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Momente gelingender Beziehung

Was die Welt zusammenhält - eine Spurensuche mit Jesper Juul, Gerald Hüther, Gesine Schwan u.a.

AutorBerthild Lievenbrück, Krista Warnke
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783407222824
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Jesper Juul, Gerald Hüther, Gesine Schwan und alle anderen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind sich einig: authentische Beziehungen sind das entscheidende Lebenselixier für eine Welt, die immer mehr auseinanderzubrechen droht. In Interviews und Reportagen macht dieses Buch sich auf die Suche nach einer neuen Beziehungskultur. Die prominenten Interviewpartner zeigen, was Momente gelingender Beziehung in Familie, Wirtschaft, Politik und Musik bewirken können, wie man sie schafft, aber auch, welche Hindernisse sich ihnen entgegenstellen. In einer neuen Beziehungskultur liegt die Möglichkeit, eine Welt, die heute von Krisen und Kriegen heimgesucht wird und in der menschliche Beziehungen immer mehr von Effizienz und Ressentiments geprägt sind, zum Positiven zu verändern - im Großen wie im Kleinen.

Krista Warnke, geboren in Österreich, studierte Musikwissenschaft und Psychologie in Hamburg. Von 1979 bis 2009 war sie Professorin für Musikwissenschaft mit den Schwerpunkten Musikpsychologie, Rezeptionsforschung sowie Gender Studies an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Berthild Lievenbrück ist Oberstudienrätin für Musik und Englisch an der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg. Als Saxophonistin war sie viele Jahre mit dem Ensemble »Classic 4 Sax« künstlerisch tätig.

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Leseprobe

Zwei – Auf Spurensuche


Gespräche mit Jesper Juul, Gerald Hüther, Gesine Schwan, Wolf Dieter Grossmann und Claudia von Braunmühl

»Hier bin ich – wer bist du?«
Jesper Juul


Das Schlüsselwort heißt Beziehung. Ihre Qualität entscheidet über unser Wohlbefinden und unsere Entwicklung als Mensch.43

Jesper Juul ist einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer von »familylab – die Familienwerkstatt«. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt. Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, ist Autor von mehr als zwei Dutzend Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. In Deutschland sind mehr als 30 Buchtitel und DVDs von ihm erschienen.

In Ihrem Buch »Von Erziehung zu Beziehung« haben Sie den Begriff der »beziehungsfreudigen Zukunft« geprägt. Er hat uns sofort angesprochen. Gehen wir in eine beziehungsfreudige Zukunft?

Im Moment bin ich da eher ein bisschen pessimistisch, denn niemand nimmt das Thema Familie und Beziehung so richtig ernst. In Österreich habe ich viele Lehrgänge gegeben, bei denen ich von vornherein gesagt habe: »Ich will nur Teilnehmer, die mit Familien arbeiten.« Sie waren begeistert. Dann habe ich aber entdeckt, dass sie nur mit Müttern und Kindern arbeiten. Das ist ihr Familienbegriff. Zudem glauben sie, mit den Kindern gehe es nur über Erziehung. Es geht ihnen also nicht um Beziehung innerhalb der ganzen Familie, es geht immer wieder nur um Erziehung. Das ist ein wenig hoffnungslos, denn alles, was wir lernen können, geht doch über Beziehung. Die systemischen Familientherapeuten und die Theoretiker wissen das ganz genau. Es geht nur so.

Wir hoffen natürlich, dass wir uns alle mehr und mehr für dieses Thema öffnen. Es scheint so zu sein, aber genau weiß ich es nicht. Ich war letzte Woche in der Schweiz und habe zum ersten Mal in einer Business School für Führungskräfte über Beziehung geredet. Die haben sehr genau und sehr interessiert zugehört und fragten ganz erstaunt: »Warum hat uns das niemand, wirklich niemand bisher gesagt?«

Worüber waren die Teilnehmenden denn so erstaunt?

Dass Beziehung so wichtig ist. Einer zum Beispiel kam aus der Hochfinanz und hat gesagt: »Bei uns geht alles über Geld und Profit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Beziehung auch da funktionieren kann.«

Wir haben dann darüber diskutiert und ich habe gesagt: »Hör mal, das ist interessant. Genau wie in Schulen, genau wie bei Kinderpsychiatern. Alle stellen sich vor, wenn man Beziehung ernst nimmt, nimmt das viel Zeit von der Hauptsache weg. Ob das Unterricht ist oder was auch immer. Sie können jetzt in der Mittagspause versuchen, sich das Gegenteil vorzustellen, nämlich dass Sie Ihre Produktivität steigern werden.« Darüber hat er nachgedacht.

Konnte er es annehmen?

Ja, er war ein intelligenter Mann und sehr flexibel. Er war ja auch gekommen, weil ihn das Thema interessiert hat. Es ist schon komisch. Einerseits taucht das Thema »Beziehung« erst jetzt überall auf, und auf der anderen Seite tun alle, als wüssten sie schon längst darum.

Stimmt, denn eigentlich ist es nicht neu, dass gutes In-Beziehung-gehen und »Momente gelingender Beziehung« so wichtig für uns sind. Und in unseren vielen Gesprächen über »Momente gelingender Beziehung« wurde auch immer wieder klar: Das gilt für alle Lebens- und Tätigkeitsbereiche.

Trotzdem ist es vielen Menschen nicht bewusst. Wenn man jedoch mit jemandem darüber spricht und gemeinsam darüber nachdenkt und nachfühlt, stellt sich dann doch so etwas wie ein Aha-Effekt ein. Nur: Welchen Impuls brauchen Menschen, um darüber nachzudenken? Ein Gespräch mit Ihnen?

Das weiß ich nicht. Aber es kann schon sein. Es ist ein wenig wie bei dem Sprichwort: Man geht über den Fluss, um Wasser zu holen.

Lassen sich Momente gelingender Beziehung eigentlich lernen? Es heißt ja immer, dass Männer sich mit Beziehungen besonders schwertun – wie ist es denn, das frage ich Sie als Familientherapeuten, mit den Vätern? Lernen sie mehr über »Beziehungen«, wenn sie wie heute mehr als früher mit ihren Kindern zusammen sind? Und wenn, was lernen sie?

Was wir jetzt in Schweden erleben, ist sehr interessant. Jetzt kommen Väter in Toppositionen in ihre Firmen zurück, die vier, fünf, sechs Monate mit ihren Kindern verbracht haben. Und wenn sie dann zurückkommen, dann passiert es.

Was passiert?

Zum Beispiel Folgendes: Normalerweise dauern die Beiratssitzungen von 13 bis 16.30 Uhr und es ist Tradition, dass man danach noch essen und trinken geht und ein paar Stunden redet. Normalerweise kommen die Herren also gegen Mitternacht nach Hause. Jetzt passiert es aber, dass Vorsitzende, also absolute Topmanager sagen: »Ich gehe um vier Uhr nach Hause, denn mein Sohn ist krank. Meine Frau war bis vier bei ihm, um vier Uhr übernehme ich.« Das sagt so ein Vorsitzender mit großer Selbstverständlichkeit. Es gibt keine Diskussion und er hat auch kein schlechtes Gewissen. So ist es und nicht anders. Dass er das macht, hat einen Rieseneinfluss. Einer von jenen Vätern hat mir auch gesagt: »In den sechs Monaten als Vater hab ich mehr über Menschen und mich gelernt als in sechzehn Jahren Seminaren.«

Es geht doch darum, sich selbst kennenzulernen, eine gewisse Empathie entwickeln zu können, um Menschen in ihrem Dasein ernst zu nehmen und nicht die Position oder Rolle, die sie spielen. Das ist neu. Bisher hört man immer noch – auch in der Schule wird das besonders deutlich –, dass man sich nicht um Beziehung und Empathie kümmern kann. Das nehme Zeit weg vom Wesentlichen, zum Beispiel der Mathematik. Eine viel zu einfache Art von Denken. Aber man kann Menschen dafür nicht kritisieren. So denken viele.

Wenn wir Beziehung und Empathie ernst nehmen, was bedeutet das?

Wichtig ist, zu wissen, dass Menschen in unterschiedlichen Beziehungen unterschiedlich sind. Wenn zwei Erzieher da sitzen und zwei Eltern und sie unterhalten sich über Jakob, dann müssen sie wissen, dass sie über vier verschiedene Jakobs reden. Sonst geht es schief. Die Fachleute kämpfen leider oft über die Definitionsmacht und sagen: »So ist er.« Das wird dann so entschieden. Oder: »Er braucht dies oder jenes.« Es zeugt von einem kompletten Mangel an Verantwortung und ist auch einfach unprofessionell, wenn man glaubt, man könnte einen Menschen allein aus seiner Beziehung zu einem anderen Menschen heraus definieren.

Das heißt, wenn man erfolgreich über Jakob sprechen will, um eine Lösung zu finden, dann müssten sich alle vier erst einmal darin einig sein, dass sie vier verschiedene Meinungen haben?

Ja. Aber nicht Meinungen. Es geht nicht um Meinungen. Es geht um Wahrnehmungen von diesem Kind.

Wie kann ich denn diesen vier Menschen, die da sitzen, bewusst machen, dass sie vier möglicherweise ganz unterschiedliche Wahrnehmungen von Jakob haben?

Das ist einfach. Man stellt es fest. Zum Beispiel sagt der Leiter der Einrichtung am Anfang: »Jetzt wollen wir vier über den Jakob reden. Dazu muss ich aber einschränkend sagen: Wir sollten nicht vergessen, dass wir über vier verschiedene Jakobs reden. Jakobs Mutter hat ihre Wahrnehmung, sein Vater hat seine, ich habe die dritte und dann gibt es noch die vierte.«

Es muss also jemanden geben, der das am Anfang zur Sprache bringt, damit es klar ist.

Ja. Es muss auch klar sein, dass es nicht schön ist, wenn man sich über die unterschiedlichen Wahrnehmungen streitet.

Als Lehrerin empfinde ich es als wichtigen Hinweis, am Anfang klarzumachen: Wir sind zehn verschiedene Lehrer, die zehn verschiedene Wahrnehmungen haben. Allerdings habe ich erfahren, dass es sehr schwierig ist, dies zu akzeptieren. Wahrnehmungen haben viel mit Macht zu tun.

Klar, alle wollen recht haben.

Was können wir gegen diese Hierarchie tun, wenn wir über Kinder reden?

Der große Fehler ist überall, auch mit erwachsenen Schülern, dass die selbst nie eine Stimme haben. Alle wollen die Schüler definieren. Niemand will hören, wie sie sich selber definieren. Das geht vom Kindergarten über die Schule und immer so weiter.

Bedarf es dazu der Augenhöhe? Dessen, was Sie mit Ihrem Begriff »Gleichwürdigkeit« benennen?

Genau. Das ist eine der vier Voraussetzungen, die für gelingende Beziehungen wichtig ...

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