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E-Book

Grundlagen der Entwicklungspsychologie

Die ersten 10 Jahre

AutorGabriele Haug-Schnabel, Joachim Bensel
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783451814624
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
In der pädagogischen Arbeit mit Kindern ergeben sich immer wieder Fragen wie die folgenden: Welche Bedingungen beeinflusst die Entwicklung? Wie kann auf die speziellen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder eingegangen werden? Dieses Buch von Dr. Gabriele Haug-Schnabel und Dr. Joachim Bensel beschreibt die neuesten Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, Säuglings- und Hirnforschung sowie der Verhaltensbiologie. Eine besonders wichtige Rolle nimmt die Betreuungs-/Bezugsperson als Entwicklungsbegleiterin ein. Das perfekte Grundlagenwerk, um umfassendes Entwicklungswissen kompakt anzubieten.

Dr. rer. nat. habil. Gabriele Haug-Schnabel, Verhaltensbiologin und Ethnologin, 20 Jahre Privatdozentin an der Universität Freiburg, lehrt aktuell 'Pädagogik der Kindheit' an der EH Freiburg und 'Early Childhood Education' sowie 'Early Life Care' an der Universität Salzburg. Gründerin und Leiterin der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM). Interdisziplinäre Forschungsprojekte zur kindlichen Entwicklung. Evaluation und Qualitätsentwicklung von Kindertageseinrichtungen mittels beobachtungsbasierter Erhebungen (PromiK, Beobachtungen on the spot).

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Leseprobe

2 Das erste Lebensjahr: Die Säuglinge


Die moderne Säuglingsforschung (Dornes 1993) hat gezeigt, dass ­Neugeborene – ­lange vor dem Spracherwerb – sehr viel kompetenter sind als ursprünglich angenommen. Von Anfang an sind sie mit einem umfassenden Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch und einer enormen Lernkapazität ausgestattet. Damit sich diese Anlagen entfalten können, benötigen sie jedoch eine sichere Bindung: anfänglich die zur Hauptbezugsperson, später entwickeln sich Bindungen auch zu anderen Mitgliedern der Familie oder Sozialgruppe. Im sogenannten Fremdelalter, das zwischen sechs und acht Monaten liegt, werden diese Bindungen bestätigt. Babys lernen in dieser Phase zwischen bekannten und fremden Personen zu unterscheiden. Zunehmend differenzieren sich ihre Wahrnehmungen. Sie erforschen ihren eigenen Körper, Spielgegenstände und Alltagsgegenstände mit allen Sinnen, im sogenannten sensumotorischen Spiel.

Neueste Erkenntnisse der Säuglingsforschung zeigen im Gegensatz zu früheren Annahmen, dass Kinder bereits im vorsprachlichen Alter in Kategorien denken, erste Ordnungsstrukturen aufbauen und Gegenstände von Lebewesen unterscheiden können. Parallel dazu entwickeln sich die Sprache und die motorischen Fertigkeiten – in komplexen Aneignungs- und Erfahrungsprozessen, die belegen, wie viele Fähigkeiten Babys heute zu einem sehr frühen Entwicklungszeitpunkt zugestanden werden.

2.1 Säuglingskompetenzen und intuitives Elternverhalten


Eltern und Säuglinge sind von Natur aus bestens ausgestattet, um miteinander vertraut zu werden. Die »Babywatcher« – Säuglingsforscher, die durch pfiffige Experimente und Beobachtungen das Verhalten des Neugeborenen erschließen – haben im Säugling einen beeindruckenden Interaktionspartner entdeckt. Der Säugling ist mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch sowie mit einer fast grenzenlosen Lernkapazität ausgestattet – vorausgesetzt, die »Umwelt« bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll zugewandt und angemessen.

Ein neugeborenes Kind versucht von Anfang an, mit den Bezugspersonen in Kontakt zu kommen (Erwachsenen-Kind-Interaktion). So kann zwar ein wenige Tage alter Säugling seinen Kopf noch nicht selbst halten; setzt man sich aber hin und bringt ihn vor dem eigenen Körper in eine aufrechtere Position – wobei der Rücken und vor allem der Kopf sicher gestützt sein müssen –, so reagiert er bereits mit Bewegungen und einer gesteigerten Aufmerksamkeit, die andernfalls erst Monate später zu beobachten sind. Wird ein Kind von Elternseite passend unterstützt, interagiert es also schon ganz früh. Es ist immer wieder überraschend zu beobachten, wie selbst die Mütter aktiv Blickkontakt mit ihrem Kind herstellen und ihr Gesicht immer wieder zentral in das Blickfeld des Kindes bringen, die davon überzeugt sind, dass ihr Säugling sie visuell noch nicht wahrnehmen kann. Trotzdem achten sie auf eine »face-to-face«-Position der Gesichter, womit sie unwissentlich der Vorliebe des Säuglings für senkrechte und symmetrische Bilder entsprechen.

Mit allen Sinnen


Mit allen Sinnen begibt sich das Kind auf die Suche nach Kontakt mit den Menschen, die ihm beständig zugewandt sind. Alle Sinnessysteme sind nach der Geburt grundsätzlich funktionsfähig, müssen jedoch noch in den folgenden Lebensmonaten reifen und sich vervollkommnen (sensorische Entwicklung). Bereits sehr früh ist der Säugling in der Lage, ­aufgenommene Sinnesinformationen unterschiedlicher Herkunft zusammenzuführen, zu ordnen und zu strukturieren (Manz 2011). Ein Beispiel für diese Fähigkeit zur sensorischen Integration ist das Suchen einer Geräuschquelle mit den Augen.

Mit einem Monat nutzen Säuglinge Bewegungsreize zum 3-D-Sehen, mit drei bis vier Monaten verarbeiten sie binokulare Hinweisreize, mit sechs Monaten Informationen aus ruhenden Bildern (visuelle Entwicklung). Die Sehschärfe ist nach der Geburt schwach, verbessert sich aber schnell innerhalb der ersten sechs Monate. Immer differenzierter werdende Forschungsmethoden zeigen, dass Säuglinge spätestens mit drei Monaten, vielleicht auch schon früher, Formen, Farben und kontrastreiche Muster visuell wahrnehmen. Mit großer Begeisterung und messbarer Aufmerksamkeitssteigerung reagieren sie auf Gesichter: auf zwei Augen, die sich bewegen, auf einen Mund, der lächelt und spricht. Am deutlichsten sehen Säuglinge Dinge, die etwa 22 bis 25 Zentimeter von ihnen entfernt sind. In diesen Abstand bringen Erwachsene automatisch das Gesicht, wenn sie einen Säugling ansprechen und mit ihm lachen wollen.

Neugeborene hören am besten im Frequenzbereich der menschlichen Stimme und filtern diese aus einem Strauß von Geräuschen heraus (auditive Entwicklung). Besonders aufmerksam sind sie für die Stimme der Mutter, die sie bereits aus dem Mutterleib kennen. Erwachsene machen ihnen das Zuhören intuitiv leichter, indem sie im sogenannten Babytalk mit ihnen reden: in kurzen Sätzen, auffällig betont, mit häufigen Wiederholungen und leicht angehobener Stimmlage. Säuglinge erkennen nach wenigen Tagen ihre Mutter am Geruch (olfaktorische Entwicklung). Sie schnuppern nach dem Brust-Geruch, wenn sie Hunger haben. Und sie bevorzugen den Hals-Schulter-Geruch, wenn sie satt und müde sind, um dann in senkrechter, den Magen entlastender Position einschlafen zu können. Auch ihr Tastsinn arbeitet schon differenziert (haptische Entwicklung). Bei Berührungen nehmen Säuglinge wahr, ob die Hautpartie ihnen vertraut oder fremd ist, und reagieren dann entsprechend unterschiedlich.

Mit Körperbau und Verhaltensausstattung ist der Säugling darauf vorbereitet, viel getragen zu werden, also möglichst oft in engem Körperkontakt mit seiner Mutter oder seinem Vater zu sein. Der Säugling ist ein Tragling. Sein Bedürfnis nach Getragenwerden signalisiert er bereits eindeutig, indem er auf dem Rücken liegend die Oberschenkel spreizt und die Unterschenkel anhockt. In dieser Haltung aufgenommen, passt er genau seitlich auf die Hüfte von Mutter oder Vater, stabilisiert diesen Sitz aktiv mit und wird allein durch die aufrechte Körperhaltung wahrnehmungsbereiter für die eintreffenden Umgebungsreize (Kirkilionis 2013). Sind Säuglinge in diesem Alter für einige Stunden am Tag bereits in Krippe oder Tagespflege, sollten in beiden Umgebungen die Tragegewohnheiten für das Kind vergleichbar und deshalb wiedererkennbar sein.

Eltern-Kind-Interaktion


Der Säugling lernt seine Eltern bzw. die Personen, die bei ihm Elternfunktion übernehmen, durch unzählige Sinneserfahrungen, die sich von den Begegnungen mit der übrigen Umwelt unterscheiden, genau kennen. Eine einfühlsame und zuverlässige Versorgung vermittelt ihm die Sicherheit, dass seine Äußerungen des Wohlbefindens und ebenso des Unbehagens prompt aufgegriffen und richtig interpretiert werden und man seine Bedürfnisse vorhersehbar befriedigt. Zuverlässigkeit lässt ihn seine Welt strukturieren und Geborgenheit aufkommen. Eine gelungene Interaktion zwischen Eltern und Säugling ist dadurch gekennzeichnet, dass die elterlichen Verhaltensweisen zeitlich auf die des Säuglings bezogen sind, zuverlässig und mit hohem Wiedererkennungswert erfolgen sowie auf den Entwicklungsstand des Kindes und sein momentanes Befinden abgestimmt sind (Bensel 2009).

Meist stößt ein Kind bei seinen Dialogversuchen auf die passende Resonanz seitens seiner Eltern. Mikroanalysen zeigen, dass ein Drittel aller Interaktionen zwischen Mutter und Kind sofort optimal koordiniert abläuft. 70 Prozent aller nicht sofort passenden Interaktionen, also Missverständnisse, werden innerhalb von zwei Sekunden bemerkt und »repariert«. Bereits mit wenigen Wochen kann ein Säugling auf diese Weise eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und den spannungsmildernden, beruhigenden Verhaltensweisen der Bezugspersonen feststellen. Es ist für Selbstwirksamkeitsgefühle wichtig, Spannungs- und Interaktionsregulierung als erfolgreiches Ergebnis eigener Bemühungen wahrzunehmen.

2.2 Bindung


Bindung ist essenziell für die gesunde psychische und soziale Entwicklung eines Menschen. Ein Säugling bindet sich automatisch an die Personen, die sich hauptsächlich mit ihm beschäftigen. Der Aufbau der primären Bindung beginnt in den ersten Lebensmonaten und dauert etwa bis zum Ende des zweiten Lebensjahres. Eine Bindung kann zu mehreren Personen entstehen. Früher war nur von der Mutter-Kind-Bindung die Rede, heute lässt der Wissensstand den Begriff Eltern-Kind-Bindung passender erscheinen. Der Säugling ist für Sozialkontakte offener als ursprünglich vermutet. Außer der Bindung an die Hauptbezugspersonen entwickeln Kinder nach und nach individualisierte Bindungen in abgestufter Intensität auch zu anderen Mitgliedern der Familie oder Sozialgruppe, in der sie aufwachsen. Kinder wählen unter den Beziehungsangeboten aus, um unterschiedlich gestaltete, auch unterschiedlich enge Beziehungen einzugehen.

Diese Bindungen können der Bewältigung unterschiedlicher Entwicklungsaufgaben dienen: So dient die Mutterbindung eher der Sicherheit, die Vaterbindung mehr der Exploration, die Beziehung zur pädagogischen Fachkraft dem Vertrauen in weitere Sozialangebote. Wichtig sind Zuverlässigkeit und Kontinuität bei liebevoller Pflege. Zwischen Bezugspersonen und Kind muss die Gelegenheit zu regelmäßiger Zwiesprache gegeben sein. Denn nur bei Kontinuität...

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