Zwischen Himmel und Ebbe
Ein sanfter Abend in den Subtropen. Lichtergirlanden erleuchten die Wipfel der ausladenden Bäume vor einer altehrwürdigen Stadtvilla, eine Brise streicht über Terrasse und Rasen. Diskret reichen Kellner Mineralwasser, Saft, Bier und Wein. Die Gespräche plätschern vornehm dahin, bis das Mikrophon knackst und eine Stimme um Aufmerksamkeit bittet.
Mit starkem Schweizer Akzent werden die Anwesenden, Vertreter von Kultur, Wirtschaft und Politik, zur feierlichen Eröffnung einer Ausstellung begrüßt: »We the People. We the Arts: Promoting Zero Hunger«. Stolz verweist der Generalkonsul auf den Ausstellungskatalog, den die Vereinten Nationen zusammen mit der Schweizer Botschaft und der Swiss Agency for Development and Cooperation herausgegeben haben, gesponsert von Nestlé (Mineralwasser), Novartis (Arzneimittel), Syngenta (Saatgut) sowie Serena (Luxushotellerie). Großzügiger Applaus hebt an für die Kunststudierenden und ihre düsteren Bilder. Es gibt noch viele Fische im Meer ist das Gemälde eines abgenagten Fischskeletts sarkastisch betitelt. Die zwei Seiten besteht aus zwei Tellerhälften, die eine auf einem schönen karierten Tischtuch mit einer Vielzahl von Erbsen, die andere auf monoton brauner Fläche mit einer einzigen Erbse. Die Kehrseite des Hungers, doziert derweil der Generalkonsul, seien der Überfluss und die alltägliche Verschwendung von Nahrungsmitteln. Auf einem der Bilder isst ein ausgemergeltes Kind ein Buch auf, es stopft sich das Papier in den Mund und kaut. Der Generalkonsul stößt mit einem Glas Fendant auf den Erfolg der Ausstellung und des Kampfes gegen den Hunger an.
Die zweite Rednerin des Abends ist die Vertreterin der UN, eine elegante, hoch aufgeschossene Frau. Für eine Welt ohne Hunger zu streiten, sagt sie, sei ein großartiges Ziel und dessen Verwirklichung zum Greifen nah. Dank der »UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung«, den »Sustainable Development Goals« (SDGs), die 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, erarbeitet in einem mehrjährigen Prozess, an dem auch zivilgesellschaftliche Organisationen mitgewirkt haben. 17 Ziele mit 169 Unterzielen, erklärt die Rednerin, darunter die Bekämpfung von Armut und Hunger, die Förderung von gesunden Lebensverhältnissen, die Verbesserung der Bildung und gute Arbeit für alle. All das, konstatiere die Agenda, sei nur möglich, wenn zugleich die Ungleichheit bekämpft werde, wenn Frieden und Rechtsstaatlichkeit herrschten, wenn der Klimaschutz vorangetrieben und nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen zum Tragen kämen. Endlich – ihre Stimme hebt druckvoll an – habe man eine Strategie, die alle Länder gleichermaßen auf das Ziel »Zero Hunger« verpflichte. Nun könnten die globalen Missstände an der Wurzel gepackt werden. »Leave no one behind«, laute das Motto der Agenda, niemand dürfe zurückgelassen werden. Der Optimismus der Rednerin zieht sich in die Länge, manche der Gäste beginnen zu tuscheln.
Der Abend könnte auch am Genfer See stattfinden, würde die Sonne nicht hinter Mangroven untergehen, würde das Wasser nicht stinken. Der Empfang findet an einem zur Kloake verkommenen Nebenarm des Hafens von Karachi statt. Im Hintergrund ragen die Umrisse von Kränen und Schloten in den nächtlichen Himmel. Karachi, das industrielle Zentrum Pakistans, hat wenig von der selbstzufriedenen Beschaulichkeit Genfs.
Das opulente Büfett bietet europäisches Essen. Unmengen an Frikassee, Gemüsegratin und Kartoffelbrei bleiben übrig; die pakistanischen Gäste fühlen sich eher zur Bar hingezogen. Im Hintergrund, unter einem der alten Bäume, stehen drei junge Menschen in grünen T-Shirts, die aufmerksam das Geschehen beobachten. Sie warten auf ihren Einsatz. Sarah, Anam und Sumaya sind Aktivisten der örtlichen Robin Hood-Armee, einer 2014 in Indien gegründeten Organisation. Eine Armee, die den Überfluss requiriert: Sobald das Büfett abgetragen wird, übernehmen sie die Reste und verteilen diese über selbstorganisierte lokale Netzwerke an Hungerleidende. So wie die »Tafeln«, die in Deutschland und Österreich wie Pilze aus dem nahrhaften Boden der Bedürftigkeit sprießen.
Laut der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) leiden vierzig Prozent der Kinder Pakistans an Unterernährung, knapp die Hälfte der Bevölkerung an Ernährungsunsicherheit, was bedeutet, dass sie nicht jederzeit Zugang zu qualitativ und quantitativ ausreichendem Essen haben. Nicht, weil es zu wenig gäbe. Pakistan ist der achtgrößte Weizenproduzent der Welt, aber die Hälfte der Bevölkerung, mithin neunzig Millionen Menschen, wissen nicht, ob sie morgen etwas zu essen haben werden.
Zweifellos ist es sinnvoll, die Verschwendung von Nahrung zu mindern. Die Aktivisten der Robin Hood-Armee suchen nach technischen Lösungen. Man müsse die Verteilung der Überreste besser organisieren, sagen sie. Hilfreich wäre etwa eine Liste von Restaurants, die regelmäßig verwertbare Abfälle produzieren. Die Verpflegung der Bedürftigen müsse systematisiert werden. Wieso aber haben sie sich nach Robin Hood benannt? Hat dieser jemals nach einem Gelage des Sheriffs von Nottingham angenagte Fasanenschenkel an die Bewohner von Sherwood Forest verteilt? Die Aktivisten schmunzeln. Na ja, der hätte wohl das gesamte Büfett abgeräumt.
Es ist keineswegs so, dass Sarah, Anam und Sumaya keine Notwendigkeit sähen, über bloße Wohltätigkeit hinauszugehen, die Verhältnisse grundsätzlich zu ändern. Zwar gibt es inzwischen Robin Hood-Ableger in über vierzig asiatischen Städten, die etwa zwei Millionen Menschen unterstützen, eine beachtliche logistische Leistung in derart kurzer Zeit. Doch sie hegen keine Illusionen, dass ihr Engagement ausreicht, um den Ernährungsmangel zu überwinden. Zumal die Hungernden größtenteils dort leben, wo es weder Botschaftsempfänge noch Restaurants gibt. Die Menschen auf dem Land in Südasien haben noch nie etwas von der Robin Hood-Armee gehört.
Die Aktivisten sind überzeugt, dass es zu einer nachhaltigen Bekämpfung des Hungers auch grundsätzlicher Eingriffe in bestehende Ungleichheiten und Machtverhältnisse bedarf. Kein halbwegs vernünftiger Mensch könnte dem Prinzip widersprechen, dass es besser wäre, den Hunger zu beseitigen, anstatt die Hungernden zu füttern. Sie bilden sich nicht ein, mit ihren Aktionen den strukturellen Ursachen von Hunger und Armut beizukommen. Und trotzdem: Sie engagieren sich für den Tropfen auf den heißen Stein, weil dieser Tropfen zu verwirklichen ist, im Gegensatz zu umwälzenden Veränderungen, die ihnen unerreichbar erscheinen.
»Gib dem Hungernden einen Fisch, und er ist für einen Tag satt; lehre ihn fischen, und er wird immer satt sein«. Lange Zeit stand dieses Motto hoch im Kurs, in den Augen vieler heutiger Aktivisten wirkt es ein wenig angestaubt, auf jeden Fall unrealistisch. Auch in Deutschland. Wer heute Not und Ungerechtigkeit bekämpft, fordert selten die bestehenden Verhältnisse heraus. Die modernen Heldinnen zivilgesellschaftlichen Engagements halten sich nicht lange mit dem politischen Kontext auf, sondern packen gleich an. Wo früher die Vorstellung von einer anderen, einer besseren Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der nicht grundsätzlich verändern will, keine Partei ergreifen möchte. Viele Helfer stört es denn auch nicht, wenn sie nur wenig über die Menschen wissen, mit denen sie es zu tun haben. Ihre Hilfe folgt technischen oder formellen Kriterien und erhebt gar nicht erst den Anspruch, in Notleidenden mehr als Objekte einer möglichst effizienten Versorgung zu sehen.
Und die UN-Diplomatin, deren Organisation ein Menschenrecht auf Ernährung propagiert? Wären zu dessen Verwirklichung nicht Eingriffe in die bestehenden weltwirtschaftlichen Strukturen nötig? Studiert man das »Kleingedruckte« der SDG-Agenda 2030, die Passagen, in denen die »means of implementation« (die Mittel zur Umsetzung) ausbuchstabiert werden, gerät man ins Grübeln. Denn die hochgesteckten Ziele sollen nicht über eine gerechtere Verteilung vorhandener Ressourcen verwirklicht werden, sondern allein durch Wirtschaftswachstum. Wobei jedes Land für die benötigten, milliardenschweren Investitionsmittel selber aufkommen muss. Selbstverständlich unter Respektierung aller existierenden internationalen Regeln und Verpflichtungen, die – schaut man nur auf die Freihandelsabkommen – den politischen Handlungsspielraum gerade der ärmeren Länder sehr einschränken. Regeln zur Bekämpfung von Steuerflucht und Korruption sind während der Verhandlungen am Veto mächtiger Industriestaaten gescheitert. Bei der wichtigen Frage des Umgangs mit den Schulden gab es sogar einen Rückschritt. Hieß es in früheren globalen Vereinbarungen noch, dass beide Seiten, die Schuldner wie die Gläubiger, gemeinsam Verantwortung tragen, sind es nun in erster Linie die Schuldner. Wie üppig muss das weltweite Büfett ausfallen, damit genug für alle Hungernden abfällt?
Rasch haben die netten jungen Leute von der Robin Hood-Armee alle Überreste abgeräumt. Inzwischen ist Ebbe und am Hafen von Karachi stinkt es zum sternenklaren Himmel.
Im Februar 2017 haben wir in Pakistan die Aktivisten der Robin Hood-Armee kennengelernt. Im Oktober 2017 sind wir erst nach Kenia, dann nach Sierra Leone gereist, im Januar 2018 durch Mittelamerika, von Mexiko bis nach Nicaragua. Dazwischen waren wir in Brüssel auf der AidEx, der größten Messe für...