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Grenzen achten

Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis

AutorUrsula Enders
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783462304787
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Sichere Orte für Mädchen und Jungen Dieses Buch informiert über Möglichkeiten, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene vor Missbrauch in Institutionen zu schützen und bei der Verarbeitung sexualisierter Gewalterfahrungen zu unterstützen. Zu den Schwerpunkten gehören: Strategien der Täter und Täterinnen bei Missbrauch in Institutionen / Gewaltrituale in Jugend- und Sportverbänden / Sexuelle Übergriffe unter Kindern / Institutionelle Strukturen, die Missbrauch begünstigen / Umgang mit einer Vermutung / traumatisierte Institutionen / Hilfen für Opfer, Kindergruppe, Eltern und Kollegen / Möglichkeiten der Prävention. Ein Handbuch für die Praxis!

Ursula Enders, geboren 1953 im Sauerland, Dipl.-Pädagogin und Traumatherapeutin, unterstützt seit mehr als 30 Jahren kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs. Sie ist Mitbegründerin und Leiterin von »Zartbitter Köln«, der Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen. Seit Anfang der 90er-Jahre beschäftigt sie sich besonders mit dem Missbrauch in Institutionen; sie hat zahlreiche Einrichtungen bei der Aufdeckung und Verarbeitung von sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen begleitet.

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Leseprobe

Grenzverletzung, sexueller Übergriff oder sexueller Missbrauch?


Ursula Enders / Yücel Kossatz

Was ist und wo beginnt sexualisierte Gewalt?

Im Alltag von Institutionen kommt es immer wieder zu Verhaltensweisen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die die persönlichen Grenzen von Mädchen und Jungen, jungen Frauen und Männern überschreiten. Sexuelle, psychische und körperliche Grenzüberschreitungen verletzen Grenzen zwischen einzelnen Personen, zwischen Generationen und / oder Geschlechtern. Verübt werden Grenzverletzungen sowohl von erwachsenen wie jugendlichen Frauen und Männern, die mit Betreuungs- oder Versorgungsaufgaben beauftragt werden, als auch von gleichaltrigen oder älteren Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden. Viele grenzüberschreitende Verhaltensweisen sind unbeabsichtigt und können korrigiert werden, andere wiederum sind eindeutig übergriffig und somit inakzeptabel. In einigen Fällen handelt es sich um strafrechtlich relevante Formen sexualisierter, psychischer oder körperlicher Gewalt. Zudem gibt es Institutionen, in denen eine »Kultur der Grenzverletzungen« herrscht. Das bedeutet, dass Grenzverletzungen Einzelner nicht als solche wahrgenommen, geschweige denn geächtet werden; der Alltag dieser Institutionen wird auf unterschiedlichen Ebenen von Grenzverletzungen geprägt.

Nachdem Institutionen sexuelle Grenzverletzungen in der Vergangenheit fast durchgehend verleugnet und vertuscht haben, vermuten heutzutage Laien und Fachkräfte mitunter schon bei unbeabsichtigten und zufälligen Grenzüberschreitungen einen schweren sexuellen Missbrauch. Beide Reaktionsweisen schaden den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Institutionen dürfen entsprechend ihrer Verantwortung für den Kinderschutz sexuelle Grenzverletzungen in den eigenen Reihen nicht bagatellisieren und müssen zugleich auf Fehlverhalten von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen besonnen und unmissverständlich reagieren, um dieses bereits in den Anfängen zu stoppen.

Im Sinne eines fachlich angemessenen Umgangs mit grenzverletzendem Verhalten empfiehlt sich eine Differenzierung zwischen

  • Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt werden und / oder aus fachlichen bzw. persönlichen Unzulänglichkeiten oder aus einer »Kultur der Grenzverletzungen« resultieren

  • sexuellen Übergriffen, die Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen, grundlegender fachlicher Mängel und / oder einer gezielten Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs / eines Machtmissbrauchs sind

  • strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt (wie sexuelle Nötigung, exhibitionistische Handlungen, sexueller Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen, Vergewaltigungen, die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, Prostitution von Kindern, das Ausstellen, die Herstellung, der Handel und Eigenbesitz kinderpornografischer Produkte).

 

Im Folgenden werden im pädagogischen Alltag häufig beobachtete Formen sexuell grenzverletzenden Verhaltens skizziert.

Zartbitter e.V. (2009). »Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt im pädagogischen Alltag«. Die Checkliste von Zartbitter e.V. erleichtert die Wahrnehmung von Grenzverletzungen und trägt in konkreten Fällen zur Versachlichung der Diskussion bei.

Zum Downloaden unter www.zartbitter.de

Sexuelle Grenzverletzungen


Grenzverletzungen in Institutionen sind alle Verhaltensweisen gegenüber Mädchen und Jungen, jungen Frauen und Männern, die deren persönliche Grenzen im Kontext eines Versorgungs-, Betreuungs- oder Ausbildungsverhältnisses überschreiten. Sie verletzen die Grenzen zwischen den Generationen, den Geschlechtern und / oder einzelnen Personen. Verübt werden Grenzverletzungen sowohl von Frauen und Männern, die mit Betreuungs- oder Versorgungsaufgaben beauftragt sind, als auch von gleichaltrigen oder älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ob Verhaltensweisen Grenzverletzungen darstellen oder nicht, hängt nicht nur von den jeweiligen Handlungen oder Formulierungen ab, sondern vor allem davon, wie Mädchen oder Jungen, junge Frauen oder Männer diese erleben. Auch von Dritten als vermeintlich »objektiv belanglos« eingeschätzte subtile Grenzüberschreitungen können zutiefst verletzend sein.

In Einrichtungen, in denen junge Menschen versorgt, ausgebildet oder betreut werden, besteht immer ein Macht- und Abhängigkeitsverhältnis. Deshalb müssen in Institutionen die Rechte und persönlichen Grenzen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in besonderem Maße geachtet werden. Unbeabsichtigte Grenzverletzungen kommen in Schulen, Kindertagesstätten, Kliniken, Vereinen usw. immer mal wieder vor – auch in Einrichtungen, in denen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in besonderem Maße einen respektvollen Umgang mit Mädchen, Jungen und jungen Erwachsenen pflegen. So kann es im pädagogischen Alltag zum Beispiel durchaus passieren, dass eine ansonsten sehr achtsame Lehrerin aus Versehen die bekleidete Brust einer Jugendlichen streift oder etwas vor der Klasse anspricht, ohne zu ahnen, wie peinlich dies für ein Kind sein kann. Eine solche Situation kann von Betroffenen als massive Grenzverletzung erlebt werden, obgleich sich die Lehrerin der Auswirkungen ihres Handelns nicht bewusst ist und es auch nicht ihre Absicht ist, die Gefühle des Kindes oder Jugendlichen zu verletzen. Es gilt, in Institutionen eine Atmosphäre zu schaffen, in der Mädchen und Jungen als verletzend erlebte Erfahrungen an- und aussprechen können.

Grenzverletzungen als Folge fachlicher Defizite

Einmalige oder unbeabsichtigte Grenzverletzungen können aus persönlichen oder fachlichen Defiziten resultieren. Dies ist etwa der Fall, wenn ehrenamtliche Betreuungspersonen oder hauptamtliche Fachkräfte sexuell distanzloses Verhalten von Kindern und Jugendlichen aus Gründen der fachlichen Überforderung zulassen und sich diesem gegenüber nicht angemessen abgrenzen. Zum Beispiel muss ein Erzieher, dessen Hose von einem kleinen Mädchen wiederholt im Genitalbereich berührt wird, dem Kind auf eine kindgerechte Art und Weise deutlich machen, dass er so nicht berührt werden will. Zugleich ist er verpflichtet, sich fachliche Unterstützung zu holen, um die Ursachen des kindlichen Verhaltens und eventuell notwendige Hilfen für das Kind abzuklären.

Grenzverletzende Umgangsweisen und Zärtlichkeiten

Keinesfalls ist es für Betreuungspersonen statthaft, auf Schwärmereien von Mädchen und Jungen einzugehen, mit diesen zu »flirten« oder die ihnen anvertrauten jungen Menschen mit Kosenamen anzureden (»Bärchen«, »Süße«, »Liebelein«, »Schatz«, »Maus« usw.). Derartige Umgangsweisen sind auch unpassend, wenn Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene die ihnen dadurch entgegengebrachte Aufmerksamkeit augenscheinlich genießen und sich geschmeichelt fühlen.

Komplimente von Betreuungspersonen bezüglich der sexuellen Attraktivität von Kindern oder Jugendlichen sind grundsätzlich inakzeptabel und niemals zu entschuldigen – auch nicht mit Alkoholkonsum auf der Ferienfreizeit eines Vereins oder auf der Abschlussfeier einer Schule. Ebenso wenig angemessen ist der Austausch von intimen Zärtlichkeiten mit Kindern, Jugendlichen oder jungen Frauen und Männern (Küsse, innige Umarmungen, den unbekleideten Rücken kraulen). Körperliche Intimität entspricht einer familialen Umgangsweise und missachtet eine für den Alltag in Institutionen gebotene fachliche Distanz. Hingegen kann ein grenzachtender Körperkontakt und eine sehr persönliche, liebevolle Ansprache eines Kindes oder Jugendlichen im beruflichen und ehrenamtlichen Kontext durchaus fachlich angemessen und menschlich korrekt sein – beispielsweise den Arm um die Schulter eines Jugendlichen legen oder ein kleines Kind auf den Schoß nehmen und tröstend über den Kopf streicheln, wenn das Mädchen oder der Junge Sorgen hat, traurig ist oder sich verletzt hat.

Verletzende Spitznamen

Werden Mädchen und Jungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Spitznamen angesprochen, so zeugt dies von Gedankenlosigkeit und / oder einem Mangel an Einfühlungsvermögen und Respekt. Kinder, Jugendliche, junge Frauen und Männer fühlen sich durch Spitznamen nicht selten gehänselt, verspottet und / oder verletzt. Oftmals hat dieses Erleben einen schmerzhaften Hintergrund, denn Spitznamen beziehen sich zum Beispiel sehr häufig auf ein persönliches Handicap oder erinnern an zurückliegende peinliche Situationen. Insbesondere bei Kindern mit Migrationshintergrund ist pädagogischen Fachkräften die abwertende Aussage eines Spitznamens nicht immer bewusst – wie zum Beispiel im Falle eines Jungen namens Ibrahim, der sich selbst als »Ibi« vorstellte. Dieser Spitzname klingt für deutschsprachige Menschen recht freundlich; im arabischen Sprachgebrauch bedeutet er eine sprachliche Abwertung des männlichen Genitals.

Manchmal haben Kinder und Jugendliche einen abfälligen Spitznamen (»Brillenschlange«, »Dickerchen«, »Baby« usw.) schon in ihr Selbstbild übernommen und verhalten sich entsprechend der mit dem Namen zugewiesenen Rolle. Einige bitten selbst...

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