Revolutionäre Taten
Das Jahr 1923 war ein einschneidendes Krisenjahr für die Weimarer Republik – und für Herbert Wehner. Die Ereignisse warfen ihn aus dem Gleis. Es war das Jahr seiner Radikalisierung.
Am 11. Januar besetzten französische Truppen das Rheinland. Es ging um Großmachtinteressen. Die deutsche Regierung rief den passiven Widerstand aus und übernahm die Lohnzahlungen der daraufhin von den Franzosen ausgewiesenen Arbeiter und Angestellten. Hohe Steuerausfälle kamen hinzu. Um die Kosten auszugleichen, ließ die Regierung massenweise Geld drucken und heizte so die schon seit Kriegsende andauernde Inflation an. Ein US-Dollar hatte im November 1922 noch 6000 Reichsmark gekostet, im Februar 1923 waren es 40 000 Mark, im Juni 150 000. Mitte November erhielt man für einen Dollar 1260 Milliarden und auf dem Höhe- und Schlußpunkt der Inflation am 20. November 4200 Milliarden Reichsmark. Das Geld konnte nicht so schnell gedruckt werden, wie es an Wert verlor. Ein weiterer Preis für den Widerstand gegen die Besatzung war das Erstarken der nationalistischen Rechten. Im Rheinland kam es zu terroristischen Aktionen und blutigen Zwischenfällen1.
Politisch wie wirtschaftlich war die Aktion gegen die Franzosen nicht durchzuhalten. Die neue, von Gustav Stresemann geführte Regierung gab den passiven Widerstand im September 1923 auf. Das wurde ihr von der Rechten als »Vaterlandsverrat« ausgelegt. In Bayern nahm die rechtskonservative Regierung dies als Anlaß zum Staatsstreich von oben. Die Reichswehrführung weigerte sich, einzugreifen. Der ehemalige kaiserliche General von Ludendorff und der »Führer« der rechtsextremen »Nationalsozialisten«, Adolf Hitler, nutzten die Situation zum Putschversuch. Ihre Aktion vom 9. November 1923 scheiterte jedoch an schlechter Vorbereitung und mangelnder Einigkeit der Rechten2.
In Sachsen entzog die Inflation der sozialdemokratischen Reformpolitik die wirtschaftliche Grundlage. Trug die schwache Reichsmark 1921 / 22 noch zur Kostensenkung und Belebung der Exportwirtschaft, ja zur Vollbeschäftigung bei, so kam es im Chaosjahr 1923 zu Produktionsstockungen und steigenden Arbeitslosenzahlen. Gleichzeitig wurde die politische Grundlage für das linksrepublikanische Projekt brüchig. Am 30. Januar 1923 stürzte ein bürgerlich-kommunistisches Zusammenspiel im Landtag die Regierung Buck-Lipinski. Am 21.März wurde jedoch mit Erich Zeigner erneut ein Sozialdemokrat mit den Stimmen der KPD zum Chef einer Minderheitsregierung gewählt3.
Zeigner zog aus mehreren Gründen den Unmut der Regierenden in Berlin auf sich. Er kritisierte öffentlich den passiven Widerstand im Ruhrgebiet und befürwortete statt dessen Verhandlungen mit den Franzosen. Der Ministerpräsident genehmigte den Auf- und Ausbau der »Proletarischen Hundertschaften« in Sachsen, während sie im Mai 1923 im sozialdemokratisch regierten Preußen verboten worden waren.
Aufgrund der wirtschaftlichen Krise kam es zu Versorgungsengpässen. Proteste der Bevölkerung waren die Folge. Die Proletarischen Hundertschaften konnten teilweise beruhigend wirken; bürgerliche Kreise berichteten jedoch einseitig von gewalttätigen Übergriffen. Im Laufe des Sommers mehrten sich die Eingaben von konservativen Parlamentariern, Unternehmern und sächsischen Beamten, die ein Eingreifen von Reichsregierung und Reichswehr in Sachsen forderten4.
Die Wirtschaftskrise, die soziale Not und die Verschärfung der innenpolitischen Gegensätze heizten den Aktionismus der Linken an. Die KPD-Führung erhielt von der Kommunistischen Internationale in Moskau Anweisung, in Sachsen und Thüringen Koalitionsregierungen mit der SPD zu bilden, um einen revolutionären Aufstand anzuzetteln. Angesichts der Bedrohung durch den seit dem 26. September herrschenden Ausnahmezustand im Reich willigte die sächsische SPD ein, und am 10. Oktober wurde die SPD-KPD-Koalition gebildet. Zeigner blieb Ministerpräsident. Der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler wurde Chef der Staatskanzlei. Daraufhin marschierte die Reichswehr in Sachsen ein. Am 29. Oktober 1923 wurde im Zuge der »Reichsexekution« die legal gebildete Regierung ihres Amtes enthoben.
Es stellte sich sehr schnell heraus, daß die Kommunisten für eine erfolgreiche Erhebung weder genügend Waffen noch Revolutionäre noch Anhänger hatten. Der »rote Oktober« in Sachsen und Mitteldeutschland war auf seiten der Kommunisten utopistisches, ideologisch verblendetes Wunschdenken. Für die Rechten war er ein Popanz, teils angstbesetztes Horrorszenario, teils kühl kalkuliert als Vorwand zum Losschlagen. Die Gefahren, die der Republik von links drohten, wurden jedenfalls deutlich überschätzt. Die Gefahren von rechts, so den tatsächlichen Umsturz der republikanischen Ordnung in Bayern unter Deckung durch das Militär, nahm die Berliner Regierung ohnmächtig hin. Die Regierung Zeigner hatte treu zur Verfassung gestanden5. Das Vorgehen von Reichswehr, Reichsregierung und Reichspräsident gegen Sachsen war überzogen und unberechtigt.
Der junge, gerade politisch aktiv gewordene Herbert Wehner bekam die verwirrenden Auseinandersetzungen des Jahres 1923 hautnah mit. Im Sommer nahm er am 3. Deutschen Arbeiter-Jugendtag in Nürnberg teil. Schon wegen der Anreise war dies etwas Besonderes, denn er wanderte zu Fuß dorthin, durch Sachsen, Thüringen und Nordbayern. Gemeinsam mit 50 000 Jugendlichen erlebte er in Nürnberg die Tagungen von Sozialistischer Arbeiterjugend und Jungsozialisten. Ein Zwischenfall am Rande der Tagung brannte sich in sein Gedächtnis ein. Zusammen mit einigen anderen Jugendlichen nahm er an einer Vesper in der Lorenzkirche teil. Als die jungen Menschen das Gotteshaus verließen, wurden sie von einer Gruppe Nazis überfallen und verprügelt. Dies war Herbert Wehners erste Begegnung mit den künftigen Herren Deutschlands6.
Als er nach Hause zurückkam, überschlugen sich die Ereignisse. Die Arbeitslosenquote in Dresden stieg auf 60 Prozent. Es kam zu Hungerprotesten und Demonstrationen von Erwerbslosen. Die sächsische Regierung setzte zur Beruhigung die Proletarischen Hundertschaften ein, bei denen auch Wehners Vater mitwirkte. Arbeiter wurden auf Befehl einer Arbeiterregierung gegen protestierende Arbeiter eingesetzt, und SPD und KPD machten dabei mit. In Wehners SAJ-Gruppe wurde über eine »neue Revolution« diskutiert7.
Zur Spaltung führte der Einmarsch der Reichswehr. Am 27. Oktober 1923 kam es zu Übergriffen des Militärs, die als »Freiberger Blutsonnabend« in die Geschichte eingingen. 29 unbewaffnete Arbeiter wurden von Soldaten erschossen. Der sozialdemokratische Zeitzeuge Walter Fabian erinnerte sich an empörende Ereignisse in ganz Sachsen: »Kavallerie-Attacken auf Neugierige, mitten durch Scharen spielender Kinder. Verhaftungen über Verhaftungen, auf jede Denunziation hin. Faustschläge ins Gesicht wehrloser Gefangener, Prügel mit Reitpeitschen und Koppeln. Beförderung der Verhafteten zwischen den Pferden der Kavallerie, Verhöre mit dem Gesicht gegen die Wand.« Für Herbert Wehner und seine Freunde in der sozialdemokratischen Jugendgruppe bedeutete das brutale Vorgehen des Militärs, »daß wir nicht mehr verstehen konnten, wie wir die Dinge zueinander zu ordnen hatten«. Nach heftigen Diskussionen spaltete sich die Gruppe. Eine starke Minderheit um Herbert Wehner bildete eine »freie sozialistische Jugendgruppe«. Sie waren »aus dem Gleis geworfen«8.
Antonie Wehner machte sich Sorgen um ihren Ältesten. Sie erhielt Besuch vom erwachsenen Leiter seiner SAJ-Gruppe. Dieser warnte sie, ihr Sohn werde am Galgen enden, »denn er wird, wenn es so weitergeht, ein Anarchist. Er ist ein Idealist, aber dies ist gefährlich.« Die Mutter fragte Herbert Wehner nach der Ursache dieser Warnung und bat ihn, nicht auf politische Abwege zu geraten9.
Eine herbe persönliche Enttäuschung gab weiteren Anlaß zur Radikalisierung. Im Frühjahr 1924 schloß Wehner die dreijährige Verwaltungsausbildung an der Neustädter Realschule ab. Gustav Hahn, Rektor der Schule, war mit den Leistungen seiner Absolventen in hohem Maße zufrieden. Sie hatten bei der Reifeprüfung im Schnitt bessere Noten erzielt als die übrigen Realschüler. Herbert Wehner erhielt in Betragen und Fleiß jeweils eine 1, in den Fachnoten kam er insgesamt auf die Note 2a. Er hatte nur Einsen und Zweien. Die besten Noten erzielte er in Religion, Deutsch, Volkswirtschaftslehre und Buchführung. Insgesamt schnitt er als Zweitbester ab. Dennoch ging die Ausbildung ins Leere. Der Staat wollte sparen, und 1924 begann in Sachsen der »Beamtenabbau«. Ein Sperrgesetz machte Neueinstellungen unmöglich. Nach dreijähriger erfolgreicher Ausbildung wurde der gesamten Verwaltungsklasse der Neustädter Realschule eine Anstellung im Staatsdienst verweigert. Dabei war das erstrebte Ziel so dicht vor den Augen der Schüler sichtbar gewesen. Die Schule lag mitten im damaligen und heutigen »Regierungsviertel«, in unmittelbarer Nähe der verschiedenen Ministerialgebäude. Scharen von Beamten kreuzten den Schulweg. Wehners Hinwendung zum Anarchismus, einer Lehre, die den Staat und die Beamtenschaft abschaffen will, wurzelte auch in der Empörung des 17jährigen über den gleichgültigen Umgang des Staates mit ihm und seinesgleichen10.
Nun mußte er eine neue Ausbildung anfangen, diesmal als Lehrling im Kontor der Dresdner Hille GmbH. Die Fabrik stellte Dieselmotoren, Bohrmaschinen und Lastautomobile her. Dort war er »in der Werkstattschreiberei, im Lohnbüro, in der Kasse...