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E-Book

1968

Worauf wir stolz sein dürfen

AutorGretchen Dutschke
Verlagkursbuch.edition
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783961960071
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unter den Neuerscheinungen zu 1968 wird diese Bilanz eines gesellschaftlichen Aufbruchs gleichzeitig eine der persönlichsten und eine der kritischsten sein. Persönlich, weil nicht nur die Sicht der Autorin, sondern auch ihre von heutiger Warte aus bisweilen bizarren Erlebnisse zum Tragen kommen. Kritisch, weil sie, obwohl so mitten im Geschehen, immer die zwar sympathisierende, aber eben auch distanzgeprägte Sicht auf eine dann doch 'fremde' Gesellschaft behält. Auf dieser Grundlage gelingt es ihr, die bleibenden 'Erfolge', 'Errungenschaften', 'Botschaften' der mittlerweile historischen 68er zu vermitteln, die weit über das hinausgehen, was in der Zeit selbst im engeren Sinne politisch verhandelt wurde.

Gretchen Dutschke ist gebürtige Amerikanerin und ging für ihr Theologiestudium nach Deutschland, wo sie im Sommer 1964 ihren späteren Mann, Rudi Dutschke, kennenlernte. Zusammen mit ihm, einem der führenden Sprecher der bundesrepublikanischen Studentenbewegung, hat sie den Aufbruch der sogenannten 68er aktiv miterlebt. Nach dem Attentat im Jahr 1968, das Rudi Dutschke nur knapp überlebte, begann für das Paar eine jahrelange Odyssee durch halb Europa. In Dänemark ließen sie sich schließlich nieder, wo Gretchen Dutschke - wie auch ihr Mann - an der Universität Aarhus einen Lehrauftrag übernahm. Nach dem frühen Tod ihres Mannes, der eine Spätfolge des Attentats war, kehrte sie 1985 zunächst in die USA zurück, ging dann für einige Zeit nach Vietnam und kam 2009 nach Deutschland zurück. Gretchen Dutschke hat drei Kinder und lebt heute in Berlin-Friedrichshain.

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Leseprobe

Die Sehnsucht nach der Revolution

Nach dem 2. Juni 1967 dachte Rudi eine Zeit lang ernsthaft, dass von Berlin eine Revolution ausgehen könnte, die West wie Ost erfasst. Diese Idee, die er wenig später selbst verrückt fand, ging zurück auf ein langes Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger und anderen für das Kursbuch. Nach Übernahme der politischen Macht, so die Vorstellung, sollte eine Gesamt-Berliner Räterepublik errichtet werden, also in Ost und West zugleich, ohne Mauer, dafür mit »Lebenszentren« und »Räteschulen«, die einen »Lernprozess durch die verschiedenen Produktionssphä­ren« hindurch in Gang setzen. […] Das heißt, ganz Berlin wäre eine Universität, wir hätten eine lernende Gesellschaft.« Vorher hätte man natürlich noch die politische Macht überneh­men müssen. Der SDS-Genosse Christian Semler wollte gleich noch die gesamte Justiz abschaffen, deren Aufgaben neue Tech­nologien übernehmen würden. Wie genau das vonstattengehen sollte, sagte er nicht.

Es war die Zeit der großen, optimistischen Fortschritts­utopien, die heute, in Anbetracht von Klimakatastrophe und Ter­ror­angst, so kaum mehr nachvollziehbar sind. Dazu passte der ge­radezu entfesselte Lern- und Wissenseifer, der diese gesamte Zeit kennzeichnete. Es wurde ungeheuer viel gelesen – na­türlich auch von Rudi, der Bücher verschlang wie andere belegte Brötchen: historische Bücher über die Russische Revolution, über den Spanischen Bürgerkrieg der 30er-Jahre, natür­lich Karl Marx und Friedrich Engels, aber auch Max Horkheimer, Theo­dor Adorno, Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Sigmund Freud, Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger, aktuelle soziolo­gische Werke und Texte alter Anarchisten wie Pjotr Kropotkin, Michail Bakunin und Pierre-Joseph Proudhon und auch ame­ri­kani­sche Linke wie die Ökonomen Paul A. Baran und Paul Sweezy.

Das erste Buch, das mir Rudi in die Hand drückte, war ein Reclam-Bändchen von Ernst Blochs Schrift Thomas Müntzer als Theologe der Revolution. Müntzer, 1525 gefangen genommen, ge­foltert, öffentlich enthauptet und aufgespießt, war ein früher Reformator, der führend an den Bauernkriegen gegen die Unterdrückung durch Adelsherrschaft und Papstkirche beteiligt war. Leider verstand ich von dem Buch zunächst sehr wenig, weil mein Deutsch dafür noch nicht gut genug war. Aber Rudi war fest davon überzeugt, dass nur eine komplexe Sprache einer komplexen Wirklichkeit und ihren Problemen gerecht werden könne und man sich darin schulen müsse. Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass seine Ansprüche und sein Niveau passend seien für Uniseminare, eine breitere Masse aber damit sicher nicht zu erreichen sei.

Später hat er selbst versucht, einfacher und verständlicher zu reden, was ihm allerdings bei all den theoretischen Ab­straktio­nen nicht immer gelang. Aber selbst wenn er sehr abstrakt formulierte, war er von einer Suggestivkraft, die seine Worte überzeugend klingen ließen. Dabei hatte er immer die Praxis im Auge, denn eine Theorie ohne praktischen Bezug zur Realität hängt in der Luft wie trockenes Laub.

Dennoch blieben viele der Entwürfe im Bereich des Utopi­schen und Theoretischen, aber Rudis Haltung war charakteristisch für die damals entstehende »neue Linke«: Wie genau ein sozialistisches Wirtschaftssystem jenseits des Kapitalismus und der real existierenden staatskommunisti­schen Planwirtschaft in Sowjetunion und DDR aussehen sollte, konnte niemand sagen. Aber, so die Hoffnung, es würde sich im künftigen Prozess der gesellschaftlichen und po­litischen Umwälzung gleich­sam von selbst herauskristallisieren – in Richtung einer, mit Marx formuliert, »Assoziation freier Produzenten«. »Er war Optimist«, schrieb Rudis Biograf Jürgen Miermeister. »Er wollte einer sein. Und so suchte und fand er Sätze, die ihn zur Praxis ermutigten. Marcuse etwa sprach von ganzen Schichten, die nicht integriert seien in die Eindimensio­nalität der Demokratie.«

Der in Kalifornien lebende Philosoph Herbert Marcuse, Emi­grant aus Nazideutschland, lieferte in seinem 1964 erschie­nenen Buch Der eindimensionale Mensch, das zu einer Bibel der Bewegung werden sollte, die zentrale Begründung für eine Re­volte gegen die westliche Konsumgesellschaft: »Ihre Pro­duk­ti­­vität zerstört die freie Entwicklung der menschlichen Bedürf­nisse und Anlagen, ihr Friede wird durch die beständige Kriegsdrohung aufrechterhalten, ihr Wachstum hängt ab von der Unterdrückung der realen Möglichkeiten, den Kampf ums Dasein zu befrieden.« Die »alles beherrschende technologische Rationalität«, so Marcuse, habe geradezu »totalitäre Züge« angenommen, während der größte Teil der Gesellschaft durch Mas­senkonsum und politische wie mediale Manipulation unter Kontrolle gehalten, gleichsam ruhiggestellt werde.

Theodor W. Adorno, einer der Hauptvertreter dieser Kritischen Theorie, ergänzte diesen Befund mit radikaler Konsequenz: »Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung. Wir ge­hören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen. Alle sind unfrei unter dem Schein, frei zu sein.«

Solche theoretischen Analysen waren Bezugspunkt und Impuls auch für den praktischen Aufbruch der kritischen jungen Generation. In der Berliner Mikrozelle der »Subversiven Ak­tion«, die ihrerseits aus der ehemaligen »Situationistischen Internationale« hervorgegangen war, sammelte Rudi erste Aktionserfahrungen. Es war die erste politische Gruppe, der Rudi sich zusammen mit seinem damaligen Freund Bernd Rabehl 1963 anschloss. Hier kam er auch erstmals in Kontakt mit Dieter Kunzelmann. Und in dieser Zeit begann seine intensive Beschäftigung mit den Theoretikern der Frankfurter Schule Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm und anderen.

In einem Brief zum »Münchner Konzil« der Subversiven Ak­tion, deren führender Münchner Kopf der spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann war, schrieb Rudi im April 1965: »Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt wer­den. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich. […] Künstliche Radikalisierung, d. h., aus nichtigen Anlässen unbedingt etwas machen zu wollen, ist unter allen Umständen abzulehnen.«

Doch zunächst ging es um Kritik an den bestehenden Ver­hält­nissen, freilich eine Kritik, die »in Aktion umschlagen« sollte. Die Subversive Aktion betrieb genau das: Entlarvung und Provokation, das Aufsprengen des »Verblendungszusammenhangs« (Adorno), der die Menschen daran hindere, ihre Lage zu erkennen. Und welches Ziel eignete sich besser als die Tagung des Bundes Deutscher Werbeleiter und Werbeberater am 5. Mai 1964 in der Stuttgarter Liederhalle?

Hunderte Flugblätter flatterten von der Empore, ein »Aufruf an die Seelenmasseure«: »IHR suggeriert den Leuten die Bedürf­nisse ein, die sie nicht haben! IHR stopft sie voll mit Produkten, damit sie sich ihrer wahren Bedürfnisse nicht mehr bewusst wer­den!« Zwar wurden die Aktivisten der Subversiven festge­­nom­men, doch bald wieder freigelassen. Es war ja auch nur eine symbolische Aktion gewesen. An ihr aber zeigte sich schon, dass da stets ein schmaler Grat war zwischen einer eher spielerisch-sarkastischen Provokation und einem handfesten Aufruf, ein Kaufhaus zu stürmen und die Waren auf der Straße zu verteilen, wie Kunzelmann es einmal vorschlug.

So war die Frage von Illegalität, die letztlich auch eine von Ge­waltanwendung war, von Anfang an ein wichtiger und schwie­­riger Aspekt in der Entwicklung der antiautoritären Theo­rie. Oft genug haben Rudi und ich zu Hause oder zusammen mit anderen darüber diskutiert. Welchen Stellenwert sollte Gewalt überhaupt einnehmen, gab es Formen der Gewalt, die als akzeptabel gelten konnten, und ab wann waren sie es definitiv nicht mehr? Es kam nie zu einer einheitlichen, schon gar nicht einfachen Antwort auf diese Frage. Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, aber auch der geschichtliche Hintergrund in Deutschland, ob und inwieweit die Situation in Deutschland 1965 mit der von 1918 zu vergleichen war.

Letztlich war diese Frage untrennbar verbunden mit dem Kon­zept, das im Kern auf das »Bewusstsein der Massen« zielte. Aber was dachten, fühlten und wollten diese »Massen«, also die Mehrheit der Deutschen eigentlich? Damals war das Wirtschaftswunder in vollem Gange. Alles schien nur noch aufwärtszugehen: Wirtschaftswachstum, mehr Konsum, mehr Arbeitsplätze. Bundeskanzler Ludwig Erhard, der gerade Konrad Adenauer im Amt beerbt hatte, legte sein »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums« vor, und der millionste Gastarbeiter, ein Portugiese, erhielt zum Dank ein nagelneues Moped.

Stabilität und Wachstum – das waren die Schlagworte der Mehrheit der Menschen im Nachkriegsdeutschland. Die Wahl der neuen Einbauküche war ihnen wichtiger als manche Bundestagswahl, bei der man ohnehin der angestammten Partei die Treue hielt, ob der CDU oder der SPD. »Sicher ist sicher«, lautete 1965 die Wahlkampfparole der SPD, und Ludwig Erhard sprach von der »formierten Gesellschaft«. Das Proletariat der 20er-Jahre und mit ihm der politisch inspirierte Klassenkampf waren inzwischen Geschichte. Jetzt ging es vor allem um wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg – auch und nicht zuletzt mithilfe der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Man orientierte sich nach oben, nicht nach unten.

Wer es schon zu etwas gebracht hatte und einen VW Käfer oder Opel Kadett sein Eigen nannte, fuhr im Sommer mit...

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