Die HEIMSTATISTIK 2001 (BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND, 2001) nennt im gesamten Bundesgebiet 4.107 Heime der Behindertenhilfe mit insgesamt 160.346 Plätzen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung. In Niedersachsen gab es 469 Einrichtungen mit 21.283 Wohnplätzen. DÖRNER (2002, S.4) geht davon aus, dass „... im Bereich der Eingliederungshilfe über 95% der Kosten auf den stationären Bereich entfallen ... .“
Wenn angenommen wird, dass stationäre Wohnformen dominieren, so ist im Hinblick auf das in dieser Arbeit verwendete Menschenbild zu fragen, welche Möglichkeiten oder Angebote für die Nutzer bestehen, ihre Lebenswelt aktiv zu gestalten, inwieweit sie im Heimalltag mitbestimmen oder an Entscheidungen beteiligt werden und mitwirken können. Bevor auf diese Frage eingegangen wird, soll jedoch der Begriff >Wohneinrichtung< näher bestimmt werden.
In der Behindertenhilfe sind verschiedene Wohnformen für volljährige Menschen mit Behinderungen bekannt. Diese können in Angebote, die einen selbständigeren Lebensstil einfordern bzw. ermöglichen (ambulante Wohnformen) und solche, die eine stärkere Betreuung (stationäre Angebote) bieten, unterteilt werden (vgl. CRÖSSMANN, 2002, S. 56). Während bei den ambulanten Angeboten, wie z.B. dem Betreuten oder Unterstützten Wohnen, der Nutzer in seiner eigenen gemieteten Wohnung bestimmte Dienstleistungen in Anspruch nimmt, stellen Träger von stationären Wohneinrichtungen, wie es z.B. in (Wohn-)Heimen mit Wohngruppen der Fall ist, den Wohnraum, das Betreuungspersonal und die Verpflegung als ein Pauschalangebot zur Verfügung (vgl. BUNDESVEREINIGUNG LEBENSHILFE E.V., 2003, S. 26). Diese Einrichtungen werden aus gesetzlicher Sicht i.d.R. als Heime definiert. Sie müssen deshalb die Auflagen des Heimgesetzes erfüllen.
Die Begriff >Heim< teilt dem >Bewohner< eine eher passive oder hilfsbedürftige Rolle in einer beschützenden oder verwahrenden Lebenswelt zu. Durch die neuere Bezeichnung >(Wohn-)Einrichtung< wird dieses Bild im Alltagsdenken weniger stark transportiert. Die Begriffe >Nutzer<, >Wohnpartner<, >Kunde< usw. symbolisieren im Alltagsdenken einen eher aktiven und nicht primär abhängigen Menschen. Da diese Begrifflichkeiten (noch) nicht in die Gesetzestexte übernommen wurden und im weiteren Verlauf dieser Arbeit daraus zitiert werden wird, halte ich die parallele Verwendung von Heim und (Wohn-)Einrichtung in dieser Arbeit für angemessen.
Wenn das Ziel darin besteht, dass „... Mitbürger mit geistigen oder körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen ... ein Leben führen können, das dem ihrer nichtbeeinträchtigten ... Mitbürger entspricht...“, so gebietet es zugleich diesen Menschen keinen besonderen Status oder Raum ausserhalb der Gesellschaft zuzuteilen (THIMM, 1995, S. 1). Vielmehr gilt es, ihre Lebensverhältnisse oder -bedingungen an die Standards aller Gesellschaftsmitglieder anzugleichen. Hier ergibt sich nach WACKER (vgl. 1998, S. 20) ein allgemeiner gesamtgesellschaftlicher Standard hinsichtlich der Versorgung, wie z.B. der materiellen Ressourcen, der Bildungsmöglichkeiten, der Wohnbedingungen, der medizinischen und pflegerischen Versorgung, der Beschäftigungs- oder Arbeitsmöglichkeiten, usw.. Normativ betrachtet lassen sich Standards hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Werte und Leitideen ausmachen. Hierzu zählen beispielsweise die Grundrechte, d.h. die Würde, die Privatsphäre und die Freiheitsgrade und Selbstbestimmung des Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen, wie z.B. dem Wohnen (vgl. ebd., S. 20).
Wohnen ist „... die Manifestation eines menschlichen Grundbedürfnisses ... .“ (LENZEN, 1998, S. 1627). Dies ist für Menschen mit einer wohnzentrierten Lebensweise, wie z.B. für Menschen mit geistiger Behinderung oder alte Menschen, Hausfrauen und kleine Kinder, für die die Wohnung den Lebensmittelpunkt darstellt, von besonderer Bedeutung. Entsprechend hoch sollte die Selbstbestimmung, zumindest aber die Mitwirkung, d.h. die aktiven Beteiligungsmöglichkeiten an Entscheidungen, die das Wohnen im Heim betreffen, eingeschätzt werden. Das bedeutet umso mehr, dass hierbei die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten , „... bei der Frage, wie man wohnen will, die Nichtbehinderte für sich selbstverständlich in Anspruch nehmen, auch für Menschen mit Behinderung möglich werden müssen.“ (WACKER, 1998, S. 21).
Nachdem kurz auf die Bedeutung von Selbstbestimmung und Mitwirkung beim Wohnen für Menschen mit Behinderung eingegangen wurde, werden im Kapitel 2.2.1 einige gesamtgesellschaftliche Wohnaspekte den Wohnbedingungen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe gegenübergestellt .
Wohnen als elementares Grundbedürfnis
„Wohnen befriedigt ein elementares menschliches Grundbedürfnis nach Geborgenheit, Sicherung vor Witterung und Anfeindungen. Die eigenen „vier Wände“ bieten Schutz vor den Anderen, vor sozialer Kontrolle, vor Einmischungen ins eigene Leben. Sie stellen „den passenden Rahmen“ für einen eigenen Lebensstil dar.“ (ebd., S. 22).
Die Bedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit, nach einer störungsfreien Privat- oder Intimsphäre, nach Liebe, Sexualität und Anerkennung, nach Entspannung und Erholung, nach Freizeitgestaltung, nach Selbstverwirklichung usw. werden in der Wohnung befriedigt (vgl. BADER, 1997, S. 41). Die Wohnung bietet die Möglichkeit Individualität auszuleben, schafft Rückzugsmöglichkeiten, „... ist der Ort maximaler individueller Souveränität und persönlicher Integrität. Freiräume für Selbstdarstellung für Emotionen ohne soziale Kontrolle ... sind ... in besonderer Weise gegeben.“ (WACKER, 1998, S. 22). Die Wohnung kann als ein Kernstück des Lebens bezeichnet werden. Von ihr gehen alle Aktivitäten, wie z.B. das Einkaufen, Arbeiten usw. aus.
Werden diese Aspekte nun auf die Lebensbedingungen von Menschen in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe übertragen, so entstehen u.a. folgende Fragen: Können sie ihre Wohnung auswählen? Werden Wohnalternativen angeboten? Wird Ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt, wenn es z.B. darum geht das eigene Zimmer oder die übrigen Räume einer Wohngruppe zu gestalten? Haben sie einen Einfluss darauf, mit wie vielen und welchen Menschen sie zusammen wohnen? Werden sie an der Entscheidung beteiligt, wer sie in ihrem Alltag unterstützt? Nach welchem Menschenbild richten dann die Mitarbeiter ihr Handeln aus? Ist dies defizit- oder entwicklungsorientiert? Wer bestimmt die Aufgaben und Regeln des Miteinanders, die Sozialkontakte und den Tagesablauf? Wird ihnen eine Privat- oder Intimsphäre geboten? Haben sie eine Möglichkeit ihre Freizeit individuell zu gestalten?
Erschwerte Wohnbedingungen in Wohngruppen
SCHWARTE/OBERERSTE-UFER (1997, S. 41) berichten, dass Menschen aufgrund eines hohen pflegerischen und lebenspraktischen Hilfebedarfs in der Regel in Heime eingewiesen werden. Eine Wahlfreiheit hinsichtlich alternativer Wohnformen, wie z.B. dem betreuten Wohnen, besteht für diesen Personenkreis demnach nicht. Nach wie vor dominiert das klassische Wohnheimmodell mit Wohngruppen. Es werden z.B. bei „... der Einstellung von Beschäftigten ... die Bewohner(innen) in der Regel in keinster Weise konsultiert, obwohl sie es sind, die mit den neuen Beschäftigten unter Umständen für lange Zeit leben müssen.“ (MILES-PAUL, 1999, S. 223) Ein Mitspracherecht, welcher Mitarbeiter sie betreut oder betreuen wird, besteht tendenziell nicht. Der Begriff Wohngruppe signalisiert im Gegensatz zum Begriff Wohngemeinschaft bereits, dass die Mitglieder keinen oder nur geringen Einfluss auf die Zusammensetzung der Gruppe haben (vgl. SCHWARTE/OBERSTE-UFER, 1997, S 184). Das unter diesen erschwerten Bedingungen „Reibereien ... im täglichen engen Zusammenleben in der Zwangsgemeinschaft immer wieder den Ton ...“ angeben, ist nachvollziehbar (WACKER, 1999, S. 246).
Eingeschränkte Privatsphäre in Wohneinrichtungen
Wird der Blick auf die Privatsphäre gerichtet, so wird ein weiterer Unterschied zu den gesamtgesellschaftlichen Wohnbedingungen deutlich: „So können Menschen, die in einem Wohnheim leben, das Schutzrecht des Artikels 13 des Grundgesetzes rein rechtlich nicht in Anspruch nehmen, denn ein Heimplatz gilt nicht als Wohnung.“ (SCHWARTE/OBERSTE-UFER, 1997,S. 207). Das Recht auf Privatheit ist, verglichen mit >normalen< Mietverhältnissen, in denen der Mieter als >Hausherr< mit der Achtung seiner Privatsphäre usw. unbedingt rechnen kann, stark eingeschränkt. Betrachtet man die baulichen Standards und Strukturen, so besteht lediglich für ca. 38% geistig behinderter Heimbewohner die Möglichkeit, in einem Einzelzimmer zu leben (WACKER, 1998, S. 88). Und: „Selten finden sich Bad oder Dusche in Bewohnerzimmern ... Ähnliches läßt sich...