Die Hannover-Geschichte
Hannover liegt mit 523 000 Einwohnern in der Rangliste der deutschen Großstädte auf Platz 13, hinter Leipzig und Dresden, vor Nürnberg und Duisburg. Die Region Hannover als Kommunalverband hat 1,12 Millionen Einwohner, das Land Niedersachsen als zweitgrößtes deutsches Flächenland (hinter Bayern) 7,8 Millionen. Das Bundesland Niedersachsen, 1946 unter britischer Besatzung entstanden, ist landsmannschaftlich buntscheckig – Friesen, Emsländer, Oldenburger, Osnabrücker, Schaumburg-Lipper, Hildesheimer, Eichsfelder. Auch die inoffizielle, antipreußische Niedersachsen-Hymne (»Sturmfest und erdverwachsen«) wurde erst 1926 gedichtet. Signifikant ist aber der Abstand Hannovers zur nächsten niedersächsischen Großstadt Braunschweig, mit nur 249 000 Einwohnern nicht einmal halb so bevölkerungsreich. Dann folgen als weitere Großstädte nur noch Oldenburg (161 000), Osnabrück (157 000), Wolfsburg (123 000) und Göttingen (118 000). Hannover ist also als Großstadt recht übersichtlich, dominiert aber nicht nur als Verwaltungskapitale das übrige Niedersachsen ziemlich deutlich. Durch die Modernisierung des Landes Niedersachsen, ursprünglich stark agrarisch geprägt, mit vielen Ostflüchtlingen und viel »Zonenrandgebiet«, gelang in und um Hannover nach dem Zweiten Weltkrieg ein interessanter ökonomischer Mix aus klassischer Industrie, Verwaltung, Versicherungswirtschaft und Hightech, wenn auch eine gewisse Abhängigkeit von der Automobilbranche und ihren Zulieferbetrieben nicht zu verkennen ist. Die größten Unternehmen im Bereich der IHK Hannover, nach Beschäftigtenzahl, sind Volkswagen Nutzfahrzeuge (allein 12 500 Beschäftigte), das Klinikum Region Hannover, die Medizinische Hochschule, Continental, die Deutsche Bahn, TUI, die Nord LB und die Talanx-Versicherungsgruppe. Daneben Rossmann und die Sparkasse Hannover sowie Traditionsbetriebe wie Sennheiser, Bahlsen und Madsack.
Volkswagen. Der VW-Konzern, 202 Milliarden Euro Umsatz 2014, mit seiner einzigartigen und häufig kritisch beurteilten Besitzstruktur aus Großaktionären (Porsche, Piëch) und Niedersachsen-Sperrminorität, plus beinhartem Einfluss der IG Metall, ist auch für die Region Hannover das industrielle Rückgrat. Und das im Dritten Reich entstandene Auto-Kombinat mit entsprechender Volksgemeinschafts-Mentalität – noch bei den Gemeinderatswahlen in Wolfsburg 1948 erreichte die extreme »Deutsche Rechts-Partei« nahezu 70 Prozent der Stimmen – gibt dem jeweiligen niedersächsischen Ministerpräsidenten erhebliche personal- und industriepolitische Einflussmöglichkeiten im Aufsichtsrat, zumeist im Schulterschluss mit den IG-Metall-Funktionären.
»Was man unterschätzt«, so FDP-Mann Patrick Döring, »ist die besondere Position des niedersächsischen Ministerpräsidenten. Er ist eben nicht nur Ministerpräsident, er ist auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des weltgrößten Automobilbauers. Er hat einen völlig anderen Zugang zu wichtigen Industriekreisen der Bundesrepublik Deutschland. Das verändert natürlich auch jeden Politiker, denn auf einmal sind nicht mehr Fraktions- und Gremiensitzungen so spannend, sondern man ist in einer ganz anderen Welt: im Aufsichtsrat, im Präsidium des Aufsichtsrats eines Weltunternehmens mit weltläufigen Managern, mit ganz anderen Themen. Das verändert einen. Gut, dass die Konstellation mit VW so ist, aber es zeigt schon, dass der Ministerpräsident Niedersachsens eine andere Rolle hat als der Ministerpräsident jedes anderen Landes. Und das färbt auf die Personen ab. Das gilt, glaube ich, seit Schröder für jeden.«
Wenn man einmal beim Vergleich mit den anderen Bundesländern und deren Hauptstädten im System föderaler Machtbalance bleibt, kommt man im Subtraktionsverfahren zu einem interessanten Ergebnis für die singuläre Stellung Hannovers. Die neuen Bundesländer kann man mit ihrer spezifischen Geschichte außen vor lassen, ebenso die Bundeshauptstadt Berlin als hippe Touristenmetropole, aber auch inzwischen verwaltungspolitisch als »failed Stadt« (Spiegel), die nach der deutsch-deutschen Vereinigung mit der Melange aus Westberliner Subventionskultur und DDR-Mentalität zu kämpfen hat. Hamburg und Bremen sind Stadtstaaten ohne industrielles Hinterland auf eigenem Gebiet. In Hessen und Nordrhein-Westfalen sind die größten Kommunen nicht die Landeshauptstädte – die Staatskanzleien als Regierungszentralen befinden sich mithin nicht in Frankfurt / Main oder Köln, sondern in Wiesbaden und Düsseldorf. München hat eine vom übrigen Bayern stark separierte Weltstadt-Kultur, Bayern wiederum verfügt mit der CSU als einziges Bundesland über eine eigene Partei mit direktem bundespolitischen Einfluss. Mainz, Kiel und Saarbrücken sind als Landeskapitalen zu klein, um mit Hannover verglichen werden zu können. Die Saarländer haben sich allerdings ein starkes Gefühl landsmannschaftlicher Zusammengehörigkeit bewahrt, das mit dem der Niedersachsen vergleichbar ist – die Kooperation von Gerhard Schröder mit dem gebürtigen Saarländer Peter Hartz bei den »Arbeitsmarktreformen« im Bund hat also durchaus symbolische Qualität.
Man sieht, dass die real und potentiell starke Stellung Hannovers im Konzert der übrigen Landeshauptstädte einer historisch-soziographischen Logik folgt. Wenn wir in diesem Buch von einem »Machtzentrum« sprechen, dann gehen wir von dem Einfluss Hannovers auf die Bundespolitik aus; es steht also mehr die Rolle als Landeshauptstadt mit der Möglichkeit zur Bildung politisch-administrativer Crews mit Adlaten, Beratern, Machtmaklern (vor allem seit dem von Kanzler Schröder exzessiv praktizierten »Nachziehen« in bundespolitische Funktionen) im Fokus als stadt- und kommunalpolitische Planungen und Entscheidungen. Hannover hatte, vor allem seit Beginn der preußischen Herrschaft, mit Johann und Hermann Rasch, Ferdinand Haltenhoff, Heinrich Tramm und Arthur Menge einflussreiche Stadtdirektoren und Oberbürgermeister, aber sie verstanden ihre Arbeit explizit als »hannoversch«, ohne persönliche Ambitionen im Reich. Auch die SPD-Legende Herbert Schmalstieg, von dem es heißt, er habe während seiner 34-jährigen Amtszeit als Oberbürgermeister (1972–2006) jedem Hannoveraner mindestens einmal die Hand geschüttelt, beschränkte sich klugerweise auf seine landeshauptstädtische Repräsentanz. Jedenfalls muss zwischen den geschilderten publizistischen Zu- und Überschreibungen des »Hannover-Komplexes« und dem wirklichen, immer noch mehr durch die drei klassischen Gewalten als durch »Medien« oder eher sekundäre »Kumpaneien« bestimmten Machtgefüge sorgsam differenziert werden.
»Vorverständigung«. Nun ist das eine vom anderen nicht chemisch zu trennen, und über das Unwesen von Lobbyisten, Beratern und Einflüsterern ist zu Recht viel räsoniert worden, aber im politikwissenschaftlichen Sinne war etwa Carsten Maschmeyer in Hannover zwar in bestimmten Elitezirkeln nützlich, aber niemals »mächtig«. Als bekennender Self-Enhancement-Propagandist holte er für sich das Optimum heraus, schadete aber letztlich dem Ansehen derjenigen in der operativen Politik, denen er seine Gunst zuwandte. Jenseits von Maschmeyer und anderen Managern oder Interessenvertretern sieht Oskar Negt, Jahrgang 1934, der linke Sozialphilosoph, Bildungsreformer und Gewerkschaftstheoretiker, in dem bodenständigen und – im Vergleich zur medialen »Windmaschine« Berlin – angenehm unaufgeregteren Hannover einen Ort der politischen »Vorverständigung« im positiven Sinne: »Ich glaube, dass hier eine Atmosphäre der Aufklärung da ist, in dem Hannover-Komplex – wie Sie sagen. Dass verschiedene informelle Strukturen existieren, die aber nicht so diesen Amigo-Touch haben, wie vielleicht in anderen Bundesländern, sondern doch eher einen Aufklärungswert, verknüpft mit alten Arbeitertraditionen, die in bestimmten Bereichen hier intakter sind, wenn sie etwa Linden nehmen, diesen Stadtteil, der ist auf ewige Zeit irgendwie links.« Negt wohnt mit seiner Frau in einer geräumigen Altbauwohnung im Stadtteil List in unmittelbarer Nähe der alten Bahlsen-Verwaltungszentrale; der Adorno-Schüler gehörte auch zum Beraterstab von Gerhard Schröder und publizierte im Bundestagswahlkampf 1998 die Schrift: »Warum SPD? – Sieben Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel«.
In Hannover selbst und in Niedersachsen spielte die Sozialdemokratie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine starke Rolle, Folge der Industrialisierung Hannovers und vor allem Lindens (das erst 1920 eingemeindet wurde). Die Arbeit des ersten sozialdemokratischen Bürgermeisters von Hannover, Robert Leinert (im Amt von 1918 bis 1924), eines gelernten Malergesellen, war von »vaterländischen« und bürgerlichen Kreisen noch blockiert worden, wo es nur ging; nach 1945 gab es in der niedersächsischen Landeshauptstadt dann nur noch SPD-Oberbürgermeister. Der erste »Landesvater« Niedersachsens nach dem Zweiten Weltkrieg, Hinrich Wilhelm Kopf, war eine Art welfischer Sozialdemokrat. Mit Georg Diederichs, Alfred Kubel, Gerhard Schröder, Gerhard...