesen Diebstahl musste Paul im Rahmen eines außergerichtlichen Tatausgleichs soziale Dienste in einem Kinderheim leisten. Dafür hat er der alten Frau das Blumenbeet verwüstet, was zu einer weiteren Strafanzeige führte.
Paul kennt keine Reue. Vom Verstand her weiß er sehr wohl, was legal und was illegal ist, was Mein und Dein ist. Aber es schert ihn nicht die Bohne. Obwohl er in den Momenten, in denen er seinen reichlich vorhandenen Intellekt gebraucht, ganz klar einschätzen kann, welche Konsequenzen sein Verhalten für ihn selbst und für andere haben kann, gelingt es ihm nicht, auf der richtigen Seite des Gesetzes und des Anstands zu bleiben. Er priorisiert seinen eigenen kurzfristigen Vorteil gegenüber dem Wohlergehen aller anderen Menschen und auch gegenüber seinem eigenen langfristigen Wohlergehen. Ich mache mir keine Illusionen: Auch mich würde er betrügen, wenn er dazu die Gelegenheit bekäme. Und von seiner Seite aus würde so etwas unser Verhältnis nicht einmal trüben, geschweige denn zerstören, denn so etwas steht für ihn auf einem ganz anderen Blatt.
Was geht in so einem Menschen vor? Es scheint, als würde in seiner Persönlichkeit eine Lücke klaffen, als würde ein komplettes Stück vom Ich fehlen. Ein Stück, das wir Menschen brauchen, um friedlich zusammenleben zu können, und das dafür sorgt, dass wir ehrlich bleiben. Warum hat Paul diese Instanz in seinem Innern nicht, die ihm sagt, wie er urteilen soll, die ihm zuflüstert, wie er handeln soll? Was hat ihn daran gehindert, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erlernen? Welche Faktoren gaben dafür den Ausschlag? Sein Elternhaus? Ist es ein Problem der sozialen Schicht? Wäre es anders geworden, wenn er in geordneten Verhältnissen und Wohlstand aufgewachsen wäre?
Dass Letzteres nicht ausreicht, ein ehrlicher Mensch zu werden, führte uns der deutsche Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg eindrucksvoll vor. Er kommt aus einer altehrwürdigen, einflussreichen Familie, ist wohlhabend, gebildet, hat studiert, legte eine Traumkarriere hin und ist mit einer bildhübschen und ebenfalls adeligen Frau und zwei nett aussehenden und gesunden Töchtern gesegnet. Karl-Theodor hat alles, wovon ein Mann nur träumen kann. Und doch: Seine Dissertation hat er schlicht und einfach geklaut. Wie die Universität Bayreuth in ihrem Gutachten vom 6. Mai 2011 schrieb, besteht die Doktorarbeit des Freiherrn von und zu Guttenberg zu circa 65 Prozent aus Plagiaten.
Hat er je öffentlich aufrichtig Entschuldigung gesagt? Von wegen. Genau das sagte Karl-Theodor nicht! Und darin liegt für mich das eigentliche Armutszeugnis der Persönlichkeit dieses geistigen Diebes. Er, eigentlich ein gestandener Mann, hatte gelogen. Wie ein Schulkind, das eine schlechte Note verschweigt. Nachdem der Vorwurf im Raum stand, steckte er den Kopf in den Sand und frettete sich von Tag zu Tag. Obwohl ganz klar war, dass irgendwann alles in vollem Ausmaß ans Tageslicht kommen sollte. Wie eine Schlange wand sich der windige Freiherr. Obwohl er ganz genau wusste, was er getan hatte, sah er nicht ein, dass er damit Schuld auf sich geladen hatte. Diese merkwürdige Diskrepanz zwischen der Realität der Tat einerseits und dem fehlenden Eingeständnis der Schuld andererseits, diese unreife Uneinsichtigkeit, ist für mich...