Der Tempelschlaf
Ein antikes symboltherapeutisches Heilungsinstrument
Die antiken Heiler betrachteten die spirituelle Natur als die wahre Natur des Menschen. Vollständige Harmonie und Gesundheit galt als der natürliche Zustand, die beständig und unerschütterlich blieben, solange der Mensch im Einklang mit der göttlichen Harmonie und der Ordnung, die das Weltall regieren, lebte. Krankheiten entstehen durch Feinde der psychischen Harmonie – so ist es überliefert – die "phantastisch und dennoch gefährlich" sind, weil sie zuerst das Gemüt des Menschen angreifen und ihn in unbewusste Ängste, Bösartigkeiten und schreckliche Leidenschaften stürzen.
Wenn er ungewappnet und charakterschwach ist, setzen sie sich in seinen Sinnen und Gedanken fest und verbreiten sich im ganzen Körper.
Insbesondere der Arzt Hippokrates (460 bis 377 vor Christus) von der Insel Kos im Ägäischen Meer gilt bis zum heutigen Tage als Begründer der ganzheitlichen hermetischen Medizin als symbolhafte Erfahrungswissenschaft, Seine erste Schule in Kos erfreute sich eines hohen Ansehens. Dort befand sich auch das berühmte Heiligtum des Asklepios, des Gottes der Heilkunde, wo man sich ähnlich heute einer Kur mit Tempelschlaf und integrierte Traumarbeit ganzheitlich heilen ließ.
Der Tempelschlaf ist eine uralte Technik, die schon in der ägyptischen Hochkultur um 500 v. Chr. im Serapis-Tempel in Memphis und in den Isis-Tempeln unter Beachtung besonders astrologischer Mondrhythmen therapeutisch eingesetzt wurde.
Im antiken Griechenland wurde diese ägyptische Tradition aus den Isis-Tempeln in den Tempeln des Asklepios - wie in Epidaurus und auf Kos - wieder aufgenommen.
Dass der Geist (nous) das allerhöchste Prinzip bei der Bildung des materiellen Organismus ist, hatten Asklepios und seine ägyptischgriechischen Priester erkannt, und sie haben die Wechselwirkung von Soma, Psyche und Nous genauestens überprüft. Und genau dort setzen sie mit der Heilung an:
„Krankheit“, so ist überliefert, "kann niemals bis zum Körper (Soma) gelangen, solange sie nicht durch die Psyche des Menschen geht – bewusst oder unbewusst."
- Erkranken am Problem -Körper Ebene - Krankheit / Unfall
- Erleiden am Problem - Gefühls Ebene - Hass / Zorn
- Bearbeiten, Erkennen des Problems auf der spirituellen symbolischen Ebene, der Innenschau (Tempelschlaf)
- Überwindung, und Bearbeiten des Problems - Mentale Ebene
Da nun die „Keime“ der Krankheit hauptsächlich in der Psyche stecken, musste auch die Art der Behandlung eine geistige sein.
Jemand, der krank wurde oder psychisch anfällig wurde, weil er auf sein Gemüt nicht achtete, sei es, dass er es nicht verstand, sich nicht klar abgrenzen, oder sei es, dass seine geistige Widerstandskraft abgenommen hatte, oder dass sein Glaube an das Göttliche schwach war, der ging in Ägypten in die ISIS-Tempel oder in Griechenland zum Tempel des Asklepion, um dort Heilung zu erlangen.
Er wollte dort seinen ursprünglichen und harmonischen Zustand wieder gewinnen, wo er glaubte, dass die höhere Geistigkeit der Priester und die besonders religiöse, geistige kraftplatzähnliche Umgebung ihm helfen konnte, Heilung über seine persönlichen Symbole wieder zu finden.
Über das nous wurde die Psyche geheilt; über eine Änderung der Mentalität (griechisch: metanoia = Gemütswechsel) geschahen dann auch somatische (= körperliche) Heilungen.
In der geistigen und heiligen „Strahlung“, die von Asklepieion, dem höchst religiösen und geistigen Zentrum ausging, und in dem tiefen Glauben der Pilger an das Göttliche und die göttliche Harmonie, erhoben und vergeistigten sich die Menschen in einer Art Traumschlaf zu hoher Spiritualität, so dass sie aufnahmefähig wurden für die Kraft des göttlichen Geistes, der sie neu belebte und umbildete.
Die Priester des Asklepios spiegelten durch hohe spirituelle Geistigkeit und ihren engen und dauernden Kontakt mit der göttlichen Quelle die gewaltige Wirkung des Göttlichen und erreichten mit dieser Kraft übernatürliche Heilungen.
Wie aus den bekundeten Fällen zu ersehen ist, schlief der Kranke nach seiner äußeren und inneren Reinigung unterstützt durch Fastenzeremonien, und nach der Darbringung seiner Opfer im Tempel des Asklepios schließlich im Abaton, im Tempelzentrum. Im tranceähnlichen Zustand erlebte er dort in einer oft durch Priester geführten Schlafreisen oder nachts im Schlaf einen intensiven Traum, in dem meistens der Heilgott selbst oder stellvertretend die Schlange (Heute noch Arztsymbol!)mit einer stark affektiv besetzten Bild-Botschaft auftrat. Als er erwachte war er dann schon im Prozess der Heilung begriffen.
Die Meditation im Abaton, von der auch das Wort Medizin abgeleitet ist, trug den Namen „Enkomisis“, das heißt übersetzt „Hineinschlafen“.
Der Tempelschlaf ist der Trance oder dem Zustand der Hypnose verwandt, entspricht aber eher dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen. Es handelte sich also sicherlich um einen Zustand, den wir aus unserem Leben auch als tieferen Tagtraumzustand oder Alpha-Zustand kennen. Durch die Ausschaltung der bewussten Denkprozesse gelingt die Annäherung an individuelle archetypische Bildmythen, an unbewusste seelische Muster, ähnlich einer Schamanenreise, die möglicherweise einer Entfaltung des eigenen Selbst im Wege stehen.
Die nachfolgende bewusste Problembearbeitung und -lösung wird dem Schlaf-Erlebenden häufig in überraschender Weise erleichtert, ohne den Verstand in analytischer Weise, wie es heutige Psychoanalytiker tun, zu bemühen.
In Anlehnung an eine alte Mysterientradition erhielt der Klient im künstlich herbeigeführten Tempelschlaf, über leichte Trance, Drogen, Hypnose (?) wieder eine Möglichkeit, sich mit seinem eigenen seelischen heilenden Mythos vertraut zu machen.
Die alten Werkzeuge, wie z.B. das intuitive Erfassen von Symbolen, bewusste Trance, inneres Bilderleben, Astrologische Analogien wurden hier in ihrer Gesamtheit für jenen Prozess der Selbsterkenntnis und Individuation eingesetzt, wie er in den Tempeln vergangener Zeiten üblich war.
Damit wurde die Einseitigkeit der rational betonten Welt durch mythologisch fundierte tiefenpsychologische Traum-Bildarbeit am Bewusstsein wieder heilbringend ergänzt. In der geführten Schlaftrance wurde dem Klient die krankmachende Dramaturgie seiner inneren Bilderwelt metaphorisch widergespiegelt.
Diese Symbolik half ihm, sich seines blockierenden persönlichen krankmachenden Handlungsmusters bewusst zu werden.
Eine solche geistige Arbeit gab ihm den Schlüssel zur Selbsterkenntnis in die Hand. Der, den Heilungssuchenden begleitenden Psychopompos (Priester oder Seelenführer) war jemand, der aufgrund von intensiven und tiefgreifenden Symbolstudien die archetypischen Anlagen der Psyche kannte und von daher befähigt war, ähnlich einem Schamanen die bestmögliche Begleitung zu geben.
Wurde die ureigenste Seelenmythologie des Heilungssuchenden bewusst wahrgenommen, also erneut "eingeatmet", dann lösten sich automatisch festgefahrene Strukturen, da das Unterbewusstsein die schöpferische Phantasie der Ur-Bilder (Bei Platon sind dies schon „eidos“ – quasi die „Ideen“ als transzendente ewige Formen, heute Archetypen genannt) in der Schlaftrance als Bildsymbole "real erlebt" und bewertet. Das rationale Wachbewusstsein konnte daraufhin oft automatisch alte, überlebte und wertlose Anteile loslassen. Welch ein Segen wären heute diese Ansichten für die Heilung unserer Neurosen und Psychosen, anstatt Ursachen dieser in Genen und Vererbungen zu suchen.
Wir sehen, dass hier schon in der Antike archetypische Schlaf-Träume im aktiven oder passiven Traumgeschehen als seelisches Fortschrittsgeschehen für einen Heilungsprozess gesehen wurden, an die man seit dem Mittelalter vor Jung und Freud nicht mehr im Traum gedacht hätte. Man erkannte schon in der Antike, dass Seele das Lebendige im Menschen darstellt, das Lebende und Lebensverursachende. Diese Seele, mit ihren schon „innewohnenden“ Ur-Bildern, die unter anderem die Astrologie schon von jeher als archetypische Urbilder benennt, erweckt aus sich selbst heraus das Lebendige und Lebensverursachende mit einer individuellen Zielrichtung im körperlichen Ausdruck. Ja, sie wurde mit „aiolos“ beschrieben, als bunt schillernd, lebenstrunken und begierig sich selbst in einer bei jedem ganz individuellen Weise sich körperlich zu erfahren.
Albertus Magnus als berühmter Mystiker und Philosoph und fasste um 1485 die Erkenntnisse der Antike mit ihren Tempelschlafmysterien in einer wunderbaren Beschreibung zusammen.
Seine wichtigste Bemerkung, die für Tempelschlaf und z.B. Astrologie als seelische Symbolwissenschaft spricht, ist folgende, wobei er schon klar erkannte, wie sehr die Hermetische Wissenschaft mit ihrem „Wie innen so außen“ das a-kausale bzw. synchronistische in Entsprechungen funktionierende der Welt erkannte.
Magnus erfasste deutlich, dass die menschliche Seele große Kräfte emotionalen Ursprungs besitzt, aus dem Wirken heraus die Dinge und Lebenssituation ändern und beherrschen zu können, wenn sie von großer Liebe oder Hass intensiviert werden:
„Ich fand eine einleuchtende Darlegung, ….dass der menschlichen Seele eine gewisse Kraft, die (äußeren) Dinge zu verändern, innewohne und ihr die anderen Dinge untenan seien; und zwar dann, wenn sie in einem großen Exzess von Liebe oder Hass oder etwas ähnlichem hingerissen ist.
Wenn also die Seele eines Menschen in einen großen Exzess von irgendeiner Leidenschaft gerät, so kann man experimentell feststellen, dass er (der Exzess) die Dinge (magisch) bindet und sie in eben der Richtung hin verändert, wonach er...