Das Feinste vom Feinen
Sie muss Rheinisch gesprochen haben, Bönnsch, und sie muss von entsprechend heiterem Temperament gewesen sein: Thekla Wolle, als Thekla David im Jahr 1879 in Bonn geboren – meine Großmutter. Sie war eine unter vier Schwestern, von denen man sich in der Familie erzählte, dass sie in ihrer Jugend bisweilen auf dem Tisch getanzt hätten. Ihre Vorfahren, aus Altenkirchen im Westerwald stammend, waren am Rhein zu Wohlstand, ja zu Reichtum gekommen, sei es als Kaufleute, wie Moritz David, Theklas Vater, oder im Geldgewerbe, wie sein Bruder Louis. Der machte später, anno 1926, auf dramatische Weise bankrott, weil er sich mit der Beteiligung an einer Weinhandlung verspekuliert hatte. Bis dahin war sein Bankhaus, das 1893 gegründete Privatbankhaus Louis David, jedoch hochangesehen, und Hermann Josef Abs, der in der Nachkriegszeit die Deutsche Bank neu gründete und den Kanzler Adenauer beriet, hatte dort sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Umtriebige Leute also, die Davids, die ihr Vermögen erst einmal fleißig mehrten und um 1912 in Bonn zu den Millionären gezählt wurden.
Moritz David, mein Urgroßvater, wohnte mit seiner Familie in der Kaiserstraße 77, einem geräumigen, drei Stockwerke hohen Haus, das später die Bonner Wach- und Schließgesellschaft beherbergte und heute einer Einrichtung für Drogenkranke als Domizil dient. Den Charme der alten Zeiten sieht man dem Gebäude freilich nicht mehr an. Die damals verzierte Fassade ist inzwischen schmucklos restauriert und geglättet, ganz im Gegensatz zu so vielen anderen Anwesen im reizvollen Ensemble der alten Bonner Straßen. Unzählige Male bin ich auf meinen Berufsreisen in die kleine Stadt am Rhein, solange sie noch als Bundeshauptstadt diente, an diesem Haus vorbei gefahren, das heute gleich hinter den Bahngleisen liegt, und immer dachte ich dann, bevor mich der Politikbetrieb verschluckte, an meine Großmutter Thekla, die hier in einer angesehenen Familie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte.
Jahrzehnte später, da war sie schon ein Erwachsenenleben lang in Berlin heimisch, mittlerweile auch verwitwet, wohnte sie ganz in unserer Nähe, in Wilmersdorf, in einem Teilabschnitt der Rudolstädter Straße, den es heute nicht mehr gibt, weil er dem Bau der Stadtautobahn zum Opfer gefallen ist. Nummer elf war ihre Adresse, die Wohnung lag im Erdgeschoss. Auf einem Foto vom Ende der dreißiger Jahre stehe ich unten im Garten und strecke die Ärmchen zu ihr nach oben. Sie hält mir ihre Arme entgegen. Wenn ich auf das Bild schaue, meine ich die kleine Szene noch einmal zu erleben und sehe meine Großmutter wirklich vor mir. Sie war ein bisschen mollig, hatte gut gepolsterte Wangen und große, dunkle, sehr ausdrucksvolle, bisweilen durchaus kess von der Seite schauende Augen – eine ausgesprochen hübsche Frau. So wird sie auch von denen beschrieben, die zu ihren Lebzeiten schon erwachsen waren und sich noch an sie erinnern können. Die schwarzen Haare trug sie in Wellen eng an den Kopf gelegt und hinten zu einem Knoten zusammengefasst. Das galt in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht als großmütterlich, sondern als modisch. Und modisch waren auch ihre halblangen Kleider samt den Hüten für jede Jahreszeit. Schließlich hatte sie einen Mann vom Fach geheiratet, Gustav Wolle, einen der vielen jüdischen Konfektionäre in Berlin. Seine Firma stellte Mäntel für Mädchen und junge Damen her und folgte damit, zumindest was die Branche anging, einer Familientradition. Zwar hatte er einen Lithographen zum Vater gehabt, aber etliche Vorfahren waren Tuchhändler gewesen – daher wohl auch der Name Wolle. Mit dieser Fabrikation verdiente er sein Brot, war dabei zu Wohlstand, wenngleich nicht, wie die Davids in Bonn, zu bedeutendem Reichtum gekommen.
Thekla Wolle, die jüdische Großmutter, Tochter einer alteingesessenen Bonner Familie.
Gustav Wolle, mein Großvater, war allenfalls mittelgroß, auch nicht kräftig, sehr kurzsichtig, also weiß Gott nicht gerade das, was man einen Beau nennen würde. Mit seiner kahlen Stirn und den dicken, scharf geschliffenen Brillengläsern sah er aus wie ein Gelehrter. Das humanistische Gymnasium hatte er nur bis zur Mittleren Reife besucht, gleichwohl war er ein gebildeter Mann, der sich, hauptsächlich durch Lektüren, selbst vorangebracht hatte. In seinem Bücherschrank standen die damals vielgelesenen »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« von Wilhelm von Kügelgen, dem Maler und Portraitisten Goethes, außerdem die Erinnerungen »Besonnte Vergangenheit« des Chirurgen und Schriftstellers Carl Ludwig Schleich, dazu sämtliche Werke von Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi. Doch so sehr ihn Kunst und Literatur begeisterten, seine größte Leidenschaft, die er auch den Söhnen weiterreichte und für die er später sogar den Schwiegersohn entzünden wollte, galt dem Schachspiel. Nach jedem Essen setzte er sich ans Brett und spielte mit sich selbst. Immer trug er ein Taschenschach bei sich. Wenn er einen guten Einfall hatte, zog er es sogar im Büro hervor und bescherte sich – so oder anders herum – ein Matt.
Ein »Schadchen«, ein Heiratsvermittler, vielleicht auch irgendwelche Tanten, Eltern oder Onkels hatten die Verbindung zwischen Thekla David und Gustav Wolle eingefädelt, hatten die ersten Begegnungen arrangiert, und siehe: 1903 wurde geheiratet. Ob die Ehe so richtig glücklich war, ist von meiner Mutter, der Tochter aus dieser Verbindung, immer wieder einmal, mehr im Spaß als wirklich ernsthaft, angezweifelt worden. Zum Beweis erzählte sie gern die Geschichte von jenem Geburtstag, an dem Gustav seiner Frau eine vollständige Ausgabe der Werke Strindbergs schenkte – anstelle von Perlen oder einem goldenen Armreif, einem Seidentuch oder einer Brosche. Das wäre für die lebenslustige, dazu außerordentlich erdgebundene Frau fraglos angemessener gewesen. Gustav hatte eben ganz nach Männerart an etwas gedacht, das ihn selbst erfreuen würde. Außerdem war er ein richtiger Preuße, also nüchtern und verstandesbetont, zudem ein wenig professoral und so zerstreut, dass er einmal, nachdem er auf dem Nachhauseweg im Auftrag seiner Frau ein halbes Pfund Butter gekauft hatte, dieses in der Manteltasche versenkte und vergaß. Ein paar Stunden später, es war im Frühjahr und unverhofft warm, ging er an der Krummen Lanke spazieren und setzte sich schließlich auf eine Bank. Die Butter schmolz inzwischen durch den Mantel hindurch. Gustav versuchte den Kragen am Hals zu lockern, fuhr sich auch mit der Hand über die Stirn und konnte sich dabei gar nicht genug auswundern, dass er an diesem Tag »so fett« schwitzte.
Als Konfektionär in Berlin
zu bescheidenem Wohlstand gekommen.
Großvater Gustav Wolle
mit seinen Kindern Hans und Edith
Im Grunewald.
Gustav Wolle und seine Frau Thekla
Gustav Wolle pflegte einen selbstironischen Humor, und insofern war er sehr jüdisch. Manchmal, wenn Abendgäste ein paar Minuten zu spät eintrafen, empfing er sie gerne, gespielt unwirsch: »Um diese Zeit hoffte ich, euch schon gute Nacht sagen zu können«. Und machte die Familie eine bedeutende Anschaffung oder gönnte sie sich ein besonderes Ausgehvergnügen, so bespiegelte er seinen bescheidenen Wohlstand gern mit dem Satz: »Ich wollt’, ich könnt’ so leben, wie ich lebe«. Ein liebenswürdiger und leiser Mensch, wovon nicht zuletzt die allabendlich, geradezu marottenhaft und stets nebenbei vor dem Zubettgehen hingestreute Bemerkung »Der liebe Gott erhalte mir mein Bett und meine Nachttischlampe« kündete. Wie recht er damit hatte! Im Grauen ihrer letzten Tage und Stunden mag Thekla an diesen in der Familie so oft belächelten Satz gedacht haben.
Obwohl er sein Unternehmen nicht ohne Erfolg führte, war Gustav Wolle doch eher ein Intellektueller, sehr angezündet von der Kulturblüte im Berlin seiner Zeit. Sein bester Freund war Max Marcuse, der damals berühmte Mitbegründer des Instituts für Sexualwissenschaften in Berlin, ein Vetter ersten Grades, der nicht nur Gustav, sondern die ganze Familie stark beeinflusste. Die Mütter der beiden Männer waren Schwestern gewesen, man hing auch über das Verwandtschaftliche hinaus aufs Engste zusammen. Max – ganz anders als Gustav – hatte Medizin studiert, hatte sich auf Dermatologie spezialisiert und war über dieses Fach mit den sexuellen und sozialen Problemen der unteren Schichten in Berührung gekommen. Als Student begleitete er einmal einen Arzt, der nach einer illegalen Abtreibung zu Hilfe gerufen worden war. Die junge Frau starb an dem Eingriff der Engelmacherin. Ein erschütterndes Erlebnis für den jungen Mediziner, das ihn für immer zu einem Verfechter der Frauenbewegung machte.
Max Marcuse war eine hochgeachtete Kapazität im Berlin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Steckbrief der Humboldt-Universität nennt ihn heute »a forgotten giant« – einen vergessenen Riesen. Dass er vergessen wurde, erscheint merkwürdig in einer Zeit, da die Sexualität mit all ihren Problemen und Spielarten zu einem großen und völlig unbefangen zu behandelnden Thema geworden ist. Vielleicht hat man auch gerade deshalb seine epochalen Leistungen nicht mehr wahrgenommen, weil das heute alles selbstverständlich ist.
Damals aber war es vollkommen neu, ja revolutionär. Über alles, was da zum Kanon des zu Erforschenden gehörte, hat Max Marcuse in den Jahren zwischen 1910 und 1933 gearbeitet und publiziert. Die Titel dieser Arbeiten heißen »Hautkrankheiten und Sexualität«, »Inzest« oder »Uneheliche Mütter«, und die Zeitschriftenbeiträge tragen die...