2 Ein Rahmenkonzept mit mehreren Förderebenen – Response to Intervention (RTI)
Yvonne Blumenthal
Die Gestaltung einer inklusiven Schule und die damit verbundenen Veränderungen bisher bestehender Schulstrukturen brauchen neben einer zuversichtlichen Grundeinstellung aller Beteiligten vor allem eins: ein sinnvolles Rahmenkonzept. In diesem Kapitel wird ein in den USA entwickeltes und etabliertes Rahmenkonzept vorgestellt, dessen Umsetzung auch in Deutschland gelingt, wie erste Ergebnisse des Rügener Inklusionsmodells (RIM) zeigen ( Kap. 1; Voß, Blumenthal et al., 2016; Voß, Marten et al., 2016).
Dieses Kapitel stellt dieses Rahmenkonzept vor und zeigt damit Handlungsstrategien und -möglichkeiten auf, die von der Schulleitung mit dem Kollegium gemeinsam zu organisieren und umzusetzen sind. Die Schulleitung und mindestens 80 % des Lehrerkollegiums sollten von dem Konzept überzeugt sein, bevor es systematisch und sukzessive Jahrgang für Jahrgang in der Praxis etabliert wird. Ein Prozess der Akzeptanzbildung in einer Schule ist also eine der Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Implementation des Ansatzes. Er beginnt mit der Information über die wesentlichen Merkmale des RTI-Modells.
Was steht hinter der Abkürzung RTI (= Response to Intervention)?
Grundsätzlich gibt es nicht das RTI-Konzept als solches. Vielmehr bildet RTI einen konzeptuellen Rahmen, in dem drei wesentliche Kernelemente zu einem präventiv und inklusiv ausgerichteten Beschulungskonzept miteinander verbunden werden (Blumenthal, Kuhlmann & Hartke, 2014):
• Nach Intensität gestufte Förderebenen zur Prävention von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten, die sog. Mehrebenenprävention,
• datengeleitete Förderentscheidungen auf Basis von Ergebnissen in Screenings und Lernverlaufsdokumentationen (progress monitoring) und
• der Einsatz evidenzbasierter Lehr- und Fördermethoden sowie -programme.
Grundlegend für den RTI-Ansatz ist die kontinuierliche Vergewisserung, ob bei allen Kindern angemessene Lern- und Entwicklungsfortschritte (»Response«) durch (»to«) den bisher durchgeführten Unterricht und/oder Förderung (»Intervention«) erreicht werden. Dies geschieht mithilfe diagnostischer Verfahren ( Kap. 3). Man überprüft also den Erfolg des Unterrichts bzw. der Förderung und damit auch die Passung zwischen Kind und Unterricht sowie der Förderung.
Fallen die Fortschritte erwartungsgemäß aus, gilt das Kind als sogenannter Responder, d. h. Unterricht und Förderung passen zum Kind. Bleiben Fortschritte aus, gilt das Kind als Nonresponder. Daraus resultiert dann die Aufforderung, die pädagogische Situation zu verbessern. Die Aufgabe einer Lehrkraft besteht also darin, möglichst früh zu erkennen, dass einzelne Schülerinnen und Schüler nicht genug von dem Unterricht bzw. Förderung »mitnehmen«, um dann die bestmögliche Passung zwischen der Lernausgangslage des Kindes und dem Unterricht bzw. der Förderung herzustellen. D. h. es erfolgt keine Aussonderung des Kindes, sondern der Unterricht und die Förderung an der allgemeinen Schule werden fortlaufend in Hinblick auf ihre Eignung für das Kind kontrolliert und von der Lehrkraft schrittweise optimiert. Es erfolgt also ein Perspektivwechsel von »das Kind passt nicht in diesen Unterricht bzw. in diese Schule« hin zu »der bisher durchgeführte Unterricht passt nicht zum Kind«. Zeigt sich, dass die Unterstützung auf der gegenwärtigen Förderebene (FE) nicht ausreicht, erfolgt zusätzlich eine intensivere Förderung auf der nächst höheren FE. Die Anzahl der FE ist nicht vorgeschrieben, meist wird jedoch, so auch im RIM, ein Konzept mit drei FE umgesetzt. Innerhalb dieser Ebenen sind die Aufgaben der Grundschul- und Sonderpädagogen klar verteilt, wobei besonderer Wert auf ein hohes Maß an Kooperation in Form von Teamberatungen gelegt wird ( Kap. 10).
Das Erkennen, ob und in welchem Maß ein Kind vom Unterricht profitiert, geschieht durch regelmäßige Messungen der Lernfortschritte ( dazu Kap. 3). Die konkrete Förderung des Kindes erfolgt auf mehreren Ebenen, der sog. Mehrebenenprävention. Ausgangspunkt stellt dabei ein individualisierter/adaptiver Klassenunterricht (Förderebene I) dar. Zusätzlich wird entschieden, ob für Kinder, die sich als nicht responsiv herausstellen, eine Förderung in Kleingruppen (FE II) bis hin zur Einzelförderung (FE III) notwendig ist. Anhand einer Pyramide ( Abb. 1) lässt sich das gesamte Rahmenkonzept sehr gut veranschaulichen.
Wie aus der Abbildung hervorgeht, werden grundlegend folgende drei FE unterschieden, wobei sich die FE III oft in zwei Phasen unterteilt.
• FE I: Hochwertiger inklusionsorientierter Unterricht
• FE II: Qualifizierter Förderunterricht
• FE IIIa: Spezifische intensive Förderung – präventive Fallarbeit
• FE IIIb: Zieldifferente Förderung
Auf FE I, dem inklusionsorientierten Unterricht, liegt die Verantwortung vollständig bei der Klassenlehrkraft. Mit zunehmender Förderebene nimmt die Verantwortung des Sonderpädagogen zu, der die Förderung auf Ebene III vollständig plant und durchführt. Zudem unterstützen je nach Ressourcenlage und Bedarf weitere pädagogische Fachkräfte wie Schulsozialarbeiter, Pädagogen mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung und Integrationshelfer die Umsetzung der Förderung. Die Schulleitung ist vor allem auf organisatorischer Ebene eine wichtige Stütze in der Erfüllung von Rahmenbedingungen, indem sie dafür sorgt, dass die Förderung auf Ebene II und III sowohl personell als auch räumlich kontinuierlich sichergestellt ist. Die Arbeit auf den Förderebenen wird im
Abb. 1: Förderebenen und Förderebenenzuordnung im Response to Intervention-Ansatz
weiteren Kapitel in Form von Handlungsmöglichkeiten beschrieben. Sie sind konzeptionell-organisatorische Handlungsoptionen für Pädagogenteams, bestehend aus der Schulleitung und den Lehrkräften einer Klassenstufe nebst Sonderpädagogen und weiterem Unterstützungspersonal wie z. B. Sozialpädagogen oder Pädagogen mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung. Sie können auch als konzeptionell-organisatorische Handlungsmöglichkeiten einer ganzen Schule, die von der Schulleistung und einer Leitungsgruppe zur Implementation von RTI-Strukturen koordiniert werden, aufgefasst werden.
2.1 Förderebene I (FE I): Hochwertiger inklusionsorientierter Unterricht
Ziel
Der reguläre Klassenunterricht (Kernunterricht) wird so gestaltet, dass alle Kinder, also auch Schülerinnen und Schüler mit sehr ungünstigen Lernausgangslagen davon profitieren können.
Kurzbeschreibung
Für alle Schülerinnen und Schüler bildet der reguläre Unterricht die Basis für ein erfolgreiches Lernen. Aufgrund der Heterogenität der Schülerschaft in einer inklusiven Schule ist es notwendig, diesen Unterricht inklusionsorientiert zu gestalten. Das meint nichts anderes als die kontinuierliche Einbindung nachweislich wirksamer Elemente zur Förderung der Lern- und Verhaltensentwicklung aller Kinder.
Anwendungsbereich und mögliche Anwendungsprobleme
Verantwortlich für den Unterricht ist die Regelschullehrkraft. Zusätzlich sollten bei Bedarf weitere qualifizierte Personen (z. B. Sonderpädagogen, Logopäden, Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen) hinsichtlich spezifischer Maßnahmen, wie beispielsweise sprachheil- oder verhaltensförderlicher Unterrichtsanteile, beratend zur Seite stehen. Hier steht die Schulpraxis häufig vor zeitorganisatorischen Problemen. Die Umsetzung der Förderebene 1 stellt sehr hohe Anforderungen an die Klassenlehrkräfte. Ein inklusionsorientierter Unterricht erfordert neben der Bereitschaft, den eigenen Unterricht zu überprüfen, ein sehr hohes Engagement in der Planung und Durchführung eines differenzierten Unterrichts. Auch bei einem hohen Engagement für einen inklusionsorientierten und hochwertigen Unterricht kann es zu Anwendungsproblemen kommen, da die räumliche und sächliche Ausstattung einiger Schulen die Umsetzung bestimmter Methoden kaum zulässt (z. B. den Aufbau einer Lerntheke oder von offenen Regalen mit vielfältigen Materialien in zu kleinen Klassenräumen).
Beschreibung der...