1 Herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule
Uri Ziegele & Martina Good
Die Soziale Arbeit in der Schule muss als ein verhaltens- und verhältnisorientiertes Handlungsfeld der Sozialen Arbeit verstanden werden. Innerhalb des Funktionssystems Erziehung hat sie – in transdisziplinärer Kooperation mit der Schule – zum Ziel, die gesellschaftliche Inklusion, Sozialisation und Kohäsion ihrer Anspruchsgruppen zu unterstützen. Es ist davon auszugehen, dass auch der Schüler Mori, der in der folgenden Fallvignette vorgestellt wird, in der Schule lernen, Freunde bzw. Freundinnen haben und stärkende Selbstwirksamkeit erleben möchte. Der nachfolgende Beitrag zeigt auf, wie die Soziale Arbeit in der Schule mithilfe von Fallbeschreibung, Fallverstehen und theoretischen Grundlagen auf diese komplexe Ausgangslage mit Unterstützung der direkt Betroffenen und professionell Beteiligten reagieren kann.
1.1 Fallvignette
Der Sozialarbeiter des Asylzentrums Herr Diethelm informiert die Schulsozialarbeiterin Frau Hess, dass mehrere Familien mit Asylstatus innerhalb kurzer Zeit der Gemeinde Dengdorf zugewiesen werden. Dies veranlasst die beiden, an einer Teamsitzung der Lehrpersonen im Schulhaus Höchi, in dessen unmittelbarer Nähe eine Asylunterkunft steht, das Thema aufzugreifen und mit diesen über Befürchtungen und Herangehensweisen zu diskutieren. Anschliessend wird gemeinsam ein kurzer informativer Text für die regelmässige schriftliche Elterninformation verfasst, in welchem die Familien willkommen geheissen werden. Unter anderen wird Familie Marun Segab in der Asylunterkunft einquartiert. Am ersten Morgen begrüssen die Schulleitung und Frau Hess Herrn Marun Segab und seine vier Kinder und informieren sie soweit wie möglich über den Schulbetrieb. Der Aufenthaltsort der Mutter ist unbekannt. Alle vier Kinder sind im schulpflichtigen Alter, wobei der jüngste Sohn Mori Marun die erste Klasse besucht und die drei weiteren Mädchen in der 3. und 6. Primarklasse sowie in der 2. Oberstufe eingeschult werden. Das älteste Mädchen wird im Anschluss an die Einführung in der Primarschule (in Deutschland mit der Grundschule vergleichbar) zusammen mit ihrem Vater im Oberstufenschulhaus der Gemeinde begrüsst.
Die Mädchen zeigen sich im Verlauf des Schuljahres zurückhaltend und beobachten den Schulalltag, während Mori nach kurzer Zeit deutlich herausfordernde Verhaltensweisen zeigt. Er kneift und boxt Mitschülerinnen und Mitschüler auch aus den höheren Klassen und stört sie während des Unterrichts und in der Pause bei ihren Tätigkeiten. Er randaliert im Schulhaus, stiehlt und demoliert persönliche Dinge und Kleidung der anderen Kinder und provoziert die Mitarbeitenden des gesamten Schulhauses mit wiederkehrenden Regelverstössen. In direkter Konfrontation gesteht Mori sein Fehlverhalten zwar jeweils ein, vermittelt jedoch nicht den Eindruck des Bedauerns. Während des Unterrichts in der Regelklasse und im Deutsch-Förderunterricht kann Mori sich kaum konzentrieren. Die Hausaufgaben erledigt er selten, und obwohl die Familie nur wenige Meter vom Schulhaus entfernt wohnt, hat er oft keine Pausenverpflegung dabei und vergisst seine Turn- bzw. Schwimmsachen. Manche Kinder sind etwas verängstigt oder verärgert und fangen an, sich von ihm zu distanzieren. Versuche, sein Verhalten durch pädagogische Massnahmen direkt zu beeinflussen, zeigen kaum Veränderungen.
Die Lehrerin von Mori, Frau Keller, ersucht nach kurzer Zeit um eine Klassenintervention durch die Schulsozialarbeiterin Frau Hess, um die Beziehungen in der Klasse zu stärken. Frau Keller informiert Moris Vater darüber. Dieser ist erst etwas skeptisch, zeigt sich dann jedoch dankbar für die Unterstützung. Die sprachlichen Schwierigkeiten erschweren das vorgängige Einzelgespräch von Mori bei Frau Hess. In diesem wird jedoch deutlich, dass er in der bisherigen Schulzeit in seinem Heimatland körperliche Gewalt durch die Lehrpersonen erleiden musste. Die initiierte Hausaufgabenhilfe verweigert Mori konsequent. Es erfolgen mehrere Gruppeninterventionen mit kooperativem Spielcharakter in unterschiedlichen Settings (jungenspezifisch, geschlechtergemischt, aktuell befreundete Kinder etc.). Frau Hess organisiert ein Familiengespräch zu Hause mit allen beteiligten Fachpersonen und einem Übersetzer. In diesem Gespräch zeigt sich Mori äusserst angepasst und gehorcht sehr gut. Der Vater und auch die Schwestern zeigen sich besorgt und überfordert mit seinem Verhalten in der Schule. Das Familienleben klappt gut, verständlicherweise kann ihm jedoch niemand bei den Hausaufgaben helfen. Ebenso finden gleichzeitig medizinische Abklärungen statt, da er an Enuresis leidet und eher unterernährt zu sein scheint. Es wird vereinbart, dass die Abklärungsergebnisse der Schule kommuniziert und danach über weitere, beispielsweise schulpsychologische Abklärungen entschieden werden sollte.
Ein Regel- und Informationskonzept wird festgehalten, bei welchem Mori, seine Familie, die Schule und die Asylorganisation involviert sind. Unter anderem wird vereinbart, dass Frau Hess und Frau Keller berechtigt sind, Mori nach Hause zu schicken, wenn er den Schulbetrieb zu sehr stört, sofern sein Vater oder eine der Schwestern zu Hause ist. Er wird aufgefordert, die Hausaufgabenhilfe in der Schule regelmässig zu besuchen und stimmt dem zu. Die Gruppenaktivitäten werden weitergeführt und zweimal wöchentlich ein kurzes Einzelsetting von Frau Hess mit Mori in der Schule oder zu Hause gemeinsam mit seiner Familie vereinbart. Frau Hess nimmt regelmässig am wöchentlichen Klassenrat teil, um die Veränderungen mitverfolgen zu können. Sie versucht, möglichst häufig die Klasse und Mori im Schulalltag zu begleiten.
Sein Verhalten gegenüber den Erwachsenen verbessert sich leicht. Die Beschwerden über Mori seitens der Mitschüler und Mitschülerinnen bleiben konstant hoch. Häufig argumentiert er, dass die anderen angefangen hätten, ihn zu provozieren, was diese jedoch verneinen und häufig nicht rekonstruiert werden kann. In der Hausaufgabenhilfe zeigt sich, dass Mori nur langsam Lernfortschritte macht und ihm offensichtlich enorm viel Schulstoff fehlt. Frau Keller und Frau Hess gewinnen zudem den Eindruck, dass Mori sich absichtlich grenzüberschreitend verhält, um bei seinem Vater zu Hause sein zu können.
Als Frau Hess ihn dabei beobachtet, wie er in der Pause zornig und fluchend Steine vom Boden aufnimmt, um seine Mitschülerinnen und Mitschüler damit zu bewerfen, begleitet sie ihn nach Hause. Mori berichtete nach kurzem Zögern, dass er und seine Familie von Mitschülern und Mitschülerinnen und deren Familien abschätzig behandelt werden und sich unerwünscht fühlen. Ebenso spricht er erstmals darüber, wie sehr er seine Mutter vermisst und dass er sich Sorgen um sie macht, da noch immer niemand weiss, wo sie sich aufhält, wie es ihr geht und wann er sie wieder sehen wird.
Die älteste Schwester, welche mittlerweile über einige Deutschkenntnisse verfügt, berichtet von einer geplanten Unterschriftensammlung einer ihrer Mitschülerinnen und deren Eltern zur Schliessung der Asylunterkunft. Die Familie Segab Marun wirkt gedemütigt und resigniert. Die medizinischen Abklärungen von Mori ergeben, dass er deutlich traumatisiert und eine Familientherapie dringend angezeigt ist. Die Abklärungen zur Finanzierung dieser Therapie stellen sich jedoch bei Kindern mit Asylstatus als komplex heraus. Aufgrund dessen ersucht der Kinderarzt Frau Hess, die bisherigen Bemühungen der Einzel-, Gruppen- und Klassengespräche und den Kontakt zur Familie beizubehalten und wenn möglich zu intensivieren, bis ein therapeutisches Setting veranlasst ist. Frau Hess, Frau Keller und Herr Diethelm sind sich einig, dass die herausfordernden Verhaltensweisen von Mori aufgrund der vielschichtigen Problematik bestehen und es intensivere und umfassendere Massnahmen braucht, um ihn und seine Familie zu unterstützen, damit sich sein Verhalten weiterhin positiv verändern kann.
1.2 Erklärungsansätze und Fallverstehen
Moris Situation wird in Anlehnung an das Lebenslagenmodell (vgl. Meier Kressig 2017: 4) dargestellt. Die individuelle wie familiäre Situation, die aktuellen und zukunftsgerichteten Perspektiven werden gemäss den jeweiligen Aussagen der Familienmitglieder und der Einschätzung der involvierten Fachpersonen differenziert betrachtet. Zudem erfolgen Überlegungen zu weiteren möglichen Hintergründen der Problematik. Aussagen über kausale Zusammenhänge von Ursachen- oder Wirkfaktoren können nicht gemacht werden, denn offensichtlich leiden Mori und seine Familie unter komplexen Belastungen. Um die Situation und Moris Verhalten verstehen zu können, muss die...