Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf Inklusion
Rolf Göppel und Bernhard Rauh
Inklusion! Dies ist ein Thema, das derzeit sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der öffentlichen Debatte mit leidenschaftlichem Engagement, mit hohem moralischem Anspruch und bisweilen auch mit massiven Klagen und Vorwürfen verhandelt wird. Diese besondere emotionale Einfärbung der Diskussion deutet schon darauf hin, dass hier jenseits der nüchtern-sachlich-gelassenen Auseinandersetzung mit Daten und Konzepten auch unterschwellige Motive, verborgene Wünsche und Ängste, Abwehr- und Sicherungstendenzen etc. mit im Spiel sein könnten. Und die Auseinandersetzung mit solchen unbewussten Anteilen ist ein zentrales Anliegen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gleichzeitig handelt es sich um ein Thema, bei dem sich Mitglieder aus dem engeren Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik intensiv in die Debatte eingebracht und dabei recht unterschiedlich positioniert haben. Beides sprach dafür, ein Forum zu schaffen, auf dem diese Differenzen ausführlich diskutiert werden können, wie es im vorliegenden Band realisiert wurde.
Inklusion und die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik
Natürlich sind die zentralen Begriffe im Titels dieses Bandes: Inklusion, idealistische Forderung, individuelle Förderung und institutionelle Herausforderung nicht genuine und traditionsreiche psychoanalytische Begriffe wie etwa »das Unbewusste«, »der Ödipuskomplex« oder »die Übertragung«.
Aber mit dem Verhältnis von Inklusion und Exklusion, von Ausschlusstendenzen und Ressentiments der kompakten Mehrheit gegenüber Minderheiten – etwa im akademischen Feld, wenn anstößige Thesen vorgetragen und unkonventionelle Methoden verwendet werden, noch dazu von Forschern jüdischer Herkunft – hat sich natürlich auch schon Sigmund Freud befasst. Und die ganze Geschichte der Tiefenpsychologie ist ihrerseits in hohem Maße geprägt von Abspaltungs- und Ausstoßungstendenzen, von Auseinandersetzungen darüber, wer wirklich dazugehört zum eigenen Lager und wer nicht.
Auch mit der doppelbödigen Rolle von idealistischen Forderungen und hehren Leitbildern hat sich die Psychoanalyse immer wieder kritisch befasst. Es sei nur an Siegfried Bernfeld und seine bissigen Bemerkungen über die »Pädagogiker« erinnert, »die unentwegt den Felsblock der pädagogischen Mittel auf den Gipfel des Idealbergs wälzten« – in seinen Augen eine »sisyphische Überhebung, von boshaften Göttern mit Mühsal und Erfolglosigkeit bestraft« (Bernfeld 1967, S. 39). Janine Chasseguet-Smirgel hat einen »Psychoanalytischen Essay« über die »Krankheit der Idealität« verfasst (1987). Im engeren Umfeld der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« wäre an Günther Bittners Habilitationsschrift »Für und wider die Leitbilder« (1964) zu erinnern oder an Burkhard Müllers Buch »Die Last der großen Hoffnungen« (1991).
Im Hinblick auf den Begriff individuelle Förderung kommt natürlich die ganze Tradition der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Sinn, bei der es ja stets darum geht, ins Stocken oder in Sackgassen geratene individuelle Entwicklungsprozesse durch ein Verstehen der speziellen intrapsychischen und interpersonellen Konfliktlagen wieder in Gang zu bringen. Primäres Ziel der individuellen Förderung sind dabei in aller Regel die seelische Gesundheit bzw. das emotionale und psychosoziale Wohlbefinden. Wenn im Zusammenhang damit dann auch noch kognitive Lernblockaden aufgelöst werden und es mit dem schulischen Lernen wieder leichter vorangeht – umso besser. Die Psychoanalytische Pädagogik hat sich in vielfältiger Weise mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Lebenslage besondere Probleme mit den üblichen schulischen Lernformen und Lernanforderungen haben, befasst. Von daher hat sie eine fachlich begründete Nähe zur Heil- und Sonderpädagogik. Viele Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik haben oder hatten ihre Anbindung im akademischen Feld an heil-, sonder- oder sozialpädagogischen Instituten. Manche haben schon vor Jahrzehnten integrationspädagogische Modellprojekte initiiert und wissenschaftlich begleitet oder grundsätzliche Theoriebeiträge zu einer »Pädagogik der Vielfalt« geleistet. Auch in der aktuellen Inklusionsdebatte haben sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik mit wichtigen Diskussionsbeiträgen zu Wort gemeldet und dabei recht konträre Standpunkte vertreten.
Und auch im Hinblick auf den Umgang von Institutionen mit neuen Herausforderungen und Veränderungszumutungen gibt es durchaus eine Tradition der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit den Beharrungs-, Abwehr-, und Entwicklungsprozessen in Institutionen und Organisationen. Wiederum Bernfeld war es, der mit Blick auf die Schule eine »Instituetik« gefordert hat, eine Analyse der internen Funktionslogik und der subtilen Wirkmechanismen der Schule. Von Peter Fürstenau stammt ein vielzitierter Aufsatz mit dem Titel »Zur Psychoanalyse der Schule als Institution« (1979), in dem er die typischen rollenförmigen Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern vor dem Hintergrund familiärer Übertragungsprozesse einerseits und dem Organisationszweck der Schule andererseits untersucht. Franz Wellendorfs Buch über die schulische Sozialisation, in dem er schulische Rituale und Zeremonien als typische Szenen analysiert und Probleme der biographischen Organisation von Identität im szenischen Rahmen der Schule beschreibt, trägt den Untertitel »Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution« (1974). Weiterhin ist Stavros Mentzos »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« (1976) hier zu nennen.
Diesem Band liegt eine Tagung der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« zugrunde, die unter dem gleichen Titel wie der vorliegende Band im Oktober 2014 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg stattgefunden hat. Es ging dabei darum zu prüfen, was die die Psychoanalytische Pädagogik mit ihrem spezifischen Blick auf Subjekte, Gruppendynamiken und Organisationsstrukturen zur Erhellung von Inklusions- und Exklusionsproblematiken beitragen kann. Als Leitfragen hierzu waren im Call for Papers die folgenden vorgegeben:
• Welches Maß von echter Gemeinschaft, von realer Partizipation kann auf welchen Wegen für welche Kinder ermöglicht werden? Welches Maß der Anerkennung von Verschiedenheit, von Fremdheit, von Grenzen ist im Sinne des »Realitätsprinzips« erforderlich?
• Welche Settings sind geeignet, gemeinsames Lernen trotz sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen zu ermöglichen, welches Maß von professioneller Spezialisierung, von diagnostischer Objektivierung und von organisatorischer Differenzierung erscheint im Sinne der Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes notwendig?
• Welche offenen und unterschwelligen Gefühle, welche Idealisierungen und Problemverleugnungen, welche Ängste und Ambivalenzen, welche Widerstände und Abwehrprozesse, welche Projektionen und Identifikationen sind im Zusammenhang mit den geforderten Veränderungen hin zu einem »inklusiven Bildungssystem« zu beachten?
• Welche Motive und Überzeugungen, welche Sorgen und Abwehrprozesse treiben die Akteure und Verfechter einer radikalen wie auch einer gemäßigten Inklusionsforderung an? Was sind die Gründe für die oftmals zu beobachtende Schärfe des Inklusionsdiskurses?
»Institutionelle Überforderung« oder »Institutionelle Herausforderung?«
Schon im Vorfeld der Tagung gab es Einwände gegen die Titelformulierung – ursprünglich war auch noch von »institutioneller Überforderung« die Rede – und gegen die in den Leitfragen skizzierte Problemwahrnehmung: Negative Assoziationen wie »Idealisierung« und »Überforderung« würde überwiegen. Kritik an Separation, Ausgrenzung und Normalitätskonstruktionen käme ebenso zu kurz wie die Verweise auf die Beispiele gelingender Praxis.
Der Band, so wie er jetzt vorliegt, hebt in der Tat mehr auf die Schwierigkeiten und Problemseiten im Zusammenhang mit der Inklusion ab als auf die Sammlung von »best-practice-Beispielen«. Aber das ist vielleicht der Psychoanalytischen Pädagogik insgesamt etwas »in die Wolle gefärbt«, dass sie eher »skeptisch-problemorientiert« als...