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Grenzerfahrungen - Gastprofessor in Leipzig/DDR

Vorträge und Aufsätze über materialistische Psychologie, Psychotherapie, Humanismus und Demokratisierung

AutorWolfgang Jantzen
VerlagNeue Impulse Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl298 Seiten
ISBN9783961703029
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Das Wintersemester 1987/88 war ein besonderes. Für den Bremer Behindertenpädagogen und Psychologie-Professor Wolfgang Jantzen wie für die Studierenden und den Lehrkörper der Sektion Psychologie an der Leipziger Universität. Denn von Oktober 1987 bis März 1988 war der profilierte Marxist als Gastprofessor auf den Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl für Psychologie berufen worden. Als West-Kommunist an einer DDR-Uni lehren, das war alles andere als alltäglich. Und eine Grenzerfahrung der besonderen Art. Für beide Seiten. Zumal auch die Zeit eine sehr bewegte war. Wenig später gab es die DDR nicht mehr. Die Vorträge und Aufsätze, die Wolfgang Jantzen in der Zeit vor, während und nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus verfasst hat, sind Puzzlesteine für ein realistisches DDR-Bild. Sie dokumentieren den Beobachtungs-, Erfahrungs- und Erkenntnisstand eines westdeutschen Marxisten, der die Psychologie der DDR nicht nur aus der Literatur oder kurzen Kongressbesuchen kennt. Das Buch wendet sich an alle, die an einem realistischen DDR-Bild interessiert sind, aber vor allem an einem Bildungs- und Gesundheitswesen sowie einer Gesellschaft, die den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellen und niemanden ausgrenzen.

Geb. 1941, Abitur 1963. Studium ab 1963 an den Universitäten Gießen und Marburg. (Abschlüsse: Lehramt Grund- Haupt und Realschulen, Wahlfach Sport; Diplom in Psychologie; Lehramt Sonderschulen Fachrichtungen Lernbehinderte und Sprachbehinderte). 1966-1971 Lehrer an einer Schule für Lernbehinderte in Lich/Oberh.; 1971-1974 Studienrat i.H. am Institut für Sonderpädagogik der Universität Marburg (Schwerpunkte: Sozialpädagogik, sonderpäd. Diagnostik). 1972 Promotion in Erziehungswissenschaft, Nebenfächer Psychologie und Soziologie, in Marburg. Ab Mai 1974 Prof. für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Schwerpunkt: Allgemeine Behindertenpädagogik. Aufbau des Lehramtstudiengangs (Beginn 1974) und des Diplomstudienganges Behindertenpädagogik (Beginn 1985). Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Oktober 1987- März 1988: Wilhelm-Wundt-Professor für Psychologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Ab August 2006 im Ruhestand Vorsitzender der Luria-Gesellschaft- Verein zur Förderung der wissenschaftlichen Grundlegung der Rehabilitation hirngeschädigter Menschen e.V. von 1987-2008; erneut 2.Vorsitzender ab 2011 2010 Forschungsgastprofessur am Centro de Educação e Ciências Humanas/CECH/UFSCAR, São Carlos, Brasilien im Rahmen eines Forschungsprojektes über den Beitrag der Tätigkeitstheorie zur Literarisierung indianischer Völker mit Gastvorträgen an Universitäten in São Carlos und Brasilia sowie 5Wochen Forschungsaufenthalt in Amazonien (Alto Rio Negro und Rio Içana).

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Leseprobe
Einleitung »Die Freiheit ist weder eine Idee noch ein Glaube. ?Die Freiheit lässt sich nicht definieren: man übt sie aus.? Sie ist ein Einsatz. Der Beweis für die Freiheit ist kein philosophischer, sondern ein existentieller: es gibt Freiheit immer dann, wenn es einen freien Menschen gibt, immer dann, wenn ein Mensch es wagt, Nein zur Macht zu sagen.« (Paz 1981, 14?f.) Als bei einem Besuch und Vortrag an der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Universität in Leipzig die Idee entstand, dass ich auf die Wilhelm-Wundt-Gastprofessur berufen werden könne, habe ich sinngemäß den Leipziger Kollegen gesagt, dass sie spinnen. Das sei doch restlos unwahrscheinlich und unmöglich! Als dann im Sommersemester 1987 der Ruf kam, war ich dementsprechend restlos überrascht. Zwar stand der Staatsbesuch von Erich Honecker in Bonn bevor, aber eine Gastprofessur in der real existierenden DDR- nein, das war eigentlich unvorstellbar. Zwar hatte mit Gorbatschows Politik der Perestroika (Umbau, Umgestaltung) und Glasnost (Transparenz) ab 1986 eine tiefgreifende Umgestaltung der Sowjetunion begonnen- aber doch nicht in der DDR. Am 9.April 1987 gab Kurt Hager in einem Interview mit der bundesdeutschen Illustrierten Der Stern zu den Reformen Gorbatschows in der Sowjetunion die Antwort: »Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?« Und als später, im Herbst 1988, die deutsche Ausgabe der russischen Zeitschrift Sputnik 1988 über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 24.August 1939 berichtete, geriet die bis dahin in der DDR verbreitete offizielle Sicht des antifaschistischen Kampfes ins Wanken. Die DDR-Regierung verbot am 18.November 1988 die Auslieferung der Zeitschrift. Zwischen beiden Ereignissen erreichte mich der Ruf auf den Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl für Psychologie. Unglaublich! In Bremen selbst wurde dies seitens der Universität sehr positiv aufgenommen. Aber in der DDR selbst war wohl alles nicht so einfach verlaufen. Ich erhielt das Einreisevisum erst wenige Tage vor meinem Dienstantritt- warum auch immer. Also fuhr ich mit meinem 2CV (einer »Ente«), den Kofferraum voller Bücher und mein Fahrrad auf dem Dachgepäckträger, los, in ein- wie ich schnell feststellen musste- mir völlig unbekanntes Land. Und natürlich- wie ich heute weiß- immer unter den Augen der Stasi. Meinen Antrag auf Akteneinsicht habe ich erst im April vergangenen Jahres beim Bundesbeauftragten gestellt und ich nehme an, dass es noch ein bisschen mit der Antwort dauert. Aber aufgrund des Verhaltens verschiedener Studenten und Kollegen (mit einigen freundschaftlich verbunden), die mir seit meiner Rückkehr und auch nach dem Zusammenbruch der DDR nahezu völlig aus dem Weg gegangen sind, habe ich durchaus Vermutungen. Die Tatsache als solche hat heute keine Bedeutung mehr für mich- ich möchte es einfach wissen und die einen oder anderen darauf ansprechen können. Wie dicht das Netz meiner ständigen Beobachtung gewesen sein muss, schließe ich auch daraus, dass die Sektionsleitung Psychologie außerordentlich schnell über jeden meiner Schritte Bescheid wusste. Man hatte sich bewusst zwar einen kritischen Kollegen eingeladen, aber doch bitte nicht so kritisch. Trotzdem gab es sehr viele Möglichkeiten höchst Kritisches über die DDR zu erfahren. Und was ich nicht mündlich in vielen privaten Gesprächen erfuhr, erlebte ich körperlich in Form einer verrotteten Bausubstanz und Infrastruktur sowie hoher Umweltverschmutzung. Aber überall wurde über Perestroika und Glasnost gesprochen und die Gorbatschow-Bücher, die ich von meinen wenigen Besuchen in Bremen innerhalb des halben Jahres mitbrachte, wurden mir förmlich aus der Hand gerissen. Spätestens hier habe ich es jedoch einer Anregung zu danken, die mich zur Zusammenstellung des Materials für dieses Buch führte. Mein Dank gilt Prof. Dr. med. Peter Stosiek, dem Vater eines guten Freundes und ehemaligen Doktoranden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Daniel Stosiek, dessen Vertrauensdozent ich war. In Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte stieß Peter Stosiek anlässlich des »Tages der Deutschen Einheit« auf meinen Aufsatz »Zwischen Überlebenden-Syndrom und Kolonisierung«, in dem ich mich mit der Soziologie und Sozialpsychologie der Kolonisierung der DDR auseinandergesetzt habe. Er, der als bekennender Katholik immer eine andere und demokratische Entwicklung des Sozialismus verlangt hatte, schickte mir als Dank für meine kritische Auseinandersetzung zwei Bücher aus den Restbeständen seiner »Oppositions-Geschichte«. In seinem Brief lese ich u.?a., dass der nach der Wende so fleißige DDR-Kritiker Maaz wie viele andere, die später als Widerständler reüssierten, »das gebotene und mögliche ?Nein gegenüber der Macht? nie gesprochen [hat], und dieses beschämende Versagen in ein nachträgliches, nachtragendes, bitterböses Nein verwandelt [hat]. Die DDR war viel lustiger, lebendiger und freundlicher, als es die Ost-Wendehälse und die Besser-Wessis aus den verschiedensten Gründen wahrhaben wollen.« Ich habe sein Buch »Unbeantwortete Briefe« (Stosiek 2009) geradezu verschlungen, aber bei dem zweiten, mit Johanna Amthor zusammen verfassten Buch »West-östliche Mailbox« (Amthor und Stosiek 2008) ist mir die Lektüre im Hals stecken geblieben, weil sie durch die Beiträge seiner westdeutschen Korrespondenzpartnerin all jenes hervorrief, was ich, zurück im Westen, dann nach dem Zusammenbruch der DDR in immer neuen Varianten des Unverständnisses erfahren habe. Dies führte dazu, etwas ähnliches zu versuchen und Dokumente zu meinem DDR-Aufenthalt und danach ebenso wie zur Auseinandersetzung um Perestroika in der DKP zusammenzustellen, die ich im Dezember 1989 nach 15Jahren Parteizugehörigkeit zusammen mit vielen anderen verlassen habe, nachdem unser Versuch der Perestroika der Bezirke Bremen/?Niedersachsen-Nordwest, Hamburg und Rheinland-Pfalz in dieser Partei letztlich gescheitert war. Es tut mir gut, dass ich in dieser Zeit immer »Nein zur Macht« gesagt habe. Ich denke, dies rechtfertigt die Veröffentlichung dieser zu einem großen Teil bisher unveröffentlichten Dokumente, die sich mit psychologischen, psychotherapeutischen, soziologischen Problemen auseinandersetzen und zugleich einen tiefen Einblick in die Traditionen einer Marx ebenso wie Spinoza verpflichteten Psychologie der Befreiung ermöglichen, vor allem auch angelehnt an das Denken von L.?S. Vygotskij. Entsprechend teilt sich der Band in drei Bereiche: Ein erster Teil enthält Transkriptionen von Vorträgen, so meine bisher nicht veröffentlichte Antrittsvorlesung, einen Vortrag zu Fragen einer marxistischen Anthropologie auf dem Interdisziplinären Seminar für Philosophie (INTSEM) 1988, einen Vortrag zu Sozialem Sinn und Verkehr im April 1990 an der Sektion Psychologie. Außerdem finden sich in diesem Teil nach meinem Aufenthalt publizierte Artikel (Quellenangaben jeweils in Fußnote). Es sind dies die Artikel »Ein reales und materialistisches Sozialismusbild und der reale Sozialismus in der DDR« noch vor dem Zusammenbruch und der schon erwähnte über »Kolonisierung« danach. Als letzten in diesem Teil habe ich meinen Beitrag für die Festschrift anlässlich des Todes von Joachim Lompscher über »Kulturhistorische Psychologie in der späten DDR« aufgenommen. Mit Joachim Lompscher verband mich seit unserem Kennenlernen auf einem Kongress in Prag 1982 eine langjährige Freundschaft. Der zweite Hauptteil enthält Presseberichte und Interviews sowie ein angefordertes, aber nicht gesendetes Manuskript für den Süddeutschen Rundfunk. Zu danken habe ich hier der ZEIT, die mir freundlicherweise die Nachdruckgenehmigung für den Bericht von Ulrich Stock über meinen Leipzig-Aufenthalt erteilt hat. Das dort wiedergegebene Eingangszitat einer Dozentin, ich sei hoch erfreut gewesen, mich endlich dort erholen zu können, ist eines der vielen Beispiele, mein Denken und meine Einwände mit Zitaten unter der Gürtellinie zu diskreditieren. Ein anderes ist die mir gegenüber geäußerte Ansicht des Sektionsdirektors Prof. Dr. Harry Schröder, der nach dem Erscheinen des ZEIT-Artikels, der natürlich nur ihm und nicht der Parteigruppe der SED am Institut vorlag, meinte, »eine so beispiellose Hetze gegen die DDR« hätte »man« selten gelesen. Eben einer jener unsäglich vielen Opportunisten und späteren »Wendehälse«, die niemals ein »Nein zur Macht« gewagt haben und hätten. Dieser Teil umfasst außerdem zwei Interviews nach meiner Rückkehr im Frühjahr 1988 sowie ein vom Süddeutschen Rundfunk angefordertes Manuskript, das niemals gesendet wurde. Der dritte Teil gibt einen Einblick in meine Auseinandersetzung in der DKP für Perestroika und Demokratisierung. Nach meiner Rückkehr berichtete ich ausführlich im Bezirksvorstand der DKP Bremen/?Niedersachsen-Nordwest über meine Erfahrungen in der DDR. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott- wie sagen wir das dem Parteivorstand?« So war der Tenor der Reaktionen. In Leipzig hingegen wurde seitens der Sektion Psychologie kolportiert, ich hätte ein »Parteiordnungsverfahren« bekommen. In dieser Zeit entstanden eine Reihe von Beiträgen und Briefwechseln in der Auseinandersetzung um die Demokratisierung der DKP im Sinne von Perestroika und Glasnost. Meine Beiträge auf Parteiversammlungen trugen mir wütende Reaktionen der »Beton-Fraktion« ein. Aber so war die Wendezeit. »Stalinisten« wurden zu Humanisten und angebliche Antistalinisten übernahmen die Methoden der Denunziation und Ausgrenzung. Und wer gegen Stalinismus auftrat, wurde nur allzu oft bar jeder Belegführung selbst zu dessen Repräsentanten erklärt. Aus den Interventionen in dieser Zeit habe ich lediglich meinen Vortrag bei der DKP-Hochschulgruppe in Göttingen zum Thema »Persönlichkeit- Demokratie- Vernunft« hier mit aufgenommen. Er liefert einen guten Einblick in die Struktur der Auseinandersetzungen, so dass ich auf die Wiedergabe weiterer Dokumente gut verzichten kann.
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