1. Vorlesung
Erscheinungen des Todestriebes I: Wiederholungszwang, Sado-Masochismus und negative therapeutische Reaktion
Sigmund Freud war der erste große Theoretiker, der sich mit der Problematik der Gewalt als einer grundlegenden psychischen Motivation beschäftigte. Seine Theorie des Todestriebes7 versuchte erstmals, Aggression als eine entscheidende Motivation des menschlichen Wesens zu beschreiben. Obwohl heutzutage sehr kontrovers diskutiert, wurde diese Theorie ausschlaggebend für alle Untersuchungen zur Gewaltproblematik. Es ist daher immer noch sehr sinnvoll, von der Theorie des Todestriebes auszugehen, sie im Rahmen heutiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zu untersuchen und sie auf der Grundlage unseres heutigen Wissens zu erörtern.
Die fundamentalen Triebe waren für Freud8 damals die Sexualität in einem weiteren Sinne einschließlich der Liebe, der Abhängigkeit, aller positiven, die menschliche Beziehung stärkenden Motive, und der Todestrieb, mit allen negativen Elementen der Zerstörungssucht von anderen und von sich selbst. Dabei sprach er von Trieben, nicht von Instinkten, denn er sah bereits ganz klar den Unterschied zwischen den biologisch begründeten Instinkten und den psychisch begründeten Trieben. Er beschrieb fünf Arten der klinischen Prädominanz zerstörender, aggressiver und gewalttätiger Handlungen (Tab. 1). Jedes dieser Syndrome sehen wir klinisch heute genau so, wie er sie damals beschrieben hat.
Tab. 1: Destruktion, Aggression und Gewalt in klinischen Phänomenen nach Freud
- Wiederholungszwang
- Sadismus und Masochismus
- Negative therapeutische Reaktion
- Selbstmord in schweren Depressionen
- Zerstörerische und selbstzerstörerische Prozesse in Massenpsychologie und Gesellschaft
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Natürlich haben wir auch viel dazugelernt und wissen nun eher, was in jedem dieser Syndrome steckt. Sie sollen in den ersten beiden Vorlesungen anhand von Fallbeispielen vorgestellt werden.
Wiederholungszwang
Es war besonders der Wiederholungszwang, der Freud dazu veranlasste, einen Todestrieb anzunehmen, agieren hier doch die Patienten gegen das basale Lustprinzip. Ihr Lebensziel scheint auf Zerstörung und Tod gerichtet zu sein.
Wiederholungszwang bei aggressiven Beziehungserfahrungen
„Wiederholungszwang“ nannte Freud9 die Entdeckung, dass Patienten eine bestimmte, schwer belastende, aggressive, angst- und schreckenerregende Beziehung immer wieder in der Übertragung wiederholen, obwohl diese bereits geklärt und durchgearbeitet worden war.
Kasuistik
Die Patientin ist eine 26-jährige Frau mit narzisstischer Persönlichkeit, eine schöne, junge Frau aus aristokratischem Hause, sehr reich.
Sie hat alles, was sie sich wünschen kann, ist hoch intelligent, kreativ – eine kreative Künstlerin mit fast erschreckender Großartigkeit. Sie hielt sich für die beste Künstlerin ihres Fachs: Das haben noch nicht alle erkannt, wenn sie aber einmal überall bekannt sein wird, wird sie zu den Größten ihrer Disziplin zählen. Zudem ist sie einzigartig, denn sie hat Verstand und Tiefe, wenngleich auch dies noch nicht allgemein so gesehen wird, wie sie glaubt. Dennoch hat die junge Frau zwei Probleme in ihrem Leben: Sie ist noch nicht so berühmt, wie sie sein wollte, und obwohl sie so viele Männer um sich herum hat, wie sie sich nur wünschen kann, ist sie verzweifelt, glückte ihr bis jetzt doch keine feste Beziehung. Alle ihre Beziehungen zerbrachen, denn die Männer sind ja alle „Loser“.
Sie weiß ganz genau, was sie will: einen Mann in ihrem Alter, der schön ist, athletisch, Professor an einer großen Universität oder Chef eines internationalen Konzerns und Hunderte Millionen Dollar „wert“. Der macht ihr sofort ein Kind (das die Intelligenz der beiden vereint und ein Genie werden wird) und gibt ihr Geld, damit sie Menschen hat, die sich um das Kind kümmern können, und damit sie sich ihrer Kunst widmen kann. Es handelt sich also um einen sehr verständnisvollen Ehemann, der von ihr nicht verlangt, dass sie sich ständig um das Kind kümmert. Aber sie will das Kind haben – viele wunderbare Kinder ...
Das Beschriebene ist weder übertrieben noch eine Karikatur. Es handelt sich um einen sehr ernsten Fall, obwohl er oberflächlich fast wie ein karikaturhaftes Syndrom erscheint. Die Patientin hat bereits mehrere Behandlungen in einer negativen Übertragung abgebrochen und ist voller Hass auf frühere Therapeuten – bis auf einen. Jenen hat sie fast verführt, sagt sie, und noch jetzt hat sie telefonisch Kontakt zu ihm. In ihrer Fantasie ist sie die einzige Patientin, mit der dieser Therapeut lebenslang eine innere Beziehung haben wird, was sie, davon ist sie überzeugt, natürlich verdient. Wenn sie mit den anderen Therapeuten unzufrieden ist, dann kann sie ihn immer wieder anrufen, um sich über diese entsetzlichen Therapeuten zu beklagen.
Nach ein paar Wochen der „idealen Beziehung“, in der ich – „der größte Therapeut“ –, da ist sie vollkommen sicher,– sie, „die größte Patientin“ hat, kommt es zum Sturm. In einer Stunde hatte sie das Gefühl, ich hätte eine leicht ironische Einstellung gegenüber ihrer Behauptung, sie sei die größte Künstlerin der Welt. „Glauben Sie, dass Sie überleben könnten, wenn die Welt Sie nicht als die größte Künstlerin erkennt? Gibt es da eine Möglichkeit zu überleben?“, war meine Frage. Es folgte ein schrecklicher Wutanfall: Ich zweifle an ihr, sie habe gewusst, dass sie mir nicht trauen könne – und sie stürmte hinaus. Zehn Minuten später bekam ich einen Telefonanruf. Natürlich hatte sie bereits die Nummer meines Handys herausgefunden, ohne dass ich ihr diese direkt gegeben hätte. „Vielen Dank für die Behandlung!“, es sei sehr schön, dass ich mich um sie gekümmert habe. „Bitte schicken Sie mir die Rechnung. Auf Wiedersehen!“ Die Behandlung war beendet.
Ein paar Tage später bekam ich einen verzweifelten Anruf. Sie sei schwer deprimiert und habe – das ist typisch für diese Patientin – kurze Zeiten, in denen sie an sich verzweifelt. Nie werde sie einen Mann bekommen, sie sei sogar eine Verliererin in der Kunst, und ihr Leben sei wertlos. Sie ruft mich inmitten einer schweren Depression an, und ich sage, es wäre vernünftig, wenn sie zur nächsten Stunde käme. Vollkommen hoffnungslos erscheint sie: Ich bin ein Verlierer, sie ist eine Verliererin, es ist alles zwecklos. Sie ist schwer deprimiert. Ihre Familie ist alarmiert, ihre Mutter möchte mit mir telefonieren, denn, da es ihrer Tochter viel schlechter geht als je zuvor, scheine ich etwas falsch zu machen.
In den nächsten Stunden bearbeiten wir ihr Gefühl, wonach ich sie brutal angegriffen habe, und besprechen ihre brutale Wut auf mich, die aufgrund meiner Zweifel in ihr aufgekommen ist. Ihr Imago von mir als dem größten Therapeuten habe ich damit zerstört. Sie ist verzweifelt. Niemand wird ihr helfen, sie ist allein auf der Welt, hat absolut niemanden. Alle ihre Freundinnen sind verheiratet und haben Kinder. Alle bekannten Künstler werden in den Zeitungen erwähnt, aber niemand erwähnt sie, niemand kümmert sich um sie, und kein Mann ist für sie da. So geht das mehrere Stunden.
Langsam versuche ich ihr klarzumachen, dass ihre Wut auf meine Zweifel an ihrer Großartigkeit zur Zerstörung meiner Imago geführt hat, die dann auf sie überging, während sie selbst hoffnungslos war. Ich sagte ihr, dass sie sozusagen die letzte Rettungsinsel in mir zerstört hatte, und jetzt verlor sie mich nicht nur von außen, sondern auch als eine hoffnungsvolle Internalisierung in sich selbst, sodass meine und ihre Entwertung zusammenfielen.
Als die Patientin allmählich verstand, dass ihre Wut über die Enttäuschung darüber, von mir nicht als die größte Künstlerin der Welt gesehen zu werden, dies alles ausgelöst hatte, kam sie langsam wieder zu sich. In einer Stunde dankte sie mir für meine Geduld mit ihr, als sie so wütend auf mich war – ganz im Gegensatz zu früheren Therapeuten, die sich auch mit ihr geärgert hätten. „Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Therapeuten mit Ihnen geärgert haben“, antwortete ich, und dass ich durchaus eine große Gefahr sehe, diese Entwicklung könnte sich mit mir wiederholen und die Behandlung würde, wie schon zuvor, inmitten einer solchen Entwicklung scheitern.
Die Behandlung ging weiter – und ein paar Wochen später folgte genau das, was ich schon beschrieben habe. Obwohl wir es durcharbeiteten und sie es scheinbar verstehen konnte, wurde es fortwährend wiederholt, Monat für Monat. Langsam kam es auch zu Wutausbrüchen. Wenn ich nicht sofort ihre Telefonanrufe beantwortete, rief sie mich zu Hause an, und ich musste ihr Grenzen setzen. Sie stellte in Frage, inwieweit ich Anrufe beantworten würde, innerhalb welcher Zeit sie mir Nachrichten hinterlassen könnte usw. Hier handelte es sich um einen Wiederholungszwang, den wir fast als eine gewalttätige Entwertung von mir und der Patientin selbst bezeichnen können.
Die Frage ist: Was bedeutet das alles, und wie kann man es verstehen? Es dauerte Monate, bevor mir – und ihr – klar wurde, dass diesem Wiederholungszwang die verzweifelte Hoffnung zugrunde lag, ich würde ihrer Aggression widerstehen, trotz ihrer wütenden und hasserfüllten Entwertung weiterhin Geduld mit ihr haben, und die Hoffnung, hinter meinem bösen Selbst stünde...