Der Grundstein – vom Tiroler Buben zum Kärntner Unternehmer
»Meine Großmutter hat gesagt: Nix haben ist ein ringes Leben«, erzählte Hans Peter Haselsteiner einmal in einem Interview mit der Wiener Stadtzeitung Der Falter über seine Kindheit. »Das ist Tirolerisch. Ring heißt ruhig«, fügte er erklärend hinzu. Der Bauindustrielle wurde am 1. Februar 1944 in Wörgl im Unterland geboren – als uneheliches Kind der jungen Hauptschullehrerin Herma Haselsteiner und eines 21 Jahre älteren Innenarchitekten aus Stuttgart, dessen Namen er in keinem seiner vielen Interviews öffentlich und auch nicht im Gespräch für dieses Buch nannte. Seine Eltern lernten sich im Jahr 1939 oder 1940 kennen, erzählte mir Haselsteiner: »Damals war mein Vater im Wilden Kaiser klettern.« Obwohl seine Eltern eine langjährige Liebesziehung führten, die erst mit dem Tod des Vaters endete, waren sie nie verheiratet, weil der Vater bereits eine Ehefrau hatte. »Zuerst wollte er sich nicht scheiden lassen. Als er dann so weit war, sagte meine Mutter: Danke vielmals, das brauche ich nicht mehr. Dann ist er eh gestorben. Wenn er da war, wohnte er natürlich bei uns. Die beiden führten aber eine Fernbeziehung und das Reisen war damals nicht so leicht wie heute.«
Eine uneheliche Geburt war im katholisch geprägten Tirol stets ein Makel gewesen. In den Kriegsjahren und -wirren kam derlei zwar häufig vor, leicht war es aber für Haselsteiner und seine Mutter dennoch nicht. »Bankert« schimpften die anderen Kinder den späteren Bauindustriellen oft – eine schlimme Beleidigung. Denn im Gegensatz zum Bastard, dem »normalen« unehelichen Kind, zu dem sich wohlhabende Männer öffentlich bekennen konnten, weil es aus einer Beziehung mit einer ehrbaren Frau stammte, galten Bankerte als Kinder von unehrenhaften Frauen. »Diese Hure darf unsere Kinder nicht unterrichten«, hieß es auch in einem anonymen Beschwerdebrief an die Schulbehörde. »Ein lediges Kind zu sein, hatte in den Fünfzigerjahren einen ganz anderen Stellenwert als heute. Damals war im ›Heiligen Land‹ und noch dazu in einer ländlichen Gegend eine ledige Mutter eine Schande. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.« So manchem, der ihn wegen seiner Abstammung gehänselt hatte, verpasste Haselsteiner eine Abreibung. Er lernte schon früh zu kämpfen, im wörtlichen und übertragenen Sinn, was im späteren Leben wohl kein Nachteil war.
Wurzeln in der Eisenbahner-Stadt
Haselsteiners Geburtsstadt Wörgl liegt im dicht besiedelten Unterinntal. In ihr leben heute knapp 13 000 Menschen. Dabei war sie über Jahrhunderte ein einfaches Bauerndorf, das neben der Landwirtschaft vor allem von den Reisenden lebte, die auf dem Weg von oder nach Schwaz und Innsbruck und weiter Richtung Brenner und Italien durchkamen. 1853 – Wörgl hatte damals gerade einmal knapp 1 000 Einwohner – gab Kaiser Franz Joseph I. den Auftrag, eine Eisenbahnlinie zwischen Innsbruck und Kufstein zu bauen, den damals wie heute größten Städten Tirols. Es war dies die erste Bahnlinie im Westen des heutigen Staatsgebiets von Österreich. Sie wurde 1858 eröffnet und führte auch an Wörgl vorbei. Ab 1872 begann wiederum auf kaiserliche Anordnung der Bau der Giselabahn, benannt nach der zweiten Tochter des Kaisers, Erzherzogin Gisela Louise Marie von Österreich. Sie sollte die letzte bestehende Bahnlücke auf der Strecke von Paris über Zürich, Wien und Budapest bis nach Istanbul schließen. Dieser Streckenabschnitt führt noch heute über das Tiroler Brixental, den Salzburger Pinzgau und das Salzachtal in die Stadt Salzburg und weiter nach Oberösterreich und Wien. Heute ist die gesamte Strecke als Westbahn bekannt und ein Teil des Kernnetzes der ÖBB.
Wörgl wurde mit der neuen Giselabahn plötzlich zum Bahnknotenpunkt, da die Stadt am Eingang in das Brixental liegt, und erlebte dadurch einen rasanten Aufschwung. Die Tiroler Landesstatistik führt die Unterinntal-Stadt als eine der am schnellsten wachsenden Kommunen des Landes: Um die Wende zum 20. Jahrhundert hatte das einstige Dorf bereits 3 000 Einwohner. Von 1870 bis heute hat sich die Einwohnerzahl verzehnfacht, während sie sich im Rest des Bezirks Kufstein, zu dem Wörgl gehört, »nur« verdreifachte.
Die Eisenbahn brachte Arbeit und damit auch Zuwanderer. Diese kamen nicht nur aus den abgelegenen Tälern der damaligen Gefürsteten Grafschaft Tirol, sondern aus allen Teilen der Donaumonarchie. Die Migration hält bis heute an: Mehr als 15 Prozent der heutigen Wörgler sind keine österreichischen Staatsbürger, viele weitere haben Wurzeln im Ausland. Nur mehr drei Viertel der Stadtbevölkerung bekennt sich im stark katholisch geprägten Tirol zum katholischen Glauben. Wörgl ist bunt, auch politisch – eine kleine, weltoffene, liberale Stadt. Auch wenn Haselsteiner schon längst nicht mehr in seiner Geburtsstadt lebt: Die Herkunft aus einer multikulturellen Eisenbahnerstadt hat ihn sicher geprägt. Umso interessanter ist es, dass er heute mit der WESTbahn sein eigenes Bahnunternehmen betreibt. Und auch seine gesellschaftspolitisch liberale Grundeinstimmung dürfte von seiner Herkunft nicht ganz unbeeinflusst sein.
Eine prominente Mutter
Dabei wuchs der spätere Abgeordnete des Liberalen Forums in einem bürgerlich-konservativen Haushalt auf. Hier wurden die Traditionen hochgehalten und es wurde natürlich auch der typische Dialekt des Tiroler Unterlands gesprochen. Heute blitzt in Haselsteiners Sprache bestenfalls noch bei einigen Kehllauten seine Herkunft durch. Die Mutter dürfte wohl zeit ihres Lebens nur die ÖVP gewählt haben. Der legendäre Tiroler Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (1913–1989) war ein Freund der Familie. »Meine Mutter wurde Landesschulinspektorin und zog deshalb nach Innsbruck. Dort lernte sie den damaligen Agrar-Landesrat Eduard Wallnöfer kennen. Ich persönlich habe ihn seit meiner Oberstufen-Gymnasialzeit in Erinnerung. Der Walli war natürlich in jeder Richtung eine beeindruckende Persönlichkeit. Die ersten Jahre hatte ich noch kein Interesse an der Politik. Das wuchs dann aber, und es war immer unglaublich spannend, dabeisitzen und mithören zu dürfen, was da geredet wurde«, erinnert sich der spätere Bau-Tycoon zurück: »Er war ein sehr charismatischer Politiker. Und er hätte mir eine politische Karriere nicht erspart.« Tatsächlich sollte der damals so interessierte Gymnasiast später der ÖVP beitreten. Dort hielt es ihn aber nicht lange.
Obwohl Haselsteiner weitgehend vaterlos aufwuchs, hatte er eine weit verzweigte Verwandtschaft, in der seine Mutter sehr beliebt war, auch weil sie eine passionierte und sehr gute Volksmusikerin war. Wie viele Lehrer in kleineren Gemeinden war auch sie ein fester Bestandteil des örtlichen Vereinslebens und rief 1946 den Wörgler Mädchenchor ins Leben, mit dem sie 1948 sogar das Bundesjugendsingen gewann. 1966 gründete Herma Haselsteiner gemeinsam mit Sepp Landmann, dem unvergessenen Sprecher des bekannten Sängertreffens beim Stanglwirt in Going, den Tiroler Volksmusikverein und wurde auch dessen erste Vorsitzende. Der Verein hat heute mehr als 1 400 Mitglieder, die das bodenständige Tiroler Liedgut pflegen, aber auch erforschen und für die Nachwelt erhalten. Herma Haselsteiner war als Sängerin von Volksliedern oft im Tiroler Radio zu hören. Sie starb 1982 als hoch angesehene Regierungsrätin und pensionierte Landesschulinspektorin im Alter von 67 Jahren, was damals in Tirol Schlagzeilen machte. Seit 2010 wird zu ihrem Andenken beim Alpenländischen Volksmusikwettbewerb der Herma-Haselsteiner-Preis in acht Kategorien vergeben. Ihr Sohn machte sich schon einige Jahre davor ebenfalls in Erinnerung an seine Mutter als Förderer der Hochkultur in Tirol einen Namen.
Wenngleich der Bau-Tycoon in erster Linie von seiner Mutter erzogen wurde, hatte er doch Kontakt zu seinem Vater, der ihn auch stark prägte. So habe er dem Architekten die Liebe zur bildenden Kunst zu verdanken, erzählte er immer wieder. Und so wie der Vater, der mit 63 Jahren starb, als Haselsteiner 14 Jahre alt war, wurde auch der Sohn im Baugeschäft tätig, obwohl er das keineswegs geplant hatte.
Schulzeit im Internat
Nach der Volksschule in Wörgl wechselte Haselsteiner in das heute nicht mehr existierende Bundeskonvikt Lienz – ein öffentliches, weltliches Gymnasium mit angeschlossenem Internat. »Meine Mutter war berufstätig. Mein Vater lebte in Stuttgart, wo er auch tätig war. Es gab also niemanden, der auf mich aufgepasst hätte. Außerdem hätte ich ›Fahrschüler‹ werden müssen, weil es in Wörgl kein Gymnasium gab – das nächste wäre in Kufstein gewesen. Meine Mutter hatte aber mit Fahrschülern schlechte Erfahrungen gemacht und wollte das für mich nicht – daher die Entscheidung für das Internat.« Lienz ist nicht nur die Bezirksstadt von Osttirol, sondern auch das Zentrum für einen Teil Oberkärntens. Daher traf Haselsteiner dort erstmals mit Buben aus seiner späteren Wahlheimat zusammen. »Wir waren je zur Hälfte Tiroler und...