PROLOG
Dachau, 29. April 1945. Es ist früher Nachmittag, als sich US-Truppen, Teil der alliierten Kampfverbände, die Deutschland durchkämmen, um die letzten Reste des sogenannten Dritten Reiches zu zerschlagen, einem verlassenen Zug nähern, abgestellt auf einem Nebengleis bei einem ausgedehnten SS-Komplex in der Nähe von München. Als die Soldaten dichter herankommen, machen sie eine entsetzliche Entdeckung: Die Güterwaggons sind gefüllt mit den Leichen von weit über 2000 Männern und Frauen. Auch einige Kinder sind darunter. Ausgezehrte, verdrehte Gliedmaßen liegen ineinander verkeilt in einem Gewirr aus Stroh und Lumpen, über und über von Schmutz, Blut und Exkrementen bedeckt. Aschfahl wenden sich einige GIs ab und brechen in Tränen aus oder übergeben sich. »Wir hatten eine Wut im Bauch und es machte uns schier verrückt, dass wir nichts anderes tun konnten als die Fäuste zu ballen«, schrieb ein Offizier am nächsten Tag. Als die erschütterten Soldaten im Lauf des Nachmittags tief in den SS-Komplex vordringen und das Gefangenenlager erreichen, treffen sie auf 32000 Überlebende ganz unterschiedlicher ethnischer, religiöser und politischer Herkunft aus rund 30 europäischen Ländern. Einige scheinen mehr tot als lebendig, wie sie ihren Befreiern entgegentaumeln. Viele mehr liegen krank und verdreckt in den überfüllten Baracken. Wohin sich die Soldaten wenden, sehen sie Leichen: zwischen den Baracken verstreut, in Gräben geworfen, wie Holzscheite gestapelt neben dem Lagerkrematorium. Was die Hintermänner des Gemetzels angeht, sind fast alle SS-Dienstgrade längst verschwunden; nur ein zusammengewürfelter Haufen von vielleicht 200 Wachleuten ist zurückgeblieben.1 Bilder dieses Albtraums verbreiteten sich rasch über die ganze Welt und haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Bis zum heutigen Tag betrachtet man Konzentrationslager wie Dachau oft aus dem Blickwinkel der Befreier, mit den nur zu vertrauten Aufnahmen von Gräben voller toter Körper, Leichenbergen und knochendürren Überlebenden, die in die Kameras starren. Doch so stark diese Bilder sind, sie verraten nicht die ganze Wahrheit über Dachau. Denn das Lager hatte eine viel längere Geschichte und war erst kurz zuvor, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, in seinen letzten Höllenkreis eingetreten.2
Dachau, 31. August 1939. Die Häftlinge stehen vor Sonnenaufgang auf, wie jeden Morgen. Keiner von ihnen weiß, dass am nächsten Tag der Krieg ausbrechen wird, und sie folgen ihrer üblichen Lagerroutine. Nach der stürmischen Hektik – in die Waschräume drängeln, ein paar Bissen Brot herunterschlingen, die Baracken säubern – marschieren sie in streng militärischer Formation zum Appellplatz. Fast 4000 Männer, die Köpfe kurz geschoren oder kahlrasiert, stehen in gestreifter Häftlingskleidung stramm, in Ängsten vor einem weiteren Tag Zwangsarbeit und Gewalt. Abgesehen von einer Gruppe von Tschechen kommen fast alle Häftlinge aus Deutschland oder Österreich, doch mehr als die Sprache haben sie oft nicht gemein. Farbige Winkel auf ihren Uniformen identifizieren sie als politische Gefangene, Asoziale, Berufsverbrecher, Homosexuelle, Zeugen Jehovas oder Juden. Hinter den Reihen der Gefangenen stehen Reihen einstöckiger Häftlingsbaracken. Jeder dieser 34 Zweckbauten ist ungefähr 100 Meter lang. Die Böden im Innern glänzen und die Betten sind akkurat gemacht. Flucht ist praktisch unmöglich: Das rechteckige, 583 x 278 Meter messende Häftlingsgelände ist umgeben von einem Graben und einer Betonmauer, Wachtürmen, Maschinengewehren, Stacheldraht und einem Elektrozaun. Jenseits davon liegt ein riesiges SS-Gelände mit über 220 Gebäuden einschließlich Lagerräumen, Werkstätten, Unterkünften und sogar einem Schwimmbad. Dort sind etwa 3000 Angehörige der Lager-SS stationiert, einer Freiwilligeneinheit mit ihrem eigenen Ethos, die die Häftlinge einem eigenspielten Programm von Misshandlung und Gewalt unterwirft. Trotzdem gibt es nur vereinzelt Sterbefälle mit nicht mehr als vier Todesopfern im August 1939; bislang bestand bestand für die SS noch keine dringende Notwendigkeit, ein eigenes Krematorium zu errichten.3 Dies war Lager-SS-Terror in seiner konzentriertesten Form – weit entfernt vom tödlichen Chaos der letzten Tage im Frühjahr 1945 und auch von Dachaus improvisierten Anfängen im Frühjahr 1933.
Dachau, 22. März 1933. Der erste Tag im Lager geht zu Ende. Es ist ein kalter Abend, knapp zwei Monate nachdem die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler die Weichen für die NS-Diktatur gestellt hat. Die neuen Häftlinge (noch in ihrer eigenen Kleidung) werden im früheren Verwaltungsbau einer aufgelassenen Pulver- und Munitionsfabrik mit Brot, Wurst und Tee verpflegt. Das Gebäude ist in den Tagen zuvor in großer Eile in ein provisorisches Lager umgewandelt worden, mit Stacheldraht abgeriegelt vom Rest des verlassenen Fabrikgeländes mit seinen verfallenden Bauten, zerborstenen Betonfundamenten und verwahrlosten Straßen. Im Ganzen gibt es nicht mehr als 100 bis 120 politische Häftlinge, hauptsächlich Kommunisten aus dem nahen München. Nach ihrer Ankunft in offenen Lastwagen verkündete das Wachpersonal – etwa 54 Mann stark –, die Gefangenen würden in »Schutzhaft« genommen, ein vielen Deutschen unbekannter Begriff. Was immer das war, es schien erträglich: Die Wachen waren keine nationalsozialistischen Milizen, sondern gemütliche Polizisten, die mit den Gefangenen plauderten, Zigaretten verteilten und sogar im gleichen Gebäude schliefen. Am nächsten Tag schrieb der Häftling Erwin Kahn seiner Frau in einem langen Brief, dass in Dachau alles in Ordnung sei; das Essen sei gut, die Behandlung auch. »Ich bin nur neugierig, wie lange die Sache noch dauert.« Einige Wochen später war Kahn tot, ermordet, nachdem SS-Männer das Häftlingslager übernommen hatten. Er war einer der ersten von fast 40000 Dachauer Gefangenen, die zwischen dem Frühjahr 1933 und dem Frühjahr 1945 ihr Leben verloren.4
Drei Tage in Dachau, drei unterschiedliche Welten. Im Verlauf von nur zwölf Jahren wandelte sich das Lager wieder und wieder. Insassen, Wachpersonal, Bedingungen – fast alles schien sich zu verändern. Auch das Gelände selbst wurde umgestaltet. Nachdem alte Fabrikgebäude in den späten Dreißigerjahren abgerissen und durch speziell errichtete Baracken ersetzt worden waren, hätte ein Althäftling aus dem Frühjahr 1933 das Lager nicht wiedererkannt.5 Aber wie erklärt sich Dachaus Wandel von den umgänglichen Anfängen zur SS-»Ordnung des Terrors« und weiter bis in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs? Was bedeutete das für die Häftlinge? Was trieb die Täter an? Und was wusste die Bevölkerung draußen über das Lager? Diese Fragen zielen ins Zentrum der NS-Diktatur, und man muss sie nicht nur im Blick auf Dachau, sondern bezogen auf das Konzentrationslagersystem als Ganzes stellen.6
Dachau war das erste von vielen SS-Konzentrationslagern. Errichtet innerhalb Deutschlands in den frühen Jahren von Hitlers Herrschaft, breiteten sich diese Lager im Zuge der Unterwerfung Europas durch die Nationalsozialisten seit den späten Dreißigerjahren rasch nach Österreich, Polen, Frankreich, in die Tschechoslowakei und die Niederlande, nach Belgien, Lettland, Estland, Litauen und selbst bis auf die kleine britische Kanalinsel Alderney aus. Insgesamt richtete die SS im Verlauf des Dritten Reiches 27 Hauptlager und über 1100 angeschlossene Außenlager ein. Die Zahlen schwankten jedoch beträchtlich, da alte Lager geschlossen und neue eröffnet wurden. Nur Dachau hatte über die ganze NS-Zeit hinweg Bestand.7
Die Konzentrationslager verkörperten wie keine andere Institution des Dritten Reiches den Geist des Nationalsozialismus.8 Sie bildeten ein besonderes System der Beherrschung mit eigener Organisation, eigenen Regeln, eigenem Personal und selbst einem eigenen Akronym: In offiziellen Dokumenten und im allgemeinen Sprachgebrauch wurden sie oft als »KL« bezeichnet (das härter klingende »KZ« wurde erst im Nachkriegsdeutschland zur Standardabkürzung).9 Unter Führung des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, des wichtigsten Schergen Hitlers, wurden die KL zu einem Spiegel der glühenden Obsessionen der NS-Führung: der Schaffung einer einheitlichen »Volksgemeinschaft« durch die Ausschaltung politischer, sozialer und rassischer Außenseiter; der Opferung des Individuums auf dem Altar von Rassenhygiene und mörderischer Wissenschaft; dem Rückgriff auf Zwangsarbeit zum Ruhm des Vaterlands; der Herrschaft über Europa durch die Versklavung fremder Nationen und die Kolonisierung von »Lebensraum«; der Rettung Deutschlands vor seinen Erzfeinden durch Massenvernichtung; und, am Ende, der Entschlossenheit, eher in Flammen unterzugehen als zu kapitulieren. Über die Jahre hin prägten all diese Obsessionen das KL-System und führten zu Masseninhaftierung, Entbehrung und Tod der Insassen.
Schätzungsweise 2,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder wurden zwischen 1933 und 1945 in SS-Konzentrationslager verschleppt, die meisten von ihnen, über 1,7 Millionen, verloren ihr Leben. Fast eine Million dieser Toten waren Juden, die in Auschwitz ermordet wurden, dem einzigen KL, das eine zentrale Rolle in der von den Nationalsozialisten sogenannten Endlösung spielte: der systematischen Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, die heute gewöhnlich als Holocaust bezeichnet wird. Von 1942 an, als die SS Deportationszüge aus ganz Europa nach Auschwitz zu schicken...