GOTT IST DA. Am Anfang und am Ende und zu aller Zeit. In den guten Zeiten und in den schlechten Zeiten. Auch dann, wenn wir nichts von ihm spüren können. Manchmal merken wir erst viel später, dass Gott uns die ganze Zeit begleitet hat. Das war schon immer so. Anderen vor uns ist es genauso gegangen.
Ich denke an die biblische Geschichte von den Emmausjüngern. Tief verstört sind sie unterwegs. Alles, was ihr Leben ausgemacht hat, ist zusammengebrochen. Jesus, ihr großer Lehrer, ist gekreuzigt und begraben worden. Wie es weitergehen soll, das wissen sie nicht. Plötzlich gesellt sich ein Dritter zu ihnen. Es ist Jesus selbst. Aber die beiden Jünger erkennen ihn nicht. Lange sind sie gemeinsam unterwegs. Schließlich finden sie – es ist Abend geworden – einen Platz zum Übernachten und bitten den Fremden, bei ihnen zu bleiben. Und als er das Brot bricht, erkennen sie ihn.
Wie oft mag Gott mit uns unterwegs sein – und wir erkennen ihn nicht?
Wie zeigt er sich uns? Gott lässt sich nicht herbeizitieren. Gott ist nicht verfügbar. Gott bleibt am Ende ein Geheimnis. Es gibt keine fest vorgezeichneten Wege zu Gott. Aber Wegweiser, die gibt es schon. Davon erzählt die Bibel.
Mir ist es wichtig, jeden Tag mit einem Bibelvers zu beginnen. Deshalb lese ich morgens die sogenannte „Herrnhuter Losung“. Die Losungen heißen so, weil sie wirklich Jahre vorher aus einem großen Topf mit Tausenden von Bibelzitaten für jeden Tag des Jahres ausgelost werden. Immer wieder staune ich darüber, wie sehr diese Bibelverse manchmal genau in die Situation hineinsprechen, so als ob sie genau für mich und genau für diese Situation ausgesucht worden seien. Die biblischen Texte sind einfach zeitlos aussagekräftig.
Manchmal unterbreche ich meinen Alltag und halte inne zum Gebet, unterwegs auf Reisen, am Schreibtisch im Büro oder auch nach einem Gespräch. Es gibt nicht die eine richtige Art zu beten, so wie es nicht die eine richtige Art des Gottesdienstbesuchs gibt oder des richtigen Gebrauchs der Bibel. Wenn ich selbst keine Worte finde, dann bete ich das „Vaterunser“ – das Gebet, das Jesus selbst uns gelehrt hat.
Immer wieder spreche ich mit Menschen, die wissen wollen, wie man glauben lernen kann. Vielleicht ist die wichtigste Antwort, dass es eben genau keinen Standardweg gibt. Von eigenen Erfahrungen zu erzählen, kann vielleicht helfen, aber es kann nie den eigenen persönlichen Weg zum Glauben vorzeichnen oder gar ersetzen. Und es gibt Grenzen dessen, was man über den eigenen Glauben erzählen kann. Es gibt so etwas wie eine religiöse Scham. Der Glaube ist auch etwas Persönliches. Manches im eigenen Glauben kann auch dadurch entwertet werden, dass man es nach außen preisgibt.
Aber ein wenig kann ich schon von der Entwicklung meines eigenen Glaubens erzählen. Ich bin – das hat natürlich eine zentrale Rolle gespielt – in einem Pfarrhaus aufgewachsen. Wir waren von klein auf im Gottesdienst, bekamen die biblischen Geschichten erzählt. Am Tisch wurde gebetet, das Gebet am Abend vor dem Einschlafen gab Geborgenheit. Später als Jugendlicher half ich im Kindergottesdienst. Ich kann mich noch an einen sonntäglichen Interessenkonflikt zwischen „Urmel aus dem Eis“ im Fernsehen und dem Gottesdienstbesuch erinnern. Wie oft er zugunsten von Urmel ausfiel, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass meine Eltern uns nicht in den Gottesdienst zwangen. Sie haben mir damit Raum gegeben, meine Gottesbeziehung aus Freiheit zu entwickeln. Bei mir gab es kein datierbares Bekehrungserlebnis, mein Weg zum Glauben war eher ein Prozess.
Während meines gerade begonnenen Jurastudiums merkte ich: Viel zu oft, wenn es thematisch richtig spannend wurde, wenn die Grundsatzfragen gestellt wurden, bekam ich keine für mich überzeugenden Antworten. Das Recht entsteht im Gesetzgebungsverfahren. Das muss man dann auslegen und umsetzen. Aber ob Recht auch gerecht ist, warum man das Recht so formuliert und nicht anders, ob es vielleicht auch Gesetze geben könnte, die zu befolgen moralisch falsch wäre, das war kein zentrales Thema. Wir haben zwar in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften und an den Abenden gemeinsam darüber diskutiert, aber im Studienplan spielte es nur eine Nebenrolle.
In dieser Zeit fing ich an, vermehrt in der Bibel zu lesen. Die Texte haben mich fasziniert, auch wenn ich viele schon aus meiner Kindheit kannte, aber so aktiv in der Bibel zu lesen war für mich neu. Ich war fasziniert von der Bergpredigt oder den Jesaja-Verheißungen. Das sind so unglaublich tolle Worte, da spürt man richtig, wie es heil wird im Herzen.
Ich bin wieder häufiger in den Gottesdienst gegangen. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Selbst wenn ich einmal mit einer Predigt nur begrenzt etwas anfangen konnte, habe ich mir immer vorgenommen, dass ich mir in diesem Gottesdienst etwas sagen lasse. Und so war es dann auch.
Für mich hat die Bibel den entscheidenden Unterschied gemacht. Ich habe die ungeheure Tragfähigkeit und Tiefe des Psalms 23 immer mehr gespürt. Ich habe darin die Nähe Gottes zu spüren gelernt. Gott ist für uns wie ein guter Hirte und geht mit uns auf unserem Lebensweg. Er weidet uns wirklich auf einer grünen Aue und führt uns zum frischen Wasser. Er wandert mit uns im finsteren Tal, so dass wir kein Unglück fürchten müssen. Das habe ich erfahren – wie viele andere.
Das war mein Weg. Andere werden andere Wege zum Glauben an Gott finden. Es gibt keinen allgemeingültigen, keinen vorgeschriebenen Weg. Und jeder Weg bleibt ein Wagnis.
SEHEN LERNEN
Es gibt im Johannesevangelium eine Geschichte, die mich immer wieder begeistert: „Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“
„Er kam sehend wieder.“ Ich freue mich immer wieder darüber, dass sich mit diesem Satz eine Tür öffnet. Es ist eine Tür aus der dunklen Kammer in den weiten, hellen Raum, aus dem Gefängnis in die Freiheit, aus der Verzweiflung in die Hoffnung.
Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ Die Heilung des Blinden soll uns eine Sehhilfe sein für das, was Gott jeden Tag an uns tut. Es ist ein Perspektivwechsel, von dem da die Rede ist.
Wir wollen Gründe haben, wieso es sich lohnt. Wir wollen immer wissen: Warum ist es so gekommen? Und Jesus sagt einfach nur: Schau auf das, was geschieht, und nimm es wahr!
Mir ist diese Geschichte so wichtig, weil sie zeigt, wie ein Mensch durch die Beziehung zu Jesus sehen lernen kann. Und dieses Sehen-Lernen ist weit mehr als ein augenoptischer Vorgang. Es ist ein Sehen-Lernen der Seele. Jemand lernt die Menschen um sich herum zu sehen. Er lernt sie wahrzunehmen. Er lernt sie anzunehmen und versteht, dass die anderen sind wie er selbst. Die anderen lieben zu lernen wie mich selbst – diese Erfahrung kann jeder machen.
So vieles in unseren Beziehungen läuft schief, weil wir einander nicht sehen. In unseren Partnerschaften ist es oft das Blindsein füreinander, wodurch sich Zwietracht einnistet. Da steht jemand morgens auf und kommt in gedrückter Stimmung zum Frühstück. Ein falsches Wort und es kommt zum Konflikt. In Situationen wie diesen, die wohl jeder kennt, hilft es, wenn wir verstehen, was den anderen bedrückt! Vielleicht war es ein unbedachtes, verletzendes Wort des anderen am Vorabend. Ein Wort, das hängengeblieben und eben nicht im Schlaf verflogen ist. Vielleicht ist es einfach eine Unausgeglichenheit, für die es noch nicht mal einen Grund zu geben braucht.
Wenn das Herz offen und die Bereitschaft da ist, den anderen wirklich als Ganzes zu sehen, dann braucht es manchmal nicht einmal viele Worte.
Es ist für mich immer eine besondere Zeit, wenn ich nach dem Gottesdienst am Kirchenausgang den Kirchgängern die Hand gebe. Obwohl da ja nie viel Zeit mit jedem Einzelnen ist, entstehen manchmal ganz kurze, aber intensive wechselseitige Begegnungen. Wenn ein Kummer herausbricht, verspreche ich, dass ich für diesen Menschen bete. Und das tue ich dann auch, weil mir das Gesicht im Kopf bleibt und diese Begegnung. Andere sehen zu lernen, macht unser eigenes Leben reicher.
Ich lerne Gottes Wirken in meinem Leben zu sehen und werde dankbar für den ganzen Reichtum, den Gott in mein Leben gibt und den ich so oft für selbstverständlich nehme.
FREIHEIT, DIE ICH MEINE
Was sich so mancher, der schlechte Erfahrungen mit dem Christentum gemacht hat, der es vielleicht als autoritär oder lebensfeindlich wahrgenommen hat, gar nicht vorstellen kann: Leben mit Gott bedeutet ein Leben in Freiheit. In Kapitel 5 des Galaterbriefs sagt Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Denn (…) in Christus Jesus gilt der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“
Wer einmal eingesperrt war, kann das nicht so leicht vergessen. Wer sich nicht frei bewegen kann, der weiß die...