Essay: Wenn Arbeiterkinder Führungskräfte werden
Manchen Menschen folgt man unwillkürlich. Andere haben es schwer, Gefolgschaft zu gewinnen – trotz überzeugender Argumente. Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Führungsfähigkeit und Überzeugungskraft erheblich. Anteil daran haben die Erfahrungen und Zuschreibungen aus der Herkunftsfamilie. Dazu gehören die Geschwisterkonstellation, in die ein Kind hineingeboren wurde, die Botschaften und mentalen Modelle, mit denen es aufwuchs. Sie können zu einem dominierenden Lebensthema werden oder Hintergrundmelodie bleiben. Es gibt jedoch keine Geschwisterrolle oder Familienherkunft, die zur Führungskraft prädestiniert.
Wer lernen will, sich durchzusetzen, für den ist es hilfreich, der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Rolle in der Familie für das eigene Erleben und Verhalten hat. Habe ich gelernt, frühzeitig zu sagen, wo es langgeht, oder passe ich mich an? Stelle ich unangenehme Fragen, beschwere ich mich oder falle ich lieber nicht auf? Tue ich, was man mir sagt, oder stelle ich Forderungen, entwickle Visionen und setze sie um?
In der Familie bildet sich die Basis der Vorstellungen, wie man führt und folgt, wie man sich diszipliniert, wie man mit Macht umgeht, wie man Risiken eingeht, wie man arbeitet und spielt.
Virginia Satir, eine Begründerin der Familientherapie, betonte fünf Dinge, die wir in unserer Familie lernen:
wie wir mit anderen kommunizieren,
an welchen Regeln wir uns orientieren,
was bestimmte Erfahrungen bedeuten,
wie wir mit Bedrohung umgehen sowie
was die größtmögliche Bedrohung ist und wie wir sie abwenden.
Älteste Kinder fühlen sich häufig für das Wohlergehen der Familie verantwortlich und kümmern sich um die Fortführung der Familientradition. Daraus kann der Wunsch erwachsen, im Leben eine heroische Mission zu erfüllen. Verantwortungsgefühl, Gewissenhaftigkeit und Fürsorglichkeit entwickeln am ehesten sie. Die jüngsten Kinder bleiben mit größerer Wahrscheinlichkeit kindlicher und sorgloser. Älteste Kinder pflegen gegen ihre jüngeren Geschwister manchmal Vorbehalte oder empfinden sogar Abneigung, da sie die Spätergeborenen als Eindringlinge erleben, die ihnen die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern nun streitig machen.
Manchmal leidet das älteste Kind unter dem Druck, sich durch besondere Leistungen auszeichnen zu müssen. Von Erstgeborenen werden vielfach große Dinge erwartet. Das jüngste Kind wird in der Familie meistens verwöhnt, die Erwartung an die Umwelt, umsorgt zu werden, kann bis ins Erwachsenenleben anhalten.
Die Jüngsten sind häufig sorgenfreier, durch familiäre Verantwortlichkeiten weniger belastet, sie haben meist weniger Respekt gegenüber Autoritäten und achten weniger auf Konventionen.
Einzelkinder benehmen sich früher wie Erwachsene und sind sozial unabhängiger. Sie schauen weniger danach, was ihre Altersgenossen tun. Sie neigen gelegentlich zur Ängstlichkeit, weil sie in der Regel durch die Eltern viel Aufmerksamkeit und Schutz erfahren haben. Sie vereinigen Eigenschaften sowohl ältester als auch jüngster Kinder, scheinen jedoch eher denen der ältesten zuzuneigen, da sie ebenso oft wie diese im Zentrum der elterlichen Fürsorge und Erwartung stehen. Weil sie meist die ungeteilte elterliche Aufmerksamkeit besitzen, bewahren Einzelkinder vielfach ihr ganzes Leben hindurch eine enge Bindung an die Eltern.
In der Zusammenarbeit haben Kollegen, die in einer gleichen Geschwisterposition stehen, häufig größere Anpassungsschwierigkeiten und mehr Konflikte untereinander. Unter sonst gleichen Bedingungen kommen Kollegen aus komplementären Geschwisterpositionen in der Regel besser miteinander aus.
In Konstellationen, in denen älteste Kinder zusammenarbeiten, sind aufgrund des Mangels an komplementären Rollen Schwierigkeiten wahrscheinlicher. Es kann zu Machtkämpfen kommen. In Teams von jüngsten Kindern ist ein Kampf um die Kinderrolle wahrscheinlich, da beide erwarten, umsorgt zu werden.
Ein mittleres Kind kann Merkmale des ältesten oder jüngeren Kindes zeigen, aber auch beide in sich vereinigen. Ein mittleres Kind, wenn es nicht der einzige Junge oder das einzige Mädchen ist, muss sich seine Rolle in der Familie oft erst erkämpfen. Ein solches Kind mag den starken Erwartungen, die meist an älteste oder jüngste Kinder gerichtet sind, entgehen, dafür muss es häufig große Anstrengungen unternehmen, um überhaupt beachtet zu werden.
Einen weiteren wichtigen Unterschied beim Verständnis, welche Wirkungen Geschwisterkonstellationen haben, bilden das Geschlecht und die Einstellung der Eltern zu den traditionellen Geschlechterrollen.
Diese Einstellung beeinflusst die an ihre Kinder gestellten Erwartungen nachhaltig. Zum Beispiel werden in vielen Kulturen Söhne bevorzugt. Das bedeutet: Ein älterer Bruder mit einer jüngeren Schwester befindet sich in einer vorteilhafteren Position als eine ältere Schwester mit einem jüngeren Bruder. In letzterem Fall wird die Schwester meist das für ein ältestes Kind typische Verantwortungsgefühl entwickeln, während hohe Erwartungen und späterer Erfolg ihrem jüngeren Bruder zufallen.
Visualisierung: Mama hat gesagt …
Einen guten ersten Einstieg, sich über die eigenen Familienbotschaften und deren Wirkungen klar zu werden, bietet das transaktionsanalytische Konzept der »inneren Antreiber«. Dabei handelt es sich um fokussierte Botschaften, die in der Kindheit durch Erziehung oder andere Einflüsse entstanden sind. Die fünf Antreiber sind:
Sei stark!
Sei perfekt!
Sei (anderen) gefällig!
Beeil dich!
Streng dich an!
Diesen Antreibern entsprechen grundlegende Bedürfnisse, die Sie der folgenden Übersicht entnehmen können:
Sei stark! | Sicherheit in sozialen Kontakten |
Sei perfekt! | Wissen und Können entsprechend den Fähigkeiten entfalten |
Sei (anderen) gefällig! | Liebe, Zugehörigkeit |
Beeil dich! | Die Fülle des Lebens erfahren |
Streng dich an! | Etwas leisten |
Die Botschaften, wie sie in den Antreibern formuliert sind, können auch belastend und einengend wirken, wenn sie überbetont werden. Sie haben dann für das Selbstgefühl einen abwertenden Charakter.
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