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Grenzen der Anstalt

Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 - 1980

AutorCornelia Brink
VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl551 Seiten
ISBN9783835320949
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
Ein Grundlagenwerk zur Geschichte der Psychiatrie. Im 19. Jahrhundert etablierten sich Irrenanstalten als Orte der Verwahrung für psychisch Kranke und werden seitdem gefürchtet. Die Kritik an der Anstalt ist so alt wie die Institution selbst, Psychiatriegeschichte ist daher ohne die Geschichte der Psychiatriekritik nicht zu schreiben. Trotz unübersehbarer Probleme und wiederkehrender öffentlicher Kontroversen blieb die Anstalt lange Zeit die zentrale Einrichtung für die Behandlung und Kontrolle psychischer Abweichungen. Erst in den 1970er Jahren wurden grundlegende Reformen durchgeführt. Was waren die Bedingungen für diese Reformen? Auf welche Änderungen zielten sie? Welche Kontinuitäten lassen sich feststellen? Cornelia Brink untersucht die Psychiatrie als Teil des Ordnungsgefüges einer Gesellschaft. Ihr Fokus liegt dabei auf der Schwelle zwischen Psychiatrie und Außenwelt, die dem Drinnen und dem Draußen angehört: ein Ort von medizinischer und sozialer Relevanz, von rechtlichen Regelungen und hoher symbolischer Bedeutung. Die Untersuchung eröffnet eine neue Perspektive auf die Psychiatrie, deren Geschichte an die Gesellschaftsgeschichte rückgebunden wird.

Cornelia Brink, geb. 1961, Historikerin am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Veröffentlichungen u.a.: Ikonen der Vernichtung, Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945 (1998), Auschwitz in der Paulskirche. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre (2000).

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Leseprobe
9. Die Radikalisierung von Einschluss und Ausschluss aus der psychiatrischen Versorgung (1931/32-1945) (S. 346-347)

Die Geschichte der Psychiatrie in den späten Weimarer Jahren lässt sich mit Detlev Peukert als »Geschichte von Legitimationskrisen und organisatorischem Verfall« charakterisieren. In der Weltwirtschaftskrise, so Peukert, sei die Grenze sozialer Staatstätigkeit ans Licht getreten, die sich fatalerweise prozyklisch entwickelt habe: »In wirtschaftlichen Boomjahren besaß man die Mittel zum Ausbau der Leistungen, obwohl ihre Beanspruchung relativ gering war.

Wenn dagegen in Krisenzeiten die sozialpolitische Intervention besonders dringlich benötigt wurde, drängte der Staat auf Einsparungen und Leistungsabbau.« Wer in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht war, konkurrierte um Unterstützung mit der großen Gruppe der Wohlfahrtserwerblosen, meist jüngere arbeitsfähige Menschen, die häufig einer Familie vorstanden, außerdem mit der Klientel der allgemeinen Fürsorge, den Alten und Siechen, Witwen, alleinstehenden Frauen mit Kindern, den Sozialrentnern, Kleinrentnern und den Kriegsopfern.

Das Janusgesicht der Weimarer Reformpsychiatrie


Die Frage, welche Kosten für die geschlossene Fürsorge und insbesondere für Geisteskranke und Behinderte zu rechtfertigen waren, hat den Weimarer Wohlfahrtsstaat von Beginn an begleitet. Seit Ende der 1920er Jahre kannte die öffentliche Debatte um den sozialen Ort von Psychiatrie und psychisch Kranken nur noch einen Fokus: »Sparsamkeit in der Anstalt «. Sämtliche Experten, die sich zu Wort meldeten, teilten die Auffassung, die bisherigen finanziellen Aufwendungen seien angesichts der allgemeinen Notlage ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten könne und der öffentlich nicht zu legitimieren sei.

Psychiater machten hier keine Ausnahme. Je knapper die wirtschaftlichen Ressourcen wurden, desto größer wurde auch unter denen, die für ihre Patienten hätten eintreten können, die Bereitschaft, sie vor allem bei jenen Kranken einzusparen, von denen zu erwarten war, dass sie keine produktiven Leistungen mehr erbringen würden. Der Geisteskranke, so formulierte es 1930 stellvertretend für viele seiner Kollegen der reformorientierte Psychiater Wilhelm Alter, repräsentiere einen Ausfall an Produktion, »nicht nur in seiner Person, sondern auch durch den Personalanspruch, den seine Verpflegung erfordert.

Sie ist volkswirtschaftlich eine langwierige, unproduktive Konsumption fremder Arbeitskraft.«4 Alters Äußerung liest sich wie der Kommentar zu einer Fotografie, die drei Jahre später, 1933, im ersten Jahrgang der Zeitung Neues Volk erscheinen sollte. Die Aufnahme zeigt einen offensichtlich behinderten jungen Mann. In ein langes dunkles Kleidungsstück gehüllt sitzt er auf einem Holzstuhl. Die Augen hält er geschlossen, seine rechte Hand und beide Füße sind verkrampft.

Hinter ihm steht ein zweiter junger Mann in weißer Jacke. Freundlich in die Kamera lächelnd, hat er seine Hände auf die Schultern des Sitzenden gelegt. Im Hintergrund sind Bäume und ein Maschendrahtzaun zu erkennen. »Dieser Pfleger«, heißt es in der Legende, welche die Herausgeber dem Bild beigefügt hatten, »ein gesunder kraftvoller Mensch, ist nur dazu da, um diesen einen gemeingefährlichen Irren zu betreuen. Müssen wir uns dieses Bildes nicht schämen?«
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
1. An der Schwelle zur Anstalt Einführende Überlegungen zu einer Gesellschafts-und Kulturgeschichte der Psychiatrie10
1.1 Irrenanstalten, Heil- und Pflegeanstalten, psychiatrische Kliniken12
1.2 Wahnsinn, Irrsinn, Geisteskrankheit, psychische Krankheit: Begriff und Gegenstand16
1.3 Untersuchungszeitraum, Fokus, Quellen und Methode18
1.4 Geschichtsschreibung der Psychiatrie als Gesellschafts- und Kulturgeschichte32
2. Die Etablierung der geschlossenen Anstalt (1850-1868)37
2.1 »Die Mutter im Irrenhaus«: frühe Irrenhausskandale37
2.2 Irre, Irrenanstalten und Irrenärzte zwischen Medizin, Recht und Polizei49
2.3 Die Entscheidung für die geschlossene Irrenanstalt70
2.4 Die Psychiatrie geht an die Öffentlichkeit: Irrenärzte und das »Publicum«85
3. Die erste »Crisis der öffentlichen Irrenfürsorge«102
4. Die »Irrenfrage« zwischen Psychiatrie und Recht (1885-1923)110
4.1 Anstaltsboom im Kaiserreich110
4.2 Recht, Psychiatrie und Polizei136
4.3 »Zustand der Rechtlosigkeit«: Die Irrenrechtsreformbewegung146
5. Risse in der Wand Irrenbroschüren für die Öffentlichkeit166
5.1 Selbstnormalisierung durch Abgrenzung: Die Irren sind immer die Anderen170
5.2 Normalität und Normabweichung: Antworten von Psychiatern188
6. Die zweite Krise der Psychiatrie194
7. »Durch Wissenschaft zur Wirtschaft« Die Ökonomisierung der Irrenfürsorge in den Krisenjahren der Weimarer Republik206
7.1 Sparverordnungen von »außen«: Die Gutachten des Reichssparkommissars209
7.2 Sparvorschläge von Psychiatern221
7.3 Polizeirecht und Anstaltspsychiatrie256
7.4 Zur Lage der Heil- und Pflegeanstalten am Ende der Weimarer Republik267
8. »Transportkranke« und andere Patienten Anstaltspsychiatrie und Krankenmord im Nationalsozialismus271
8.1 Wege in die Anstalt. Verwaltungs-, Straf- und Zivilrecht276
8.2 Verlegen und Sparen (1933-1939)288
8.3 Wege in den Tod I: Die Aktion T4 (1940-1941)299
8.4 Wege in den Tod II: Anstaltspsychiatrie und regionale »Euthanasie« (1943-1945)312
8.5 Ein öffentliches Geheimnis328
9. Die Radikalisierung von Einschluss und Ausschluss aus der psychiatrischen Versorgung (1931/32-1945)347
10. Nachkrieg in der Psychiatrie361
11. Anstaltsunterbringung in der Bundesrepublik Rechtsnorm und Rechtspraxis (1949-1969)373
11.1 Die Psychiatrie auf der Anklagebank: Der Fall Corten und die Schlangengruben (1950)373
11.2 Von den Unterbringungsgesetzen der Länder zu den Psychisch-Kranken-Gesetzen393
11.3 Rechtsreformen405
12. »Von Türen, die sich öffnen« Psychiatriekritik und Psychiatriereform (1969-1975/79)411
12.1 Die Reform vor der Reform413
12.2 Psychiatrie und Öffentlichkeit427
12.3 Der Weg zur Psychiatrie-Enquete462
13. Die dritte Krise der Psychiatrie und die Öffnung der Anstalten479
13.1 An der Schwelle der Anstalt481
13.2 Bedingungen der Psychiatriereform490
14. Kein Schluss495
Dank501
Abkürzungen502
Literatur504
Vor 1945504
Nach 1945518

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