Deborah Holmes
„Nichts weniger als die
Erneuerung der Weiblichkeit“
Wiener Salonkultur ab der Jahrhundertwende
Hilde Spiel kam 1911 zur Welt, zu einem Zeitpunkt, in dem Wien im Nachhinein betrachtet zwischen zwei Extremen zu liegen schien. Um 1900 galt die wohlhabende, glanzvolle österreichische Hauptstadt als Hort der kulturellen Fülle und Innovation. Ab 1918 wird das verarmte Nachkriegs-Wien nur mehr als kulturelle Geisterstadt wahrgenommen. Oft – zu oft könnte man meinen – werden diese beiden Abschnitte als krasse Gegensätze dargestellt. Über die vielfältigen Strömungen des Fin de siècle und ihre Ursprünge lässt sich genauso streiten wie über die vermeintlich geistige und künstlerische „Verarmung“ der Zwischenkriegszeit. Worüber sich aber nicht streiten lässt, ist die Tatsache, dass keine kulturelle Institution in jener Zeit verschont blieb, weder von den Polemiken der Jahrhundertwende noch von der Wucht des Zusammenbruchs am Ende des Ersten Weltkriegs – und das gilt vielleicht umso mehr für eine Institution, die eben keine war: der Salon.
In Wien gab es spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts ein ernstzunehmendes intellektuelles Salonleben. Die Sekundärliteratur gibt einstimmig Auskunft darüber, wer als bekannteste und wichtigste Salonières der Stadt galten: Fanny von Arnstein, ihre Tochter Henrietta Pereira, die Schriftstellerin Caroline Pichler und etwas später Josephine von Wertheimstein. Über die Zeit des Fin de siècle gehen die Meinungen jedoch auseinander. In mancher Fachliteratur wird behauptet, die Wiener Salonkultur ab der Jahrhundertwende habe nur mehr vor sich hingedämmert: Alles, was noch als „Salon“ beschrieben werden konnte, sei bloß ein schwacher Widerschein früherer Glorien. Der Zusammenbruch der Salonkultur wird hier meistens mit dem Ableben Josephine von Wertheimsteins angegeben: 1894 war die Mäzenin und Dichterfreundin gestorben, gefolgt 1907 von ihrer Tochter Franziska. Die Villa Wertheimstein im 19. Wiener Gemeindebezirk wurde zwar der Allgemeinheit vermacht, der Kreis von Künstlern und Schriftstellern, die sich um die Familie gesammelt hatte, blieb dennoch nicht erhalten. Warum es so kommen musste, kann aber nur zum Teil mit dem Hinscheiden der Wertheimstein-Damen begründet werden. Laut Karlheinz Rossbacher wurden das Monologisieren und die selbstbezogene Nabelschau zum Kennzeichen der anbrechenden Moderne, Tendenzen, die sich gegen die „überlieferte Salongeselligkeit“ auswirkten, sowie der zunehmende Hang, immer mehr Facetten des Lebens und der Kultur unter einem ökonomischen Aspekt zu betrachten. (Vgl. Rossbacher 2003, 113f.) Zwar gab es noch den Salon der Grande Dame des Hoflebens, Fürstin Pauline von Sándor-Metternich, allerdings hatte die altösterreichische Aristokratin ihre besten Tage bereits hinter sich. Spätestens als der Erste Weltkrieg das politische Werk ihres berühmt-berüchtigten Großvaters ein für alle Mal vernichtete, verschwand auch sie aus dem Gesellschaftsleben. Zudem übernahm das Kaffeehaus in jener Zeit immer stärker die Funktionen des Salons wie das Networking, den Gedankenaustausch und die Gelegenheit zur Selbstdarstellung im halböffentlichen Raum. Der vornehmlich weiblich konnotierte Salon ist also um die Jahrhundertwende durch eine Domäne ersetzt worden, die vorläufig einmal rein männlich blieb. Erst nach 1918 wurden Frauen ohne Begleitung im Kaffeehaus geduldet.
Abb. 1: Alma Mahler-Werfel; Bildarchiv der ÖNB, Wien, 204.748-D
Es gibt aber auch die entgegengesetzte Meinung, die Wiener Salonkultur hätte um die Zeit, in der Hilde Spiel geboren wurde, neuen Aufwind bekommen. Anstatt mit dem alten Reich unterzugehen, wurde der Salon modernisiert, wobei mindestens zwei zentrale Merkmale der überlieferten Salonkultur erhalten blieben: eine starke weibliche Persönlichkeit als Mittelpunkt und ein Privathaus als Hauptschauplatz. Drei Namen werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt: Alma Mahler(-Werfel) [Abb. 1], Eugenie Schwarzwald und Berta Zuckerkandl. (Vgl. Rose 2008, 204) Man spricht auch von einer gewissen Ausdifferenzierung des Salonlebens während dieser Epoche – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Salon unter anderem als Kompensationsmechnismus entstanden ist, zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht weiterführende Schulen besuchen, geschweige denn studieren, politisieren oder selbstständig wissenschaftlich arbeiten durften. Zu den Gemeinplätzen der Forschung gehört es ja auch anzumerken, dass sowohl die Gründerinnen als auch die berühmtesten Gastgeberinnen der Wiener Salonkultur jüdischer Herkunft waren. Während des 19. Jahrhunderts stellte der Salon nach wie vor eine Art punktuell realisierte, mehr oder weniger privat gehaltene Emanzipation dar – für die Salonières nicht nur als Frauen, sondern auch als Juden. Der Charakter und die Funktionen des Salons mussten sich verändern, sobald die eigentliche rechtliche und gesellschaftliche Emanzipation sich allmählich durchzusetzen begann. Wohl auch deshalb wirkte das Salonleben verstärkt in den öffentlichen Raum hinein. (Vgl. Ackerl 1993, 694f.)
Während die junge Hilde Spiel als Frau und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit heranreifte, standen ihr Salonières vor Augen, die viel eher als ihre Vorgängerinnen im 19. Jahrhundert mit konkreten künstlerischen, intellektuellen und sozialen Anliegen und Aufgaben identifiziert wurden. Alma Mahler ist der Nachwelt meist nur als ruchlose Femme fatale bekannt, als eine Art Kultursirene, die mit ihren unwiderstehlichen Reizen einen Kreis von bedeutenden Künstlern um sich zu scharen wusste. Nicht nur dank des Vermächtnisses ihres ersten Mannes Gustav Mahler, sondern auch dank ihrer musischen Ausbildung versammelte sie bei sich die musikalische Avantgarde: Arnold Schönberg, Alexander von Zemlinsky, Ernst Krenek, um nur die Bekanntesten zu nennen. Nachdem sie auf Insistieren Gustav Mahlers großteils aufgehört hatte, selbst zu komponieren, begann sie in den 1920er Jahren wieder eigene Lieder zu publizieren.
Abb. 2: Berta Zuckerkandl; Bildarchiv der ÖNB, Wien, 204.711-C
Alma Mahlers ältere Freundin Berta Zuckerkandl [Abb. 2] hingegen hatte sich nicht durch ihre Heirat von eigenen intellektuellen Betätigungen abbringen lassen, noch hätte ihr Mann Emil Zuckerkandl, Anatomieprofessor und überzeugter Kämpfer für Frauenbildung, das gewollt. Zuckerkandl hatte seit ihrer Jugend am Zeitungsimperium ihres Vaters Moriz Szeps mitwirken dürfen. Nach einer erfolgreichen Karriere bei der Wiener Presse und der Wiener Morgenpost gründete Szeps 1867 das einflussreiche Neue Wiener Tagblatt, ein Organ, das sich an das liberale (Groß-)Bürgertum richtete. Seine Töchter wurden, wie die junge Alma Mahler später auch, zu Hause unterrichtet. Im Gegensatz zu Alma Mahler wurden aber bei der Ausbildung Berta Szeps’ und ihrer Schwester keine Kosten gescheut und kein Unterrichtsfach favorisiert bzw. ausgelassen. Berta half ihrem Vater nicht nur als Sekretärin, sondern auch als geheime Botin, wenn es um die Veröffentlichung anonymer Artikel des progressiven Thronfolgers Kronprinz Rudolf ging. (Vgl. Herling 1998, 57f.)
Bis Hilde Spiel Zeitungen zu lesen begann, war Zuckerkandl längst zu einer geradezu legendär streitbaren Kunstkritikerin und kulturellen Kommentatorin geworden. Ihr Salon wird heute als einer der Ausgangspunkte der Wiener Sezession und der Wiener Werkstätte gefeiert, als der Ort, an dem das sogenannte „Jung Wien“ (dazu zählten unter anderem Hermann Bahr, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal) mit Gustav Klimt, Otto Wagner, Josef Hofmann und dem Nötscher Kreis zusammentraf. Zuckerkandl war aber nicht nur eine begabte Gastgeberin und Networkerin. Als Zuständige für Kunst und Kultur, zuerst bei der Wiener Allgemeinen Zeitung und dann beim Neuen Wiener Journal, war sie eine professionelle Journalistin zu einer Zeit, in der Frauennamen faktisch nie unter ernstzunehmenden Zeitungsartikeln standen. Zudem wurde nach dem Ersten Weltkrieg Zuckerkandls Ansehen in manchen Kreisen dadurch gestärkt, dass sie von Anfang an als aktive Pazifistin aufgetreten war. Sie versuchte sowohl einen früheren Frieden als auch eine Linderung der Not im Nachkriegsösterreich durch ihre Freundschaft mit dem französischen Premierminister Georges Clemenceau, dem Schwager ihrer Schwester Sophie, herbeizuführen.
Obwohl Alma Mahler-Werfel und Berta Zuckerkandl in vieler Hinsicht als „Überlebende“ des Fin de siècle zu betrachten sind, waren die befreundeten Salonières in der Wiener Kulturszene der Zwischenkriegszeit sehr angesehen, fanden die Zusammenkünfte großen Anklang. Kein Künstler oder Intellektueller durfte sich diese Gesellschaften entgehen lassen. Das Spektrum der Gäste war überaus bunt und reichte von Secessionisten und Dichtern des Expressionismus bis zu Vertretern der Salzburger Festspiele und austrofaschistischen Politikern. Beide Salonières wirkten in Wien noch fort, bis der „Anschluss“ an Nazi-Deutschland sie ins Exil zwang. Zwei Jahre nachdem Hilde Spiel sich...