1. HEILIGE SCHRIFTEN: EINE ARBEITSDEFINITION
Als heilige Schriften bezeichnet die Religionswissenschaft die normativen Texte von Religionen. Der Begriff ist damit allerdings vorerst nur ungenau bestimmt und wird in der Religionswissenschaft auch meist als eher vager Ober- oder Referenzbegriff verwendet. Die einzelnen Religionen verstehen unter ihren normativen Texten etwa je sehr unterschiedliches. Dazu treten die Außenwahrnehmung durch andere Religionen, und die vielschichtige Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte Heiliger Texte. Es ergibt sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten, was in einer Religion oder in einem kulturellen Umfeld als »heiliger Text« gesehen werden kann. Auch die Autorität, die diesem Text zugebilligt wird, kann ganz unterschiedlich gestaltet sein. Dennoch besteht – auch umgangssprachlich – ein gewisser Konsens, an den wir anknüpfen können. Die Bibel und den Koran, den Pali-Kanon des Theravadabuddhismus oder auch das Buch Mormon wird jeder sofort als heilige Schriften lebender Religionen identifizieren. In vielen Fällen ist die Entscheidung aber sehr schwierig. Schon die klassische griechische Kultur und Religion besaß kein »heiliges Buch« im Sinne einer Bibel. Aber Homer war mit seinen beiden großen Epen Ilias und Odyssee eine konstante Referenzgröße für die gesamte hellenistische Welt, und viele kleinere religiöse Gruppen (Orphiker, Pythagoreer, Hermetiker, manche Mysterienreligion) besaßen normative und von ihren Anhängern verehrte Texte. Wir werden sie aus unserer Betrachtung jedenfalls nicht von vornherein ausschließen, sondern fragen, wie sich die Rezeptionsphänomene solcher Texte dem Existenzmodus einer Heiligen Schrift zumindest annähern.
Wir bezeichnen als »Heilige Schriften« im Sinne einer »Familienähnlichkeit« Schriften, die eine größere Anzahl der folgenden Eigenschaften innehaben (wobei jede einzelne der genannten Eigenschaften aber auch fehlen kann):
1. Die Schrift wird von einer Religionsgemeinschaft als normativ betrachtet, d.h. Fragen des Glaubens, des Rituals und der Ethik werden unter Berufung auf sie entschieden. Diese Entscheidung wird meist als letztgültig betrachtet.
2. Die Schrift spielt eine grundlegende Rolle im Gottesdienst, in Kult und Ritual einer Religionsgemeinschaft und wird dort – oft in einer besonderen und feierlichen Art und Weise – im Wortlaut zitiert.
3. Die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft betrachten die Schrift als Gründungsdokument, als zentralen Text oder zentrale Referenzgröße ihrer Religion.
4. Die Schrift wird intensiv ausgelegt, d.h. interpretiert; eventuell haben sich eigene Richtungen und Schulen um verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gebildet.
5. Die Schrift gilt als in besonderer Weise von der Gottheit bzw. den Göttern inspiriert oder mit einer Gründerpersönlichkeit verbunden. Oft ist sie das eine und wesentliche Dokument (bzw. Sammlung von Dokumenten), welches die Lehre der Gründerpersönlichkeit (wenn die Religionsgemeinschaft eine solche kennt) ausdrückt. In jedem Fall legitimiert sich eine Heilige Schrift oft durch einen besonderen, mit dem anderer Bücher nicht zu vergleichenden Ursprung. Dabei spielen Interpretamente einer Offenbarung bzw. eines Offenbarungsempfanges eine besondere Rolle, z. B. die biblische Idee einer Inspiration, einer Eingebung durch den Heiligen Geist.
6. Umfang und Text der Schrift oder Schriftensammlung waren in einer Anfangsphase der Religion noch weniger bestimmt, wurden aber – oft in einem formalen, institutionell abgesicherten Akt – fixiert (»kanonisiert«). Im Falle einer Schriftensammlung ist der Umfang der Bücher, welche Teil der Sammlung sind, präzise festgelegt, oft gilt das auch für ihre Reihenfolge. Daneben existieren oft andere Gruppen von Texten (»Apokryphen«), die ehemals oder nur bei einer Teil- und Splittergruppe der Religionsgemeinschaft als Teil derselben Sammlung heiliger Schriften galten oder gelten. Aber die Geltung einer Heiligen Schrift hängt nicht unbedingt an einer Kanonisierung; diese ist nur ein möglicher Modus der Stabilisierung heiliger Bücher in ihrer Funktion für eine Gemeinschaft.
7. Die Schrift oder Schriftensammlung sammelt in als besonders authentisch geltender Weise die Überlieferungen, das Erzählgut, die Offenbarungsinhalte, Lieder, Rituale oder weisheitlichen Texte einer Religionsgemeinschaft.
8. Die Schriftensammlung sammelt oft die – faktisch oder der Überlieferung zufolge – ältesten Texte und Zeugnisse einer Religionsgemeinschaft.
9. Die Schriften werden in der Frömmigkeit einer Religion mit besonderer Liebe und Verehrung gelesen und zitiert, sie inspirieren Kunst, Ethik, Literatur, Musik und Erzählkultur stärker als andere religiöse Texte.
10. Die Schrift gilt als in einer himmlischen oder jenseitigen Welt sozusagen »archetypisch« präsent. Oft besteht die Vorstellung, daß sie den Menschen eigens offenbart wird, aber bei Gott oder den Göttern schon vor ihrer irdischen Niederschrift existiert hat.
11. Die Schrift wird von einer Religionsgemeinschaft begrifflich oder in einem rituellen Vollzug von anderer religiöser Literatur unterschieden. Sie hat einen qualitativ anderen und höheren Stellenwert als sonstige religiöse Literatur, auch wenn diese andere Literatur durchaus hochgeschätzt wird. Besondere Zitationsformeln können das verdeutlichen.
12. Es gelten besondere Regeln für den respektvollen Umgang mit dem materiellen Träger der Schrift, d.h. mit dem Buch, der Schriftrolle o.ä. Diese unterscheiden Heilige Texte deutlich von sonstiger Buchkultur.
Keines dieser Kriterien definiert allein eine Heilige Schrift. Jedes dieser Kriterien kann auch fehlen. Insofern handelt es sich um eine »Familienähnlichkeit« von Texten. Familienähnlichkeiten definieren sich über eine Reihe von (optischen oder Verhaltens-) Eigenschaften, von denen jede einzelne auch ausfallen kann, die aber doch zusammengenommen das »Typische« einer Familie beschreiben. Einige weitere Erklärungen und erste Beispiele werden hilfreich sein.
Zu 1. Dabei sind Heilige Schriften – um eine Unterscheidung aus der altprotestantischen Orthodoxie zu verwenden – eher Norma normans (verbindliche Norm, die selbst anderes normiert) als Norma normata (Norm, die sich ihrerseits an einer übergeordneten Norm messen lassen muß). Mit dieser Begrifflichkeit unterschieden die lutherischen Kirchen im späten 16., frühen 17. Jhdt. zwischen der Art von Verbindlichkeit und Normativität, welche der Bibel (als der christlichen Heiligen Schrift) einerseits und den lutherischen Bekenntnisschriften (Texten wie der Confessio Augustana von 1530 oder dem zusammenfassenden Konkordienbuch von 1580) andererseits zukamen. In der Religionsgeschichte ist dieses Kriterium oft weniger zentral als vom Christentum her zu erwarten: viele Heilige Schriften normieren z. B. eher Rituale und Gebete (die Veden, das Avesta) als Glaubensvorstellungen.
Zu 4. Oft werden Streitigkeiten und Diskussionen in einer Religion unter Berufung auf ihre Heiligen Schriften geführt. Wörtliche Zitate sind dabei von großer Bedeutung. Auch gibt es – parallel in verschiedenen Religionen – verschiedene Typen von Auslegungen. »Puristen« wollen die Religion freihalten von späteren Entwicklungen, und vertreten oft ein »sola scriptura«-Prinzip wie der christliche Protestantismus. »Mystiker« wollen einen verborgenen Tief- und Hintersinn heiliger Schriften entdecken, der sich oft erst in der Versenkung oder existentiellen Berührung mit der Gottheit erschließt. »Dogmatiker« wollen die inhaltlichen Aussagen Heiliger Schriften in kohärente gedankliche Systeme fassen und diese vor den Fragen ihrer Gegenwart verantworten, usw. Die Muster der Schriftauslegung ähneln sich in den verschiedenen Religionen erstaunlich, auch wo es keine direkten kommunikativen Kontakte gegeben hat. Es ließe sich geradezu eine Typologie des interpretierenden Umganges mit Heiligen Schriften aufstellen, wie er in den verschiedenen Religionen praktiziert wird. Wichtig ist die nahezu universelle Gültigkeit des Phänomens »Auslegung«. Heilige Texte sind konstante Referenzgrößen für die gedankliche Entwicklung und Vertiefung von Religionen.
Zu 5. Offenbarungsliteratur – also Texte, die beanspruchen, aus einer göttlichen Offenbarung zu stammen, oder von denen das geglaubt wird – und Heilige Schriften überschneiden sich, sind aber keineswegs identisch. Während im jüdisch-christlichen Bereich das zentrale Interpretament der Offenbarung die Inspiration ist – Heilige Texte gelten als vom Heiligen Geist inspiriert (s. unter Kap. 2.) – existieren in anderen Religionen auch andere Interpretamente religiöser Legitimation. Die tibetische Literatur etwa – um ein uns kulturell fernerliegendes Beispiel zu kontrastieren – kennt eine eigenen Kategorie des »Schatzfundes«: Bücher, die nach der Legende vorzeiten von bedeutenden heiligen Männern geschrieben und in der Erde (etwa in Gräbern), in Klostermauern oder Götterstatuen verborgen und zu einem...