1 Den Kindern auch durch den Spiegel folgen. So fing es an
Ich hatte vor dem überdachten Gartentor gestanden und sie vom Haus herkommen sehen, ein offenes Lächeln im Gesicht. Cornelia Funke hatte das Tor aufgeschlossen, und dass ich von da an in einer anderen Welt stand, hing sicher nicht nur mit dem bunt blühenden Garten und der Intensität der kalifornischen Frühlingssonne zusammen, die den Rasen unter den Bäumen mit Licht sprenkelte.
An Korbstühlen, die um einen runden Tisch standen, und mit Sonne im Rücken hatte unser Gespräch begonnen. Ein Interview für eine Zeitung war verabredet. In diesem Frühjahr 2015 war gerade »Das goldene Garn« erschienen, der dritte Band ihrer Jugendbuch-Reihe »Reckless«, in deren Mittelpunkt ein mutiger junger Mann namens Jacob Reckless steht. In einer Notsituation seines Lebens – sein Vater war verschwunden – hatte Jacob eine andere Welt entdeckt: die »hinter unserer wirklichen Welt« liegende Spiegelwelt.
»Ich schreibe nicht über Phantasiewelten, damit man sich in ihnen vor dieser versteckt«, hatte Cornelia Funke in diesem Gespräch gesagt, kurz in ihre Teetasse geschaut, und dann in die weiß und rot blühenden Büsche ringsum. »Es sind Welten, die hoffentlich helfen, diese Welt etwas klarer zu sehen. Und Mut und Kraft geben, in ihr zu bestehen.«
Ich hatte die Bücher von Cornelia Funke zu lesen begonnen, als meine Tochter neun oder zehn war. Wir lasen »Herr der Diebe« zusammen, in dem Kinder zwischen Verzweiflung und Abenteuerlust ein zerbrechliches Notzuhause in den verwinkelten Gassen Venedigs finden. Die Filme über die Mädchenbande der »Wilden Hühner« hatten wir geschaut und dann auch die Bücher gelesen: über die fünf ganz unterschiedlichen Mädchen aus ganz verschiedenen Familien, die es mit ihrer Bande der »Wilden Hühner« schaffen, gemeinsam stark und füreinander da zu sein.
Es war das Wilde, Mutige und Aufbruchsbereite an ihren Figuren, das mich interessierte – und wie Cornelia Funke es jeweils verschränkte mit der Not, die es in vielen Kinderleben gibt. Schweren Kinderschicksalen. Unerträglichen Lebenssituationen.
Ihre kindlichen Helden sind Grenzgänger und Grenzgängerinnen, nicht selten auch Einzelgänger. Leidenschaftliche Wesen wie Jacob, wie die 12-jährige Meggie aus der Tintenwelt oder der ebenfalls 12-jährige Prosper aus »Herr der Diebe«, die sich von keiner Kraft der Welt von sehr gewagten Aufbrüchen abhalten lassen. Für sie sind diese Aufbrüche alternativlos. Sie wachsen an ihnen – aber gehen an den Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen sie nicht rechnen konnten, auch mal in die Knie. Sie kennen das Leben in Parallelwelten, liebäugeln mit Grenzübertritten, sind »Gestaltwandler« und Wanderer zwischen den Welten.
Die Herausforderungen, vor denen diese jungen Abenteurer stehen, sind selten schnell erledigt. Alles andere als das. Die meisten von ihnen bewohnen nicht nur eine Geschichte oder ein Buch, sondern eine ganze Welt, die sich dann über etliche Bücher erstreckt: die Tintenwelt mit Meggie, die Spiegelwelt mit Jacob Reckless und die Drachenreiterwelt mit dem Drachen Lung und seinem Gefährten, dem Jungen Ben. Sie alle haben weite Wege zu gehen und müssen Stärke beweisen, immer wieder, bevor ihr Leben wirklich besser wird. Sie müssen an zahlreichen Prüfungen wachsen.
Und dabei sind sie vollkommen verschiedene Persönlichkeiten. Möglicherweise haben sie nur dies gemeinsam: die unbedingte Entschlossenheit, nach vorne zu gehen. Aus Not wie Prosper. Aus unbezwingbarer Neugier wie Meggie. Aus Liebe und Solidarität wie Drachenreiter Ben: Sie betreten neues Land, lassen Altes hinter sich, weil nichts anderes ihnen so wichtig oder auch nur möglich erscheint wie dieser Aufbruch.
Auch Cornelia Funkes eigener künstlerischer Weg hatte mit einer Prüfung und einem Aufbruch begonnen. Oft nicht glücklich über die Bücher, die man ihr als Illustratorin vorlegte, hatte sie sich dann selbst ans Bücherschreiben gewagt. Sie hatte sich andere Bücher gewünscht – solche, die besser zu ihren eigenen inneren Bildern passen würden. Ihrem ersten Titel »Die große Drachensuche, oder Ben und Lisa fliegen aufs Dach der Welt« aus dem Jahr 1988 sind mittlerweile fast 60 Titel gefolgt. Mit »Herr der Diebe« 2000 und den Tintenwelt-Büchern ist sie weltberühmt geworden.
Nun, während unserer Stunden am Gartentisch, begegnete ich einem Menschen von spontaner Offenheit. Neugierig darauf, wer da durch ihr Gartentor kam. Von ihr selbst als Person ging etwas Fröhliches, fast Übermütiges aus. Sie erzählte von ihrem Traum vom Fliegen und davon, wie sie mittlerweile auch mal selbst am Steuerknüppel einer Cessna gesessen habe. »Eine andere Art von Fliegen erlebe ich ja im Schreiben«, sagte sie. Vor allem sprachen wir an diesem Interview-Nachmittag über »Reckless«, diese »Welt«, die sie nach der berühmten Tintenwelt erschaffen hatte. Im Zentrum stehen der wilde Junge Jacob Reckless und die abenteuerliche Gegenwelt, die er findet, als er nach seinem Vater sucht. Cornelia Funke beschrieb, welche Herausforderung es für sie auch bedeutet hatte, die »Reckless«-Reihe durchzusetzen gegenüber einem großen Publikum, das nach den berühmten Bänden »Tintenherz«, »Tintenblut« und »Tintentod« immer mehr von der Tintenwelt wollte. Eine Herausforderung zunächst ganz für sie persönlich, die gewusst hatte, dass sie Erwartungen enttäuschte.
Beim Rundgang durch ihr malerisches, luftiges Holzhaus – Räume in leuchtendem Rot, Licht, krächzende Papageien auf einem Ast – erzählte sie, wie die Figur ihres Jacob Reckless ihr regelrecht von hinten auf die Schulter getippt hatte. An jenem Teich mit Seerosen, an dem wir gerade standen, hätte sie gekniet und Blätter aus dem Teich gefischt, da sei er plötzlich präsent gewesen wie ein wirklicher Mensch, der sagte, »mach mal voran.« Das war im Jahr 2008 gewesen.
* * *
Als wir uns kennenlernten, war ich ein großer Fan der Tintenwelt.
Auch mir war der Eintritt in die Spiegelwelt schwerer gefallen als der in Cornelia Funkes andere Welten. Lag es an Jacob, dem spröden, schweigsamen Jungen, der sich in der anderen Welt so eigenwillig seinen Weg in eine Existenz als Schatzsucher bahnt und andere gar nicht zu brauchen scheint? Wer ist dieser Junge überhaupt?
Verzweifelt sucht er – so erzählt es der Buchanfang – im Zimmer seines plötzlich verschwundenen Vaters nach irgendwelchen Zeichen. Aus einem Buch fällt ein Zettel: »DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT« – und als Jacob im Spiegel sein Gesicht mit der Hand verdeckt, steht er im Turmzimmer in einer vollkommen anderen Welt. Größer als seine Angst ist seine Faszination. Und da »Angst ein Gefühl war, das ihm schon immer gefallen hatte«, wird er von nun an den Schlüssel in die andere Welt benutzen, um sich dort ein Leben aufzubauen.
Nur wegen Will, dem kleinen Bruder, kehrt Jacob überhaupt noch zurück. Dass die Mutter mit der Fürsorge droht, dass sie weint und fleht, hält ihn nicht zurück.
In der Welt hinter dem Spiegel gibt es Däumlinge und Zwerge, Wassermänner und Goldraben. Es gibt einander erbittert bekämpfende Armeen, und es gibt Orte mit windschiefen, von Gaslicht beleuchteten Straßen, in denen man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt fühlt. Wird Jacob dort seinen Vater finden? Und wird dies überhaupt die wichtigste Frage seiner Suche bleiben?
Wie schwer dieser Jacob sich tat, Verbindungen zu halten. Sie tat mir leid – die Mutter, die einfach ihren Sohn verschwinden sah.
Fast ohne es zu merken, kamen Cornelia Funke und ich an diesem ersten Nachmittag unserer Bekanntschaft bei einem Gespräch unter Müttern an. Damit hatte ich nicht gerechnet – obwohl es so nahelag. Cornelia Funke, die Schriftstellerin, ist ja Cornelia Funke, die Mutter, gewesen, seit sie und ihr Mann Rolf Frahm 1989 ihr erstes Kind Anna bekommen hatten.
Kinder zu haben hätte ihr Schreiben noch einmal deutlich verändert, sagte Cornelia Funke. Vor allem ihre erwachsenen Figuren wären sonst anders geworden. Als Mutter lerne man auf andere Weise. Muttersein definiere einen noch mal neu. Seit sie selbst Mutter sei, gebe es diese zusätzliche innere Schicht, die mitwirke beim Schreiben. »Eine wesentliche Schicht.«
In unserem Gespräch kommen wir auch auf die Lebenssituation, in der sich die Schriftstellerin befand, als Jacob Reckless so unvorhersehbar am Teich auftauchte. Damals hatte sie gerade drei Jahre in Los Angeles gelebt. 2005 waren sie, ihr Mann Rolf Frahm und die beiden Kinder Anna, 15, und Ben, 10, hierhergezogen, hatten den Hausstand in Hamburg aufgelöst. Ein Jahr später wurde Rolf Frahm schwer krank und starb. Cornelia Funke war nun allein mit den Kindern.
»Die vor dem Spiegel wartende Mutter – vielleicht sind wir die alle manchmal?«, formuliert sie an diesem Nachmittag. »Wenn ich über Jacobs Mutter schreibe, frage ich natürlich: Warum bist du nicht durch den Spiegel gegangen, Rosamund, sondern davor stehen geblieben? Warum hast du nicht hartnäckig nach deinem Sohn gesucht, als er sich auf die Suche nach seinem Vater begab? Ich glaube, dass man seinen Kindern ›durch den Spiegel‹ nachgehen muss.«
Dieser Satz hatte mich verblüfft – auch deshalb, weil er ein Rätsel enthielt. Cornelia Funke, die große Verfechterin kindlicher Stärke, ja, Autonomie, betonte hier vehement eine elterliche Aufgabe, die lautete: einem Kind nachgehen, das nicht mehr klein und hilflos ist, sondern im Gegenteil einen autonomen Schritt versuchte. Wieso da folgen? Hieße das nicht, die Autonomie nicht ernst...