1.1
Kulturelle Sozialisationsmodelle und Entwicklungspfade
Orientierungshilfen zum Verständnis kultureller Unterschiede
Bettina Lamm
Fallbeispiel 1
Eine Berliner Mutter (36 Jahre, Akademikerin) spielt mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter. Sie sitzen auf dem Boden, eine Auswahl altersentsprechender Spielzeuge um sich herum. Die Mutter beobachtet ihr Kind aufmerksam. Seinen Blick verfolgend, fragt sie: »Ja, was ist denn da? Ist das interessant? Möchtest du damit spielen?« Sie nimmt den kleinen Plastikball und bietet ihn dem Kind an. Das Mädchen nimmt den Ball an, um ihn sogleich wieder abzulegen und nach einem anderen Spielzeug zu angeln. Es greift eine kleine Puppe, benennt sie und zeigt sie der Mutter. Die Mutter betrachtet die Puppe und bestätigt ihre Tochter: »Ja, genau, das ist eine Puppe.« Und sie fragt: »Was machen wir nun damit?« Das Mädchen greift nach der Mütze der Puppe, sagt »Auf« und versucht, der Puppe die Mütze aufzusetzen. Während sie die Handlungen ihrer Tochter unterstützt, begleitet die Mutter diese auch verbal: »Ja, die Mütze aufsetzen. Super machst du das, toll.«
Fallbeispiel 2
In einem Dorf im nordwestlichen Grasland Kameruns kehrt eine Mutter von der Feldarbeit zurück. Auf dem Rücken trägt sie ihren einjährigen Sohn, auf dem Kopf einen Wassercontainer und in der Hand eine Feldhacke. Am Haus angelangt, setzt die Mutter den Jungen auf den Boden und ruft seinen siebenjährigen Bruder herbei. Der ältere Sohn kommt sofort wortlos angelaufen, ihm folgt die dreijährige Schwester, hüpfend und vor sich hin summend. Die Mutter ist bereits in der Küche verschwunden. Der Siebenjährige bindet sich geschickt den kleinen Bruder mit dem Tragetuch auf den Rücken und geht zurück zum Nachbarhaus, um sich dort wieder seinen Freunden anzuschließen, die auf umgedrehten Eimern und Blechdosen kleine Rhythmen trommeln. Mit dem Bruder auf dem Rücken beginnt er zu tanzen.
Fallbeispiel 3
Im Wohnzimmer einer indischen Mittelschichtfamilie in Neu-Delhi: Die Mutter sitzt auf dem Sofa, ihre eineinhalbjährige Tochter steht neben ihr, auf dem Tisch vor ihnen liegen Duplo-Steine und Bauteile sowie einige Zuganhänger. Die Mutter setzt zwei Duplo-Steine aufeinander und stellt sie vor ihre Tochter. Sie versucht die Aufmerksamkeit des Mädchens auf die Steine zu lenken und setzt noch einen dritten darauf. Das Mädchen beachtet dies jedoch kaum und greift einen der Anhänger, schaut sich die Räder an und beginnt dann den Waggon auf dem Tisch vor- und zurückzuschieben, was es mit »Tut tut« begleitet. Die Mutter versucht erneut, verbal die Aufmerksamkeit der Tochter auf die Steine zu lenken. Als das Mädchen den Anhänger kurz loslässt, greift die Mutter von hinten nach seiner Hand und führt diese zu einem vierten Stein, um den Turmbau fortzuführen. Die Tochter befreit sich aus dem Griff, entfernt sich einen Schritt von der Mutter und nimmt ihr Spiel mit dem Waggon wieder auf. Die Mutter schlägt nun vor, einen Stein auf den Wagen zu bauen. Schließlich stellt sie weitere Anhänger vor das Kind und fordert es auf, die Waggons zusammenzuhängen. Aus der Küche kommen die beiden älteren Schwestern (5 und 8 Jahre) dazu. Während sich die jüngere der beiden Schwestern zwischen Mutter und Kleinkind setzt und das Geschehen beobachtet, ergreift die ältere Schwester die Hand der Kleinsten und verbindet dann den Waggon mit einem anderen auf dem Tisch.
1.1.1 Kulturelle Sozialisationsmodelle
Fallbeispiel 1
Szenen wie im ersten Fallbeispiel können vielfach in Kinderzimmern sogenannter westlicher Mittelschichtfamilien beobachtet werden. Generell zeigen diese Situationen Mütter, die sehr einfühlsam auch auf feine Signale ihrer Kinder reagieren, kindliche Initiativen unterstützen und das kindliche Verhalten und Erleben verbalisieren und bestätigen. Diese Mütter reden viel mit ihren Kindern, schenken ihnen häufig exklusive Aufmerksamkeit in Eins-zu-eins-Situationen und beziehen fast immer Spielzeuge in die Interaktionen ein. Sie sind darauf bedacht, die Kinder bei der eigenständigen Erkundung ihrer Umwelt zu begleiten und vielfältige Anregungen bereitzustellen. Körperkontakt und körperliche Stimulationen sind eher weniger zu beobachten, meist nur in Form von leichten Berührungen, die den Freiraum des Kindes nicht einschränken.
Hinter diesem Verhalten stehen ein bestimmtes Bild vom Kind und eine gewisse »pädagogische« Überzeugung bzw. Erziehungsziele, die auch von Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der frühkindlichen Entwicklung in westlichen Mittelschichtkontexten geteilt werden. So formuliert Remo Largo in seinem Klassiker »Babyjahre«: »Das Kind will und muss in seinem Spiel selbstbestimmt sein. Es braucht die Kontrolle über seine Aktivitäten, damit es interessiert bleibt und das Spiel zu einer sinnvollen eigenen Erfahrung wird« (Largo 2010, S. 273).
Im Fokus dieser Überzeugung steht das autonome Kind, das von Anfang an als eigenständiges Individuum seinen Entwicklungsprozess aktiv gestaltet. Das Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen ist im Mittelpunkt und übernimmt die Führung in der Interaktion. Die Rolle der Bezugspersonen besteht darin, das Kind zu begleiten und zu unterstützen.
Ideales Erziehungsverhalten wird zum Beispiel in den Sensitivitätsskalen2 von Mary Ainsworth beschrieben. Demnach sollen kindliche Signale jederzeit sensibel wahrgenommen und richtig interpretiert werden, um angemessen und prompt darauf zu reagieren. Durch diese Erfahrungen wird das Kind darin bestärkt, seine Befindlichkeiten zu äußern und lernt, dass seine Gefühle, Wünsche, Vorlieben und Gedanken ernst genommen werden und dieses innere psychische Erleben eine Bedeutung in der äußeren Welt hat. Die Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins und Selbstwertes wird dadurch gefördert.
Dementsprechend betonen Eltern der westlichen Mittelschicht, wie wichtig es sei, dass ihre Kinder eigene Interessen und Talente sowie die Fähigkeit, eigene Vorstellungen klar auszudrücken, entwickeln. Selbstbewusstsein, Einzigartigkeit und Durchsetzungsfähigkeit stellen hoch bewertete Sozialisationsziele dar (Keller 2011).
Diese Ziele beruhen auf Anpassung an den wettbewerbsorientierten westlichen Mittelschichtkontext, in dem die individuelle Leistung bzw. die fachlichen und Selbstkompetenzen des Einzelnen über seinen (beruflichen) Erfolg bestimmen. Dabei ist es enorm wichtig, sich von anderen abzuheben, eigenständige Entscheidungen zu treffen und sich gegenüber anderen durchzusetzen. Diese Fähigkeiten versprechen optimale Zukunftsperspektiven in der hoch technisierten und individualisierten, sich schnell verändernden postindustriellen Arbeitswelt.
Global betrachtet, teilen jedoch nur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung dieses Lebensumfeld (Henrich u. a. 2010). Diese Gruppe hochgebildeter, wohlhabender, in urbanen Ballungsräumen westlicher Informationsgesellschaften lebender Familien ist also alles andere als repräsentativ und vertritt auch nicht das einzig mögliche Sozialisationsmodell.
Fallbeispiel 2
Ein Alternativmodell wird im zweiten Fallbeispiel deutlich. Die kleinbäuerliche Lebensweise in traditionellen Dorfgemeinschaften wird von etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung geteilt und steht in deutlichem Kontrast zum westlichen Mittelschichtmilieu. In diesem Lebensumfeld ist der Zugang zu formaler Schulbildung erschwert. Die Menschen leben in streng hierarchisch organisierten Großfamilien mit vielen Kindern. Hier beobachten wir Kinder, die von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden, aber nur selten dabei in deren Aufmerksamkeitsfokus stehen. Vielmehr sind sie Teil der Aktivitäten der Bezugspersonen und erleben häufig engen Körperkontakt. Die Bezugspersonen kontrollieren die kindlichen Aktivitäten und trainieren gewünschte Verhaltensweisen. Sie wissen, was gut für die Kinder ist, ohne sich an individuellen momentanen Befindlichkeiten zu orientieren.
Im Mittelpunkt der Erziehung steht in diesem Milieu die Entwicklung von Gehorsam und Respekt gegenüber Älteren (Keller 2011). Die Kinder sollen lernen, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, sich in die Familienstruktur einzuordnen und als Teil der Gemeinschaft ihre Aufgaben zu übernehmen. Die Erhaltung der sozialen Harmonie und die Fürsorge für andere spielen für das (wirtschaftliche Über-)Leben in diesem Umfeld eine bedeutende Rolle. Wer sich erfolgreich in die Gemeinschaft eingliedert, darf an den knappen Ressourcen teilhaben. Erfolg ist nicht durch besondere Leistungen des Einzelnen, sondern durch das gemeinsame Bemühen der Gruppe zu erzielen.
Vergleicht man diese beiden unterschiedlichen Erziehungsstrategien aus den Fallbeispielen 1 und 2, so wird deutlich, dass die westliche Mittelschicht den Fokus auf das einzelne Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen, Vorlieben sowie charakteristischen Merkmalen und Kompetenzen legt, während die traditionellen Bauernfamilien das Kind in Relation zu anderen, als Teil einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft im Blick haben. Diese beiden Perspektiven lassen sich nach Keller als zwei verschiedene kulturelle Modelle beschreiben, die durch den unterschiedlichen Umgang mit den beiden menschlichen Grundbedürfnissen – der Autonomie und der Verbundenheit – gekennzeichnet sind (Keller 2011; Keller & Kärtner 2013). Beide Bedürfnisse sind universal, strebt doch jeder Mensch einerseits nach Kompetenzerleben und andererseits nach Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Dennoch werden...