II. GLAREANI ΔΩΔΕΚΑΧΟΡΔΟΝ – MEMORIA, FREUNDSCHAFT UND GLAUBENSFRAGEN
Titelseite und Zubehör
„Die Seite fünf ist die Titelseite, die nach dem Kolophon der mittelalterlichen Handschriften und der ersten Inkunabeln der Vorfahr des gesamten modernen Verlagsperitextes ist. Im allgemeinen enthält sie neben dem Titel und dessen Zubehör den Namen des Autors und Verlagsname und -ort. Sie kann auch noch so manches andere enthalten, insbesondere die Gattungsangabe, das Motto und die Widmung…“37
1. Scholastische Bildung und humanistische Lebenshaltung
Das Dodekachordon nimmt nicht allein dem Format nach eine herausragende Stellung für sich in Anspruch, auch die diversen Paratexte, also die Schicht, die den Text umgeben und verlängern […], um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen, und damit seine ‚Rezeption‘ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen38 geben dem Rezipienten den hohen Stellenwert an, der dem Buch offenbar zukommen sollte. Mit dem größten Schriftzug auf der Titelseite rückt der Urheber der Abhandlung selbst im besonderen Maße in den Blickpunkt, der dann im Text nicht allein sachliche Informationen präsentiert und exklusiv musikalische Argumentationen verfolgt, sondern in den Musiktraktat quasi als (auto)biografisches Dokument nutzend ebenso persönliche und anekdotische Elemente mit einbringt. Im alphabetisch geordneten Index führt Glarean, die biografische Verwobenheit spiegelnd, nicht allein Sachlemmata auf, sondern auch Namen, die seinem persönlichen Umfeld entstammen, wie „Erasmus Roterodamus“, „IOANNES Coclęus Noricus Theologus“, „Hermannus Busthius Poëta nobilis“, „GLAREANI praeceptor MICHAEL Rubellus“ respektive „MICHAEL Rubellus Glareani pręceptor“ etc. Umso mehr ist danach zu fragen, welcher soziokulturelle Referenzrahmen damit in das Buch eingesenkt ist.39
Retrospektive konstruiert ihre eigene Geschichte, sie unterliegt spezifischen Mustern, ist getragen von Narrativen.40 Der Blick auf die Namensliste eröffnet ein Assoziationsfeld und lässt die Identifikationen Glareans in verschiedener Hinsicht erkennen: Es sind insbesondere seine maßgeblichen Lehrer, vor allem für die Musik, die unter den zeitgenössischen Namen ins Auge fallen. Sie können – gleichsam als Chiffre – für bestimmte Positionen innerhalb der verschiedensten Auseinandersetzungen der Zeit gelesen werden, Glarean leistet damit zugleich Dienst an der memoria – ein Anliegen, das er qua humanistischen Status, also seiner der Geschichtsschreibung verhafteten Position umso bewusster ausgeführt haben dürfte.41
Allein das Beispiel Michael Rubellus (Rötlin) gibt Einblick, welche Sorgfalt Glarean auf die Darstellung seines Bildungswerdegangs verwendet, denn Rubellus kann nahezu als Topos, als feststehendes Bild für die frühe musikalisch-humanistische Prägung gelten, den er innerhalb seiner Schriften bereits zu Beginn seiner Karriere ausbildete und beibehielt. Mit dem Verweis „pręceptor“ ist Rubellus im Dodekachordon in besonderer Weise hervorgehoben. Glarean beschreibt ihn als Entdecker seines musikalischen Talentes, der sein Interesse für die Verbesserung des gregorianischen Chorals schon im frühen Alter förderte42 – neben der Hommage an seinen Lehrer ist es zugleich ein Element, mit dem er sein Vorgehen im Dodekachordon legitimiert. In seinen ersten Schriften ist Rubellus (über die Zwingli gewidmete Gedichtsammlung Duo elegarium libri hinaus, in der Glarean in einer Elegie sein gesamtes Können auf ihn zurückführt)43 in der Dedikationsepistel seiner Helvetiae descriptio (1514) greifbar. Neben Ulrich Zwingli, Joachim Vadian, Heinrich Lupulus und den Amerbachbrüdern zählt Glarean zu den herausragenden Männern der Schweiz, im Kommentar zu Glareans Helvetiae descriptio (1519) apostrophierte sein Freund Oswald Mykonius44 Rubellus als Glareans Lehrer, der die bonae litterae sehr lobenswert in Bern unterrichtete,45 und noch 1554, Rubellus war inzwischen verstorben, war Glarean die Erinnerung an seinen Lehrer wichtig: In der Neuauflage aktualisierte er den Kommentar Mykonius’ zur Helvetiae Descriptio um den Verweis auf sein oben dargelegtes Lob im Dodekachordon (1547).46
Glareans Kölner Studienzeit war geprägt von Schulstreitigkeiten, scholastische Ausbildungsrichtung stand dem humanistischen Bildungsideal gegenüber, die von Glarean im Dodekachordon aufgerufenen Namen Hermann von Busche und Johannes Cochläus signieren hierbei einen Standpunkt. Mehr noch dürften die eingefügten Splitter seiner Biographie aktualisierend in der Hinsicht wirken, als dass damit dem Dodekachordon eine bestimmte Position eingeschrieben ist. Umso naheliegender und wichtiger ist also die folgende zweigestaltige Aneignung der solchermaßen markierten Vergangenheit – also zum einen hinsichtlich der damaligen Auseinandersetzungen, zum anderen hinsichtlich des ajourierenden Gehalts zur Zeit der Drucklegung des Dodekachordon.
Köln war zu Beginn des 16. Jahrhunderts Hochburg der scholastischen via antiqua und Glarean47 als Mitglied der bursa montana empfing die Lehre in ihrer thomistischen Ausprägung,48 d.h., der Dozent vermittelte die aristotelische Lehre, indem er den Text vorlas, ihn kommentierte, am Ende einige Fragen eigener Wahl stellte und schließlich beantwortete. Noch im 15. und frühen 16. Jahrhundert sich sicherlich durchaus auch polemisch gegenüber den moderni abgrenzend betrachteten die antiqui den Pluspunkt ihrer Methode in der größeren Textnähe. Denn während bei den moderni im modus quaestiones eine Zahl von Fragen zum Text erhoben und durch die Meinungen anderer Autoritäten erklärt, bevor das Problem durch logische Analyse gelöst wurde,49 steht bei den antiqui die Lektüre des eigentlichen Textes im Mittelpunkt. Damit sahen sie sich als Teil der genuin peripatetischen, also der auf dem Originaltext beruhenden Tradition, als die Verteidiger der mehr mit dem Glauben und der Heiligen Schrift übereinstimmenden aristotelischen Lehre50, von dem sich die via moderna, der neue Weg, aus ihrer Sicht entfernte und sich daher nicht auf die Autorität Aristoteles’ berufen könne.51 Glareans eigene Bestrebungen zur Lektüre der originalen Schriften zurückzukehren, insbesondere im Fall der auch für das Dodekachordon bedeutsamen musikalischen Schrift des Boethius, die er nachweislich bereits um 1511,52 wenn nicht schon eher pflegte, fand gewissermaßen Rückhalt im (ideologischen) Selbstverständnis seiner scholastischen Ausbildungsrichtung.
Die einzelnen Schulrichtungen nahmen für sich jeweils markante Autoritäten in Anspruch: Innerhalb der realistischen Lehre, die sich auf Denker des 13. Jahrhunderts stützte wie Alexander von Hales, Bonaventura, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Giles von Rome und John Duns Scotus53 (während die Nominalisten mit William Ockam, John Buridan und Marsilius von Inghen etc. vor allem Protagonisten des 14. Jahrhunderts anführten), differenzierte William von Euvry 1403 drei verschiedene Traditionen: Der Scotismus ging auf Platon und Augustinus zurück, die Nominalisten auf Epikur und die Peripatetiker auf Aristoteles, Alexander von Aphrodisias und Boethius, eine Unterscheidung, wie sie noch der für die Universität Köln bedeutsame Heymericus de Campo in seinem Tractatus problematicus traf.54
Scheint mit der Präsenz Boethius’ und Aristoteles’ im Dodekachordon Glareans scholastischer Hintergrund durchzuschimmern, so akzentuierte er mit der ausdrücklichen Nennung von Johannes Cochläus und Hermann von dem Busche seine humanistische Präferenz. Scholastik und Humanismus existierten zu dieser Zeit an den Universitäten nebeneinander und bildeten Mischformen, doch waren in Köln die humanistischen Bestrebungen nicht unumstritten. 1509 wandten sich beispielsweise die Kölner Theologieprofessoren gegen die Lektüre heidnischer Dichter und paganisierender Autoren der Neuzeit und setzten sich (mit Vergil als dem einzigen antiken Autor) nachdrücklich für die frühchristlichen Dichter ein.55 Aber selbst unter den Humanisten gab es Streitfragen, was insbesondere das Verhältnis zur scholastischen Lehre betraf: Die Richtungskämpfe um die Ausrichtung des Kölner Humanismus manifestierten sich dabei in besonderer Weise an dem von Glarean im Dodekachordon zitierten Hermann von dem Busche.
Hermann von dem Busche war für Glarean weit mehr als einer seiner vielen Lehrer; die Wertschätzung, mit der Glarean ihn behandelt, legt nahe, dass er ihm ein Leitbild war. Glarean referiert noch Dodekachordon auf dessen gesanglichen Vortrag der Gedichte: Busch brachte sein, auch von Erasmus geschätztes Loblied auf die Stadt Köln im jonischen Modus dar,56 während er selbst sein Panegyrikus auf Maximilian I. im dorischen Modus sang.57 Damit firmiert Glarean noch im Nachhinein Parallelen, die er in Köln setzte: Korrespondenzen bestehen nicht allein zwischen Buschs Kölner Lobgedicht und Glareans Helvetiae Descriptio,58 sondern auch in der Abkürzung des Namens: Bezeichnete Busch sich als HBP, also Hermann Buschius Poeta,59 so schrieb Glarean seinerseits HGP (Henricus Glareanus Poeta) in den Glossen zur cochläischen...