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Verborgenes sehen lernen
Wir hören und lesen es fast täglich: Unsere Lebenserwartung ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Seit 1871 hat sie sich mehr als verdoppelt und wird inzwischen bei Jungen auf 80 bis Mitte 80 (damals 39), bei Mädchen auf schon fast 90 (damals 42) Jahre geschätzt. Ebenso ist die weitere Lebenserwartung der Erwachsenen gestiegen: Bald wird ein 60-jähriger Mann im Durchschnitt noch 22 Jahre, eine ebenso alte Frau noch 27 Jahre vor sich haben. Viele von uns werden demnach ein drittes (60 bis 79 Jahre), nicht wenige sogar ein viertes Alter (80 bis 120 Jahre) erleben (Modellrechnung basierend auf Generationensterbetafeln, Statistisches Bundesamt 2006). Das ist für uns Neuland. Uns werden zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit zusätzliche Lebensabschnitte geschenkt.
Älterwerden – Was kommt da auf uns zu?
Älterwerden ist ein gleitender Vorgang, der mit der Geburt beginnt und nicht erst mit 30, 40, 50 oder mehr Jahren. Selbst die von der Weltgesundheitsorganisation festgelegte Grenze des Alters von 60 Jahren wird meist unbemerkt überschritten. Als der Ältere der Autoren erschrocken feststellte, dass er über 60 war, sich aber überhaupt noch nicht alt fühlte, wollte er es wissen. Er befragte alle seine Patienten und Bekannten, die 61 oder älter waren und verglich dann mit Jüngeren. Dabei ergaben sich ganz klar einige Probleme, die nur die Älteren haben. Sie lassen sich in sieben Themenkreisen zusammenfassen, die miteinander vernetzt sind und den komplexen Vorgang des Älterwerdens ausmachen.
Die sieben Themenkreise
A. Verluste
1. Krankheiten: Der Körper macht sich störend bemerkbar.
2. Psychisch: Gedächtnis, Denken und Verhalten ändern sich.
3. Sozial: Wir verlieren unsere gewohnten Rollen und Bezugspersonen.
B. Gewinne und Antworten
4. Entwicklung: Wir gewinnen Erfahrung, werden reifer und finden neue Lösungen und Ziele.
5. Vergänglichkeit: Wir begreifen, dass wir endlich sind und wollen unsere Lebensbilanz abschließen.
6. Generationen: Wir möchten in unseren Nachkommen weiterleben.
7. Transzendenz: Was kommt danach, und was bleibt von uns?
Die ersten drei Themen sind die Veränderungen, die uns beim Älterwerden zustoßen. Die weiteren Themen zeigen, dass sich dabei neue Perspektiven eröffnen und wir einen Spielraum für Antworten und Entscheidungen gewinnen.
Von den Verlusten ist früher oder später jeder betroffen. Das geschieht nicht schlagartig und nicht bei allen im gleichen Alter. Es richtet sich auch nicht nach dem kalendarischen Lebensalter, nimmt aber im Durchschnitt doch mit den Jahren zu. In der Gruppe der 60- bis zirka 75-Jährigen »jüngeren Alten« gibt es noch viele, die sich durchaus recht jugendlich fühlen und sich zwar für gereift, aber in keiner Weise für alt halten und es auch nicht sind. Bei den über 80-Jährigen »älteren Alten« wird das zur Ausnahme, die Anzeichen und Probleme des Alterns überwiegen und sind nicht mehr zu übersehen.
Beim Älterwerden leben wir mit dem Widerspruch, dass wir zwar den Veränderungen ausgeliefert sind, sie uns aber lange verborgen bleiben, weil wir sie – aus inneren Gründen – nicht wahrnehmen wollen. Oft bemerken es die anderen eher als wir selbst. Aber nur wenn wir nüchtern ins Auge fassen können, was da auf uns zukommt, können wir uns darauf einstellen und ihm angemessen begegnen. Je früher wir damit beginnen, desto eher können wir die Beschwernisse abwenden oder abmildern. Um dies im Einzelnen besser aufzuzeigen, ist jedem der oben genannten Themen ein eigenes Kapitel gewidmet.
Warum der Durchblick so schwer ist
Das Älterwerden hat noch weitgehend unbekannte Dimensionen. Wir wissen noch viel zu wenig darüber, was uns in den neu gewonnenen Lebensabschnitten erwartet, und dort zurechtzukommen ist noch nicht in unsere Erfahrung und unsere Instinkte eingegangen. Das Leben läuft auch in der zweiten Lebenshälfte nicht nur an der Oberfläche ab, sondern wird von vielen Faktoren beeinflusst, äußeren wie inneren. Wenn man die Übersicht gewinnen will, muss man durchschauen, dass Älterwerden nicht nur auf der Ebene des Bewusstseins, sondern auch in tieferen, oft nicht bedachten und nicht bewussten Schichten verläuft. Man beginnt dann zu ahnen, welchen entscheidenden Einfluss Verborgenes auf den Ablauf des Alterns, auf die Lebensqualität und sogar auf die Lebenserwartung nehmen kann.
Warum wir uns so schwer tun, mit dem Älterwerden zurechtzukommen, liegt zum guten Teil daran, dass nicht einfach zu durchschauen ist, was da geschieht, sodass sich Vieles unserer Kontrolle entzieht und unsere bewussten Absichten durchkreuzt werden.
Diese Undurchschaubarkeit und Vielschichtigkeit der menschlichen Natur hat sich im Laufe der sehr langen und sehr komplizierten Evolution ergeben. Die über Millionen Jahre erfolgte Differenzierung des Menschen vom Tier zum Homo sapiens (Hominisation) hat über das nur vom Körper und von Instinkten gesteuerte Verhalten hinaus zur Entwicklung von Geist und Seele, zur immateriellen Psyche, geführt. Das zur Gattung Mensch gereifte Lebewesen hat viele nur ihm mögliche Fähigkeiten wie Bewusstsein, Sprache, Erinnerung, Verwertung von Erfahrungen, planendes Denken, lebenslanges Lernen oder Plastizität, um sich neuen Situationen anzupassen, entwickelt. Ergebnisse davon sind zum Beispiel Verbesserungen der Lebensbedingungen, die zum Entwicklungssprung der höheren Lebenserwartung beitragen. So sind durch die Fortschritte im medizinischen Bereich viele Erkrankungen, an denen man früher vorzeitig alterte oder starb, heute ausgerottet oder heilbar.
Die Relikte der animalischen Instinkte bestimmen indes – mehr als uns bewusst und lieb ist – noch immer weitgehend unser aktuelles Verhalten und führen zu ständigen Spannungen und Konflikten mit unseren spezifisch menschlichen Zielen und Wertungen, gerade auch beim Älterwerden.
Die Fähigkeiten der Gattung Mensch muss jeder Einzelne von Geburt an mühselig erst nochmal erlernen (Ontogenese). Eine sehr gute Nachricht ist die neue Einsicht, dass die Entwicklungs-, Anpassungsund Reifungsprozesse im Alter nicht aufhören, sondern sich prinzipiell das ganze Leben hindurch und bis zum Lebensende weiter fortsetzen. Es gibt also ein lebenslanges Lernen, und das schafft gute Voraussetzungen, um das Älterwerden zu erleichtern.
Stirb und werde – Eros und Thanatos
Leben besteht aus dem ewigen Kreislauf von Stirb und Werde, dem täglichen Abbau und der Neuproduktion von Körperzellen, dem täglichen notwendigen Vergessen und dem Lernen von Neuem, der Lösung von alten Bindungen und dem Eingehen von neuen, dem Erlöschen von Interessen und der Suche nach neuen, der Trauer und dem Glück. »Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.« (Goethe, Selige Sehnsucht) Das ist ein gutes Motto, um mit dem Älterwerden besser zurechtzukommen.
Nach einem von Sigmund Freud entwickelten Modell werden Leben und Sterben von gegenläufig wirkenden Triebkräften in uns selbst gesteuert. Das macht die verborgenen Vorgänge beim Älterwerden sehr gut verständlich und gibt uns Handhaben, Einfluss darauf zu gewinnen.
Nach diesem Modell steht Eros, in der griechischen Mythologie der Gott der Liebe, für Aufbau und Erhalt des Lebens; Thanatos, der Gott des Todes, für die Gegenkräfte. Der Lebenstrieb Eros hat aus der unbelebten Natur Leben entstehen lassen und es zu immer höheren Organisationsstufen mit immer mehr Bindungen gebracht. Thanatos, der »Todestrieb«, ist jedoch von Anfang an ebenso in uns wirksam, schädigt und zerstört unbemerkt, löst Bindungen wieder auf, baut auf stumme Weise Organisationsstufen ab, sodass »alles Lebende aus inneren Gründen stirbt« (Freud 1920g, S. 248) und schließlich in die Ruhe des Unbelebten zurückfällt. »Das Zusammen- und Gegeneinanderwirken von Eros und Todestrieb ergibt für uns das Bild des Lebens.« (Freud 1925d, S. 84)
Altern »aus inneren Gründen«
Das Erkennen dieser unbewussten inneren Vorgänge hilft uns sehr, die vom Todestrieb auf verborgene Weise bewirkten schädlichen Einflüsse auf körperlicher wie psychischer Ebene, die uns unnötig altern lassen, eher erkennen und vermeiden zu können.
Und noch wichtiger: Wir entdecken neue Chancen, mit den Zumutungen des Alters besser zurechtzukommen, wenn wir darauf achten, was die Anzeichen des Älterwerdens uns wohl sagen möchten. So kann ein Körpersymptom bedeuten, eine Illusion aufrechtzuerhalten und eine Bedrohung zu verleugnen oder im Gegenteil ein Alarmsignal sein, das in der Körpersprache auf einen dringlichen Konflikt aufmerksam machen möchte.
Wie wir uns blind...