Inhaltsverzeichnis1. Dirk Nowitzki
»You’re meeting Dirk? Are you fucking joking?«
Eine andere Liga
3. Mai 2012
Meine Jahre mit Dirk Nowitzki begannen in einem Flugzeug über dem Atlantik. Ich hatte gerade ein Buch über die Welt der Basketballprofis von Alba Berlin geschrieben. Ich war gut im Thema und hatte dem ZEITmagazin deshalb auf gut Glück eine Reportage über Nowitzki angeboten. Seine Karriere hatte ich komplett verfolgt, er hatte mich immer fasziniert, und die Meisterschaft seiner Mavericks im letzten Sommer war mir – wie so vielen anderen auch – ziemlich nahegegangen.
Mein Vorschlag war einfach und zugegebenermaßen nicht ganz uneigennützig gewesen: Ich würde mir in Dallas ein paar spannende Playoff-Spiele ansehen, texanisches Barbecue essen, Dirk Nowitzki persönlich treffen, mein Bild von ihm überprüfen und anschließend ein Porträt schreiben, um von seiner Bedeutung für seine Stadt, seine Sportart und für mich zu erzählen. Nichts leichter als das, nichts lieber. Ich wollte zwei Wochen damit zubringen, dann hätte ich das Phänomen Nowitzki begriffen und erzählt. Zu meiner Überraschung hatte der Redakteur zugesagt, und jetzt war ich tatsächlich unterwegs nach Dallas, Texas. Ich wusste nicht, dass meine Reise zu Dirk Nowitzki sieben lange Jahre dauern würde. Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Auf den billigen Plätzen war an Schlaf nicht zu denken, also versuchte ich zu lesen: eine eilig aus dem Regal gefischte Novelle von F. Scott Fitzgerald, zwei fotokopierte Tennis-Essays von David Foster Wallace (»Roger Federer as Religious Experience« und »String Theory«). Und zwei Dirk-Nowitzki-Biografien. Ich wollte vorbereitet sein. Es war mein erster Besuch in Dallas, gleich heute Abend würde ich zum ersten Mal die Halle der Mavericks betreten. Ich freute mich.
Vielleicht lag es am Whisky, den mir der schwere Ingenieur neben mir in die Hand drückte, dass ich nicht zum Lesen kam. Charles war sein Name, er stammte aus einer Kleinstadt in Oklahoma. Er hatte meine Nowitzki-Bücher gesehen, mir zugenickt und kurzerhand für mich mitbestellt. Vor ihm lag der Sportteil der USA Today, also fingen wir an über Basketball zu diskutieren. Charles’ Team, die Oklahoma City Thunder, waren heute Abend der Gegner der Mavericks, erste Playoff-Runde, die ersten beiden Spiele waren bereits gespielt. Das erste hatte Oklahoma mit nur einem Punkt Unterschied gewonnen, 99:98, das zweite war ebenfalls eng gewesen, 102:99. Nowitzki hatte 25 und 31 Punkte erzielt, er war der beste Werfer gewesen. Beide Spiele hätten die Mavericks gewinnen können, am Ende hatten Winzigkeiten entschieden. Nowitzki hatte im zweiten Spiel den Sieg in den Händen gehabt, dann aber eine Minute vor Schluss einen offenen Dreier verworfen.
Im Jahr zuvor waren die beiden Teams schon einmal aufeinandergetroffen. Dallas hatte damals die Serie 4–1 gewonnen und war anschließend Meister geworden. Dirk Nowitzki hatte den vielleicht besten Basketball seiner Karriere gespielt. Die drei jungen Nachwuchsstars der Thunder – Kevin Durant, Russell Westbrook und James Harden – waren die Zukunft des Spiels, aber die Mavericks hatten die Zukunft noch einmal verschieben können. Jetzt waren die Thunder ein Jahr älter und reifer, und das Team lag 2:0 vorne. »Beide Spiele hätten auch anders ausgehen können«, sagte ich. Ein getroffener Dreier, eine saubere Verteidigungssequenz. »Sind sie aber nicht«, sagte Charles und bestellte noch zwei Whiskys. »Wir führen.«
Wir sprachen über die allumfassende Überlegenheit des amerikanischen Spiels (seine Überzeugung) und den höheren taktischen Anspruch der europäischen Variante (meine Theorie). Charles war Großhändler für Baumaschinen, hatte beruflich in Europa zu tun gehabt, würde in Dallas umsteigen und mit dem Auto zurück nach Oklahoma fahren. Er interessierte sich auf sehr amerikanische Weise vor allem für die wirtschaftliche und statistische Seite der Sportart. An Dirk Nowitzki lobte er die Freiwurfquote und die Wirtschaftskraft für die Region. Sonst nichts. Er sei kein großer Fan, sagte er. Nowitzki? Zu soft, zu europäisch. Das Wort »european« sprach er aus wie eine schlimme Diagnose. »Gestern hat er den entscheidenden Dreier versemmelt«, sagte er. »Und wir haben gewonnen.« Ich nickte, Charles hob etwas onkelhaft seinen Plastikbecher und kippte den Whisky herunter.
»Sweep!«, sagte er. »OKC gewinnt 4:0!«
»Ums Verrecken nicht«, sagte ich.
»Wetten wir?«
»Ich wette nicht.«
»Hundert Dollar«, sagte er und kramte in seiner Tasche. »Du glaubst nicht an euren Jungen? Du denkst auch, dass Oklahoma gewinnt?«
»Danke«, sagte ich. »Warten wir ab.«
Auch wenn der Ingenieur es anders sah: Dirk Nowitzki gehörte zu den absolut Besten einer amerikanischen Sportart. Er hatte sich in einer Welt bewiesen, die nicht auf ein »Weißbrot aus Würzburg« gewartet hatte (Geschwindners Worte, nicht meine). Die eigenen Fans liebten Nowitzki, die gegnerischen fürchteten ihn. Sie wussten, wovon sie sprachen, denn sie waren mit dieser Sportart aufgewachsen. Man konnte sich in Grinnell, Iowa, beim Grillen über Basketball unterhalten und ebenso bei Old Fashioneds in Brooklyn Heights, New York. Oder eben mit Baumaschineningenieuren an Bord der Lufthansa.
Nowitzkis Spiel hielt dem immensen Sportwissen Amerikas stand – statistisch, taktisch und historisch. Er war der wohl beste Europäer, der jemals Basketball gespielt hat. Er hatte ein amerikanisches Spiel grundlegend verändert, er hatte es revolutioniert. Basketball seit Nowitzki war anders als Basketball vor ihm: beweglicher, variabler, weniger erwartbar, feiner, raffinierter. Das Spiel war internationaler und weltgewandter. Die Amerikaner konnten diesen Einfluss einordnen, auch wenn sie Dirk dafür nicht mochten. Er hat sich etwas genommen, was ihnen gehörte.
In Deutschland war Nowitzki bekannter als das Spiel, das er spielte. Seit Jahren warb er für die ING-DiBa und für Nike. Er saß bei Wetten, dass..? und im Sportstudio, Angela Merkel empfing ihn im Kanzleramt, Barack Obama lud ihn ins Weiße Haus ein. Er saß bei Conan O’Brien und David Letterman. Er war Fahnenträger bei den Olympischen Spielen gewesen, zigfacher Allstar, NBA-Champion. Ein Botschafter Deutschlands in der Welt. Aber für die Deutschen blieb er der nette Typ aus der Werbung, dibadibadu. Er hätte sich nicht großartig verändert, sagen sie, er sei immer auf dem Boden geblieben. Dirk war einer von uns, aber seinen tatsächlichen Arbeitsalltag verfolgten die wenigsten. Nur wir Nerds standen nachts auf und sahen uns die Spiele an. Es fiel Deutschland schwer, zu begreifen, wie gut Nowitzki tatsächlich spielte. Was er tatsächlich tat. Bei uns war er berühmt, weil er berühmt war.
Aus journalistischer Sicht gab es nicht viel Neues über Dirk Nowitzki zu berichten. Die Statistiken waren abrufbar, die Chronologie der Ereignisse, die Erfolge und Niederlagen bekannt, die Skandale und die Anekdoten oft erzählt. Es gab unfassbar viele Texte zu Nowitzki, es gab die Biografien auf dem Sitz neben mir, es gab Hunderte Interviews und Porträts, Hunderttausende Spielberichte. Dirk Nowitzki stand in der Gala, im Spiegel und in der Westfalenpost. In der USA Today, im New Yorker, in der Pittsburgh Post-Gazette. Die Geschichte, die erzählt wurde, war immer ähnlich: Ein Junge aus Würzburg wird allen Widerständen und Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz einer der besten Basketballer der Welt. Mit der Hilfe seines verschroben-genialischen Mentors Holger Geschwindner geht er unkonventionelle Wege, trainiert in der Zurückgezogenheit einer oberfränkischen Schulturnhalle, bis er schließlich sein großes Ziel erreicht. Dirk Nowitzki hatte Ruhm, Respekt und scheinbar grenzenlosen Marketingwert. Ich mochte die Geschichte des freundlichen Helden, seine Kämpfe und Niederlagen, ein leuchtendes Heldenepos mit verzeihbaren, vielleicht sogar sympathischen Kratzern. Ich war froh über seinen Triumph. Seine Siege waren irgendwie auch meine.
Wie viele andere auch habe ich als Kind den Traum vom Profisport geträumt. Ich bin in Hagen aufgewachsen, am Rand des Ruhrgebiets. Sport war bei uns Basketball, es gab fast nichts anderes. Ich war neun, vielleicht zehn, als mir im Sommer 1984 mein Trainer Martin Grof in der winzigen Turnhalle der Vinckeschule den ersten Korbleger erklärte, rechts – links – hoch. Martin tat so, als sei das Spiel Musik und unsere Schritte der Takt, tam-tam-tak. Und noch mal: tam-tam-tak. Immer wieder.
Im Herbst darauf spielte ich mein erstes Spiel, D-Jugend, ich trug das Trikot mit der Nummer 14. Die hohen Nummern waren für die großen Spieler reserviert. Wir verloren haushoch.
An den Wochenenden ging ich mit meinem Vater zu den Bundesligaspielen des TSV Hagen 1860 in die enge und pickepackevolle Ischelandhalle, 3000 Leute auf 1950 Plätzen, Brandschutz egal, überall auf Treppen und Aufgängen standen Leute. Ich sammelte...